Theater der Zeit

Stück

europa flieht nach europa

ein dramatisches gedicht in mehreren tableaus

von Miroslava Svolikova

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater Thikwa Berlin: Ungezähmtes Spiel (06/2018)

Assoziationen: Dramatik Deutsches Theater (Berlin) Burgtheater Wien

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szenen und zwischenszenen

europa flieht nach europa
1) die schwestern der zeit
gerechtigkeit für alle (karneval)
2) traum einer empfängnis
der unfall
im wald ist ein gott, der wächst nach
3) chor der wissbegierigen
die sonnengöttin

ein stück für mindestens vier, besser noch fünf darsteller oder aber so viele wie möglich: am besten gleich das ganze ensemble.

der chor der schwestern besteht aus zwei personen; die schwestern der zeit und die kleinen könige aus drei personen; der chor der putzkolonnen sowie der chor der wissbegierigen aus mindestens drei, die kinder aus mehreren personen.

europa
und
der stier
chor der schwe
stern
die schwestern der zeit
das leben
die kleinen könige
der gelehrte
zwei bauern
ein kind
ein conquistador
ein priester
ein pfarrer
chor der putzkolonnen
der regenbogen
der wissenschaftler
chor der wissbegierigen
die kinder
usw.

/ ... / markiert chorisch gesprochenes.

mehrfigurenpassagen werden ansonsten abwechselnd gesprochen.

europa flieht nach europa

europa
ich bin mit meinen schwestern im wasser gewesen, wir haben kränze in die luft geworfen und über unsere köpfe gesetzt. wir standen knöcheltief im offenen meer, das sich lange in die weite streckt, bevor es an tiefe gewinnt. von weitem hat eine stierherde sich uns genähert. die erste hat ihren kranz auf den stierkopf gehängt. keine reaktion. die zweite warf ihren kranz um ihn. nichts geschah. dann kam ich. ich trete an den stier heran und blicke ihm von der einen seite in das auge. ich kann einen menschen sehen darin. ich bleibe stehen im wasser, im meer, neben dem stier, die gedanken bilden sich in meinem hals zu kleinen kugeln, zu kleinen blasen heran und steigen hoch. ich kann spüren, ich spüre unter meinen füßen die wurzeln durchgehn bis zum boden, bis zum tiefsten boden der erde. ich halte ihm den kranz hin, er gräbt seinen kopf unter meinen körper und entreißt mich dem boden. ich halte mich fest, die anderen kreischen. er trägt mich davon: die wurzeln haben sich gelöst.
der chor der schwestern
/gib acht auf dich!/
und wenn er dich schon entführt und in ein fremdes land bringt
vergiss nicht, wo du herkommst und wer du bist
und dass wir deine schwestern sind
und die älteste zivilisation der welt
/außerdem!/
europa
er schwimmt und bringt mich auf die andere seite. sein körper ist warm, ich kann das salz des meeres sehen darauf. wir schwimmen eine lange zeit. um nicht zu sterben, kralle ich mich an ihn. um nicht im meer unterzugehen, halte ich mich an ihm fest. als wir das land erreichen, sind wir schon fast ein körper geworden. von meinen füßen hängen die reste nasser wurzeln. ich blicke zum land, dem wir uns nähern, und dem stier lange ins auge.
der chor der schwestern
gib acht auf dich, schwester
du weißt nicht, was er von dir will
er weiß nicht, woher du kommst
weißt du es noch?
europa und der stier umtanzen sich kriegerisch wie zwei sumoringer.
lichtwechsel.
europa

aber dann kam alles ganz anders.
der stier verfällt meinem blick und ich töte ihn mit einer spitze aus meinem haar. ich zupfe es mir vom kopf und steche es ihm mitten ins herz. sein herz wird hart und das blut versickert im körper. ich kämpfe mich frei.
im folgenden wälzt europa sich in der stierleiche, schneidet kleine filets aus der leiche heraus und wirft sie in eine panade, die den bühnenboden bedeckt, während hände und gesicht von blut beschmiert sind.
ich habe mich freigekämpft. das weiße kleid ist ins wasser gehangen, das meer ist emporgestiegen darauf, das meer hat sich in mein kleid gefressen, als der stier mich auf seinen schädel gehievt hat.
auf den knien habe ich neues land betreten. mit den handflächen habe ich neues land berührt. ich habe das blut in den sand gewischt, ich habe die reste des stierfilets in die böschung gerieben. ich werde ein land gründen, das nicht aufbaut auf dem recht des stärkeren, habe ich gesagt. ich werde einen kontinent erschaffen, der nicht diese werte vertritt. ich bin in den sand gefallen und habe geschrien: dieser kontinent wird nicht in blut getränkt! dieser ort wird nicht aufbauen auf blut!
nicht aller anfang ist blut und gewalt! nein!
dieser ort wird nicht aufbauen werden auf dem recht des stärkeren, auf dem prinzip, dass man sich nimmt, was man will. diese geschichte hier beginnt nicht mit einem schnitt durch die halsschlagader, und diese geschichte hier wird nicht mit einer atomaren auslöschung enden, das können wir uns gleich mal merken! dafür trage ich gleich mal sorge! dafür werde ich instantan mit meiner liebe sorgen!
ich werde einen kontinent erschaffen, wo mütter kränze flechten mit ihren kindern. wo sich erde und himmel umarmen. wo platz ist für jeden, um seine wurzeln in die erde, und seine arme in die luft zu strecken. ein kontinent der reinen luft, ein kontinent der freien und freundlichen menschen.
europa hackt dem stier den kopf ab und steckt ihn auf einen pfeiler.
der stierkopf schweigt mich an. der tote stier sagt nichts mehr. der tote stier hat nichts mehr zu sagen. nein.
ich erzähle euch noch mehr, ich erzähle euch noch was! hier beginnt ein neues kapitel, hier beginnt das kapitel hoffnung! hier beginnt die hoffnung, hier, wo ich stehe. sie beginnt hier mit jenen, die aus meinem schoß ins weiche gras kullern, ins satte leben rollen werden, aus meinem schoß mitten ins leben hinein. die kinder der zukunft fallen in diese erde. hier beginnt alles neu, wo ich ein freies land gründen werde, das meinen namen tragen soll. dieser kontinent, die geschichtsbücher sollen ihn nennen nach mir. ich muss hier nichts erobern, und ich muss hier nichts befruchten, nein! die kinder, die sein neues volk bilden werden, wachsen aus den blütenkelchen meiner liebe! die künftigen kinder dieser erde werden aus dem saum meines kleides fallen, hinein in die blütenkelche des schönen lebens, und sie werden die zukunft dieser erde und die reine hoffnung sein!
ihr kinder, die ihr das neue sein werdet, auf die ich meine hoffnung setze! ihr sollt fröhlich sein, im sommer und winter einen freundlichen kontinent bevölkern!
es soll kein töten geben, und keine unterschiede und keine armen und hungernden und keine schmerzen unter meinen kindern!
es wird keine ausbeutung geben und kein kapital. wir werden nicht knien vor dem goldenen kalb, wir, die zukünftigen.
es soll nur liebe und geborgenheit geben und den gedankenaustausch ausgereifter individuen, die sich in freiheit und liebe begegnen!
dieses ist neue erde! dieses ist neues land! dieses ist neuer beginn!
verpasst dem stierkopf einen tritt.
ist das nicht schön? ist das nicht wunderbar?
so wahr ich hier stehe!
geht ab.

die schwestern der zeit

chor der schwestern der zeit
wir sind die schwestern der zeit
wir sind da
/immer schon/
wir warten auf dich und sind
/noch vor dir und noch bevor du es weißt
/warten wir und sind wir bereit./
ich spinne den faden
und ich vermesse ihn
und hallo, ich schneide ihn ab.
/gemeinsam entkommt uns keiner/
/gemeinsam halten wir die fäden in der hand/
ich seh einen faden
dort, dort unten die
ich seh ihn sich langsam abspulen aus der
ich seh einige fäden heraushängen heute
da hängen schon einige fäden heraus
ich seh, dass jemand langsam seinen faden verliert so mancher von euch.
ein kind kommt und trägt ihn euch nach
/ein kind kommt und hält ihn hoch/
aber gesponnen hat es ihn nicht.
nein, gesponnen habe ihn ich!
und vermessen werde ich ihn!
und zerschneiden werde ihn ich!
/so teilen wir uns die fäden des lebens/
so teilen wir sie uns
wir teilen sie uns auf.
schnipp schnapp
muhaha
muhahahha
schnipp schnapp
haha!
ha!

lachen und schneiden.
jetzt pass doch auf
siehst du doch, dass ich hier stehe
siehst du doch, dass ich hier stehe
mein platz reicht bis da
ich hab doch schon mal gesagt, markieren wir das gut, markieren wir das
markieren wir, wessen platz wo ist
hat jemand einen stift
wir markieren das mit blut
mit blut?
ja
verdreht die augen.
wessen blut willst du nehmen
sind doch genug da
hebt den faden hoch.
sind genug da, such dir einen aus
gut, ich suche mir einen aus
wen nehmen wir denn
ich würde sagen, schauen wir mal
stimmt, schauen wir mal zu
schauen wir mal zu, was geschieht
sehen wir mal zu, was geschieht
was die anstellen
sehen wir zu, wie sich der faden entrollt
sehen wir zu, wie sich der faden entspinnt.
das leben
hallo, ich bin das leben.
es gab mich einmal und dann gabs mich noch einmal und dann habe ich mich gespalten und vervielfältigt und fortgepflanzt und ausgebreitet. das kann ich gut. ich bin in die wälder gegangen und in die wüsten und dann in die berge und dann in die steppen, und in die höhlen und in das gebirge und in die tunnelsysteme und die u-bahnschächte und in die komfortzonen und in die regenwälder hinein. ich lass mich nicht abschneiden und nicht abwürgen, also im einzelnen schon, aber nicht im großen. nicht im großen und ganzen, da bin ich nicht unterzukriegen. da mache ich immer weiter. im großen und ganzen lasse ich mich nicht unterkriegen. da könnt ihr schnippeln so viel ihr wollt.
die schwestern der zeit können während dieser szene auch schon die kleidung für die ballgäste der nächsten szene nähen.

gerechtigkeit für alle (karneval)

anm.: die haltung der spielebene ist ein fröhlicher ball, ist möglichst weit vom tatsächlich gesagten, von der textebene entfernt. die kleinen könige haben plastikschwerter und tragen mcdonald‘s-kronen.

die kleinen könige
ich habe recht.
wir haben recht.
/wir haben das recht./
wir haben recht, weil wir gewonnen haben.
wir haben recht, seht ihr das nicht.
wir haben das recht, seht ihr uns denn nicht.
ich bin der könig. alle anderen sind gestorben über meinem schwert.
ich bin der könig, alle anderen sind gestorben unter meinem schwert.
ich bin der könig, alle anderen sind gestorben durch mein schwert.
zeigen jeweils ihre kinderschwerter dabei hoch.
wir sind eine kleine runde an kleinen königen.
wir gehen immer im kreis.
wer als letzter noch steht, hat verloren.
du hast verloren.
alle haben verloren, alle haben ihr leben verloren.
die anderen haben alle verloren, die anderen haben alle ihr leben verloren.
gewonnen!
gewonnen!
europa
stakst herein. stakst schon über leichen und berge und über alles herein.

so, wo sind wir jetzt?
was ist denn das für ein sauhaufen hier? das ist ja, da kommt man ja gar nicht durch. das ist ja furchtbar hier. da kann ich leider gar nichts tun. da sind mir die hände gebunden, ich meine, die hände sind mir gebunden, ich habe sie mir umgebunden, damit ich sie nicht verliere, aber sie sind verbunden, ich meine, sie sind nicht mehr mit meinem körper verbunden, wo sind meine hände, ich meine, wo sind meine hände hin? ich möchte etwas verbessern, ich möchte das richtige tun, natürlich für mich, aber auch für die anderen, natürlich, simultan, subkutan, instantan, alles dran.
versucht, etwas wegzuräumen oder sich einen platz freizuräumen, lässt es dann bleiben und geht zum mikrofon oder zum stehpult mit mikrofon oder irgendwas.
ich weiß, es müsste anders sein – wenn mein blick durch den saal schweift - (sehn sie den schweif meines blickes, wie er vorbeizieht an ihnen?), dann denke ich mir, es müsste anders sein, mir kommt ein gedanke, unweigerlich, und dann nehme ich mein mikrofon oder ich stelle mich hin und ich denke mir -
singt leise.
gerechtigkeit.
das ist so ein schönes wort, oder?
summt.
gerechtigkeit. gerechtigkeit.
fangen wir einfach mal so an. gerechtigkeit, für wen? fangen wir einfach mal so an. gerechtigkeit für alle. gerechtigkeit für wen?
hält das mikrofon in den saal, spricht dann aber die antworten selbst.
gerechtigkeit für alle!
gerechtigkeit für wen?
gerechtigkeit für alle! für wen?
für alle!
inzwischen sieht man die kleinen könige im hintergrund im kreis gehen, vielleicht auch sich zwischendurch mit dem plastikschwert aufspießen.
wann?
bald.
also wirklich, bald.
halten wir das noch einmal fest. halten wir uns alle noch einmal fest.
ein paar zeitenwenden noch. bald ist es soweit!
für wen?
für alle!
also prinzipiell, für alle. also nicht, für alle, sofort, für alle. also schrittweise für alle. schritt-weise. ein schritt nach dem andern. ein bisschen kämpfen muss man schon, ein bisschen sterben. ein bisschen die jahre abwarten, die große zeit. ich kann auch nicht zaubern. vielleicht auch nicht für alle, nie. eines nur:
die unsichtbare hand wird es schon richten, oder nicht?
im chor mit den kleinen königen oder mit irgendwem oder wieder ins mikrofon und das letzte wort sollte das publikum sagen, sagt es natürlich nicht, sondern sie sagt es:

kommt zeit kommt –
rat.
kommt zeit kommt –
tat.
so geht das nicht.
setzt sich eine janusmaske auf.
ich habe zwei gesichter heute abend, vorne ist die idee drauf, hinten die realität. die realität sticht mir dann von hinten immer in den rücken hinein.
zeigt das vor, fällt hin und tut so, als würde sie sterben.
vorne will man almosen verteilen, aber hinten steht ein henker und lacht. hahaha. na egal. willkommen beim ball! willkommen beim ball der wirklichkeit!
na wie auch immer!
hier sind alle gleich!
winkt.
da, der priester! ein conquistador! ein paar mörder! kinder und könige! die schwestern der zeit! ein stierkopf! was seh ich noch: das volk! hui, da ist ganz schön was los!
oj! die toten und schwachen, die zerstörten und übersehenen (die begrabenen und hungernden) sind auch gekommen, hui ui ui!
tut so, als ob sie sich bückt und das ohr hinhält.
was sagen sie denn? es ist so leise, ich kann es fast nicht hören.
„wir sind“
was?
„wir sind auch da“ oha.
„wir sind auch da und wir werden euch vernichten!“
ja, die kommen auch immer wieder mal vorbei!
da kann man nichts machen. sagte ich doch schon.
wo sind wir stehengeblieben?
ja. ich weiß wieder!
milch und honig! milch und kuchen! kuchen mit schlag! einen schlag ins gesicht! die unsichtbare hand!
zwei bauern (dargestellt von zwei beamten)
wir sind arm und ihr seid reich.
das macht nichts, das ist nur der karneval.
das ist nur der karneval des lebens.
das ist nicht echt.
das ist einmal so und einmal so. letztlich ist es egal.
es wird schon seinen sinn haben.
es wird schon seine richtigkeit haben, wenn das so ist.
ich schlafe ein in der nacht auf meiner plantage, und in der früh wache ich vielleicht nicht mehr auf, wenn gott es so will.
in der früh wache ich vielleicht nicht mehr auf, weil meine hütte schon abgebrannt ist, wenn der markt es so will.
wenn es sein soll. inschallah.
soll wohl so sein. inschallah.
das juckt aber, dieses bauernkostüm.
das sind die milben, die waren dabei, die waren schon drin.
das juckt und kratzt und stinkt. wo hast du das her? das liegt so rum. das liegt massenweise so rum, auf den feldern. das ist ein juckendes und kratzendes und stinkendes leben, das wir uns da übergeworfen haben.
kratzt sich.

nächstes jahr nicht mehr.
nein, nächstes jahr nicht mehr, da zieh ich mir ein anderes leben über.
so gott will. als was gehst du?
kommt drauf an. als was gehst du?
inschallah, nächstes jahr gehe ich als prostituierte, wenn der markt es so will.
inschallah, dann sind wir schon zwei, das wird ein spaß.
der gelehrte
das individuum, das individuum, das individuum muss selber, das individuum muss selber, eigenverantwortung!
das individuum muss selber, selber eigenverantwortung!
europa
ich verstehe. willkommen beim karneval der wirklichkeit!
der gelehrte
das individuum, selber, muss selber, muss, selber muss, muss selber!
europa
das individuum!
der gelehrte
halten wir fest: das individuum, halten wir fest, das individuum! halten wir fest, – halten wir das individuum fest!
europa
heut ist karneval, heut ist alles erlaubt!
der gelehrte
das in-
das in-
das indi-
pause.
das muss auch erst mal rauskommen. das individuum!
europa
ich denke, mein stichwort!
am anfang waren es nur die reichen, die zu mir gekommen sind, mit gepuderten perücken und blicken voll sehnsucht, sie selber zu sein. nicht vertreter eines standes. vertreter? vertreter? besser als fußabtreter! aber wie dem auch sei. das geht nicht, ihr armen perückenmenschen, hab ich gesagt. dann hab ich sie gleich wieder zurückschicken müssen, ins große und ganze. beim individuum sind wir noch gar nicht.
an erster stelle steht zuallererst mal die gesellschaft, als ganzes. klar, jeder darf ein problem haben. jeder kommt dran. sucht euch eins aus. ihr armen nachfahren, gefangen im eigenen blut, gekocht im eigenen saft, hab ich gesagt. ihr kommt mit aufgeschnittenen adern, um mir zu zeigen, euer blut ist auch wirklich blau. um mir zu zeigen: ich bin teil dieses begrenzten wir, dieses begrenzten menschen, zu dem du und du nicht gehörst.
ich bin teil eines kleinen wir, und dieses wir ist so klein, da haben nur drei buchstaben drin platz, mehr nicht.
dann kommen schon die nächsten, das nächste wir. jeder kommt und will auch da sein. jedes jahr kommen neue dazu. oder war es jedes jahrhundert. wir wollen auch, wir sind ja auch da.
es ist unschwer zu erkennen, wer wohin gehört. es ist unschwer zu erkennen, wen man wo hinräumen muss.
ihr habt ja gewusst, eure kinder bekommen dasselbe dicke blaue blut, das nicht mit wasser gemischt werden darf. mit nichts verdünntem. mit nichts, was ein schwacher, fauler saft ist. welches ihr, welches wir, welches jahrhundert?
es tut nichts zur sache, denn heute ist karneval, heut tropft das blut von der decke.
heut ist karneval, heut ist alles erlaubt.
heißa, hüjott, jawohl!
europa bewirft die ballgäste mit kuchen.
gerechtigkeit für alle!
die ballgäste feuern mit brot zurück. brot fliegt auf die bühne. europa duckt sich.
der gelehrte
vorsicht, vorsicht! die kommen aber schroff daher mit ihrer gerechtigkeit.
europa

huch!
duckt sich.
ich hab mein bestes kleid an!
das brot macht immerhin keine flecken.
wirft dem gelehrten kuchenstücke zu.
der gelehrte

dieser karneval wird geschichte bleiben, wird geschichte schreiben.
trocken heißa, hüjott, jawohl.
europa
und wie herrlich wir uns drehn! mein kleid wird immer größer dabei!
dreht sich.
auch das wir wird immer größer werden mit der zeit. da kommen immer mehr, da kommen immer mehr daher. irgendwann sind alle da, irgendwann breite ich mein kleid aus über alle. aber alle, wirklich alle? einige fallen doch immer auf die falsche seite des saumes. warum?
weil es zu viele kleider gibt, und zu viel platz dazwischen? weil es viel zu viel saum gibt, und jemand all den saum bezahlen muss? vielleicht.
vielleicht weil manche schon in zu viel saum ersticken, während andere ihren saum nur in die trockene erde wünschen, mit immer trockeneren händen, so lang, bis die hände selbst in der erde zerfallen, und man beides nicht mehr unterscheiden kann.
aber wer weiß.
einer hält die hand hin, der andere schneidet die finger ab und macht sich amulette daraus. einer nimmt dem anderen die finger weg und macht gold daraus, und wer keine finger mehr hat, muss mithalten im wettbewerb.
der gelehrte
eigenverantwortung!
zwei bauern
tatsächlich.
betrachtet seine hände.
ich habe meine finger verloren, beim umgraben der erde.
ich ja auch.
betrachet ebenfalls seine hände.
ich wollte nur die erde umgraben, wie generationen vor mir es getan haben. da habe ich sie verloren, in der erde drin. ein zweites paar habe ich nicht bekommen. ich habe auch kein zweites paar mehr bekommen.
gibt nur ein leben, hab ich gehört. sie sind zerbröselt und verlorengegangen.
die erde ist nicht mehr unser freund.
das land auch nicht.
das ganze land hat uns verraten.
das ganze.
inschallah.
ich bin das volk!
das volk!
wir sind das volk.
das volk!
volk!
ich auch!
ich auch.
inschallah!
allah.
was?
ja!
ja.
ja?
europa
aber ja, aber nein, alles gut. alles renkt sich ein, wenn man auf der richtigen seite steht.
keine panik auf der titanik, da ist genug platz unter meinem rock. jeder soll eine zitze finden. man muss nur wollen. wer will, wer mag. man muss nur wirklich wirklich wollen.
es gibt noch kuchen! will jemand?
setzt sich hin und isst im folgenden kuchen.
es gibt kein später mehr. da ist kein platz im himmel, der hat schon zu. der himmel ist jetzt hier. der himmel ist das hier, jetzt. schön, oder?
was früher vorbereitung war auf danach, ist jetzt einfach nur jetzt. es ist einfach nur jetzt. mehr kann man eigenlich nicht sagen, außer dass jetzt jetzt ist.
ist das lecker.
jetzt ist alles jetzt. jetzt gibt es kein danach. ein vorher gibt es auch nicht.
heut muss man schnell sein!
ein kind geht vorbei und kommt zu europa. sie hebt es hoch.
auch du bist mein kind!
das kind
lass mich los. ich gehe als hexe.
der gelehrte
ich gehe als conquistador!
europa
gut, ja, gut.
löst sich vom kuchen los und geht wieder zum pult.
also gut, nochmal. willkommen. willkommen beim ball der wirklichkeit.
lasst uns tanzen! lasst uns viele runden drehen, lasst uns zusammen irgendetwas sein. wir sind ein großes wir, wären, also waren, also sind. wir sind ein tempel, ein stempel, wir sind ein stempel auf der ganzen erde, ein riesengroßer stempel auf der ganzen welt, auf dem steht:
wird unterbrochen
alle

/landnahme!/
europa bekommt eine augenbinde und sie spielen blinde kuh.
priester

wir müssen den frieden bringen, und die liebe der welt. wir müssen das salz der erde sein, und es den blinden in die augen reiben. wir müssen das licht der erde sein, und mit dem tageslicht die inneren organe ausleuchten, an der frischen luft. dann wird der reichtum kommen, die schätze der erde. eher geht ein vollbeladenes kamel durchs nadelöhr, als ein hungerndes kind, sage ich immer.
alle
/landnahme!/
europa
der liebe sind keine grenzen gesetzt.
alle
/landnahme!/
/landnahme!/
ein kind, als hexe verkleidet
ich bin die verbrannte hexe. ich bin die verbrannte hexe, die jetzt zurückgekommen ist. ich bin gekommen, um euch mein verbranntes gesicht zu zeigen, mein verbranntes herz, das ausschlägt, unter meiner verbrannten brust. ich bin hier, damit ihr in meine verbrannten augen blicken könnt, in meine aufgespießten hände, in mein staubiges haar, in meinen durchlöcherten und zerrissenen körper. blickt hinein, blickt nur tief genug hinein. da, wo euer erbe ist, da seid ihr selbst. könnt ihr euch selbst erkennen? könnt ihr euch selbst sehen, in mir?
dafür bin ich noch gut. aber bin ich noch da überhaupt? ich bin doch nicht mehr da, ich wurde doch schon als hexe verbrannt, anno dazumal, wisst ihr nicht mehr?
alle
/landnahme!/
/landnahme!/
/landnahme!/
conquistador (ist der gelehrte)
ich mach jetzt den conquistador?
als würde er eine arie singen.
ich möchte die liebe verbreiten mit meinem schwert. ich ritze sie in die erde. ich beträufle die erde mit meinem liebenden blut. ich gieße meinen friedbringenden samen hinaus in die welt. so viel liebe wie die erde gerade noch ertragen kann oder auch nicht mehr. die erde wird nass sein von meinem samen, die erde wird fruchtbar sein von meinem furchtbaren blut.
was hör ich da? die kinder weinen? setzt sie in die plantagen, wo man das gejammer nicht hört. sperrt die mütter in einen käfig. solange mein schwert noch scharf ist, will ich neue erde erobern. solange mein samen noch frisch ist, setze ich neue abbilder von mir in die welt. ich kann keine gesichter sehen, außer mein eigenes. ich kann kein blut riechen, außer das meine.
mmh, das riecht gut! das riecht so gut, wenn es das eigene ist!
europa
schluss jetzt, ich kann nicht mehr.
ich kann nicht mehr, ich finde euch nicht. wer hat gewonnen, wer hat verloren? wie heißt das spiel?
alle
/gerechtigkeit für alle!/
europa
wie, was? nein!
ich habe platz für jeden unter meinem rock, für jeden ist eine zitze da. ich bin offen für alles und alle! kommt her zu mir!
wer will eine zitze?
zu viel, es ist zu viel!
wie heißt das spiel?
ach ja, in wahrheit ist es so. jeder muss selber schauen. jeder muss selber schauen, wo er sie es bleibt. wer sich nicht bemüht, bekommt auch keine milch. ich habe nichts zu verschenken. ich kann nicht alle adoptieren.
europa hebt das kleid hoch, darunter ist ihr rumpf übersäht mit zitzen. zeigt dem publikum ihre zitzen.

putt putt putt!
ich kann nicht alle an mich nehmen.
es haben nicht alle platz unter meinem rock. wer seinen eigenen rock verbrennt, kann nicht zum nächsten laufen, wo es noch warm ist, und wo noch stoff dran hängt. das funktioniert so nicht. ich habe keine milch zu verschenken, ich habe keine milch mehr, ich habe selber gar keine milch!
putt putt putt!
die milch ist mir ausgegangen, da ist keine milch mehr in diesen brüsten drin, da ist nichts drin, in den brüsten ist nichts mehr drin, in den brüsten ist nur silikon drin! sieht das denn keiner?
puttputtputtputtputt
puttputtputtputt
puttputtputt
puttputt
lässt das kleid wieder fallen.
raus! raus! raus!
aufhören!
hilfe! vergewaltigung!
hilfe!
hinfort!
wälzt sich am boden und tritt um sich.
steht wieder auf.

ich hab ja nur die ideen verteilt. ich hab ja nur die utopien verteilt, es soll jeder eine haben. ich bin ja nur dagestanden und hab mir gedacht, das wär doch eine gute idee, das wär doch wirklich mal eine gute idee. zur abwechslung mal, so eine kleine utopie, für jeden. also mein gott, ja, fast, fast für jeden, ja, für die paar, die da sind, meinetwegen. vielen dank, dass sie heute gekommen sind!
geht ab und kommt dann wieder zurück.
eins noch: zumindest habe ich ein ideal. ich hab zumindest eins! das ist auch schon was, das ist wirklich schon mehr als nichts. muss man sich auch leisten können, aber es ist wirklich mehr als nichts. das lass ich mir nicht schlecht reden.
geht ab.
die kleinen könige

alles was recht ist, ist recht.
wahrheit ist alles, was war.
wahr ist, was überlebt hat und da ist und schreit.
das wahre kommt auf die welt.
das wahre kommt auf die welt und zieht sein schwert.
irgendjemand hält die hand hin und irgendjemand hakt sie ab.
irgendjemand hat recht und irgendjemand ist tot.
einer ersticht zuerst die anderen mit seinem plastikschwert und dann sich selbst.
zwei bauern

ich gehe nach hause.
wo ist das? ich komme mit.
ich weiß nicht.
ich auch nicht.
auf dem feld vielleicht?
ja, wahrscheinlich.
gut gehen wir!
gehen wir.
gut, gehn wir aufs feld!
wir gehn jetzt, wir gehn jetzt.
wir gehn jetzt, wir gehn jetzt, in die welt.
auf wiedersehen!
sie winken.

traum einer empfängnis

der pfarrer
und der herr sprach
gebenedeit sei die frucht deines leibes
und aus deinem leib wird es kommen
mit deinem leib wird es geschehen
gib dich deinem manne hin
fürchte dich nicht, denn sein ist der leib
und unser aller ist die leibesfrucht
schäle die frucht aus dem leib
denn der herr sprach
gib dich hin deinem herrn
der herr sprach
ich habe dich gebrochen aus der rippe
damit dein leib für neue leiber dient
hieß es
ich brach aus der rippe dich los
und aus der rippe wuchs dir eine weitere rippe zu und schließlich ein ganzer leib
und schon nisten die nächsten generationen darin gesegnet sei dein leib
hieß es
der schon der leib der nächsten ist
gesegnet sei dein leib
sprach der herr
der schon leib für den nächsten ist
und aus dem schon kommen die nächsten
die schon sprechen das nächste
das dir noch das fernste ist
weil du nicht bei den nächsten
weil du nicht bei den mir nächsten bist
weil du leib bist, weib!
fürchte dich nicht
fürchte dich nicht versperre dich nicht! verschließe dich nicht!
ja, sie lachen
aber ich sorge mich
ich sorge mich, um das kontinuum
das kontinentum
das kontingent
das kontinentkontingent
klingelingeling
klingelingeling
ich habe einen draht zu gott
er spricht zu mir
und er sagt
aus dem mann kommt die rippe, aus der rippe das kind raus
das ist einfach so
das war einfach immer schon so
die gemeinschaft fußt in der familie
darf man heute fast nicht mehr sagen.
ich sorge mich
nicht nur um die armen und schwachen
sondern auch
um uns.
jetzt fragen sie sich
warum geh ich nicht selber los
und sähe und ernte
und pflanze viele kinder in die gesellschaft
aber ich sage
ich bin der aufpasser
ich passe nur auf
irgendwann sitzt keiner mehr da
so, wie sie da sitzen
irgendwann sitzt da keiner mehr.
aber ich habe die lösung
ich schlage vor, sie gehen nach hause
ich schlage vor, sie gehen einfach nach hause
sobald das stück vorbei ist
denken sie an etwas schönes
legen sie eine musik ein
also ich meine jetzt nur die männer
denken sie an etwas schönes
nehmen sie ihre rippe zur seite
ich meine, ihre frau
also sie wissen schon
ich meine, nehmen sie sich die rippe, ich meine, die frau, aber nur ihre frau!
das ist wichtig, nur ihre, jeder hat nur eine!
und dann, vermehren sie sich!
das wäre das beste
das wäre das sinnvollste
das geht schon
ja, das geht
ja, sie lachen!
sie lachen, aber ich meine das ernst!
haha, manchmal träume ich
dass ich einen faden finde vor der kirche
dass ich allein vor der kirche stehe
und da steht ein riesiges knäuel
ein großes rotes knäuel, das gott da hingestellt hat
ich rolle es aus
das dauert jahre
ich schneid es in ganz kleine stücke
das dauert jahrzehnte
und verteil es unter die leute
das dauert jahrhunderte
ich leg sie unter die oblaten
und mische sie in den wein.
das mach ich jahrtausende lang.
die leute merken das gar nicht die leute merken das gar nicht, dass sie eine gemeinschaft sind
dass sie etwas zusammenhält
dass sie etwas teilen
dass sie etwas vereint
auch sprichwörtlich.
es ist so, dass wir etwas teilen, nicht nur sprichwörtlich,
es ist so, dass man teilen muss.
teilen und verteilen
das ist mein credo
dafür bin ich da.
ja
aber vielleicht bin ich hier falsch
ich bin da vielleicht falsch
ich bin im falschen haus
wo bin ich hier.
wie dem auch sei, es ist nicht schlecht, es hin und wieder zu hören:
es gibt eine ordnung, die vorgesehen ist, wir sind teil einer gemeinschaft
nichts ist umsonst, jemand liebt dich.
tun wir nicht so, als hätte keiner wurzeln in der erde
als wäre alles kontingent, hier am kontinent
aber nein.
im traum ist an jedem sonntag meine kirche voll
im traum kommen die leute zu meiner messe
und ich verteile den faden
und es gibt eine gemeinschaft.
in der realität nicht mehr so
leider, aber bitte
machen sie, was sie wollen.
werfen wir alles um
diese reihenfolge kommt nicht von ungefähr
und wer stört sie
wer wagt es, die natur infrage zu stellen.
bumm. explosion.

der unfall

europa
das war wie ein urknall! haben sie das gehört? ich liege am boden, ich versuch die teile aufzusammeln, die herumliegen von uns, von mir, vom wir, überall, am boden. jetzt geb ich auf. wir haben uns nicht schnell genug umgesehen, aber was macht das schon, was macht das schon für einen unterschied, ob man es kommen sieht oder nicht, wenn es schon da ist.
die wut, die sich auf dem asphalt abgelegt hat, in konzentrischen kreisen, sie hat alles übertönt, sie war so laut, dass die welt danach keinen laut mehr übrig hatte. wir liegen wie fischteile auf dem asphalt. irgendjemand zuckt und schnappt nach luft. niemand hat es kommen sehn. niemand hat es erahnen mögen. irgendjemand dreht sich zur seite und lässt den arm fallen, und der arm rollt ihm aus dem gelenk und läuft über den boden. aus meinem gesicht kommt kein laut mehr heraus, aus meinem gesicht steigt nur eine luftblase hoch, die luft nimmt den falschen weg, und die zeit zwischen der explosion und dem jetzt läuft vor und zurück, die zeit ist gefangen darin und läuft hin und her, sie hat sich ihrer zeithaftigkeit entledigt und läuft im hamsterrad meiner luftblase die wände entlang.
dazwischen kommen schon die putzkolonnen auf die bühne und kehren auf (ein bisschen wie die sieben zwerge).
ich nehme ein gesicht in die hand: es ist nicht meines. ich berühre mit dem finger einen fuß, er gehört niemandem. die hände und füße, die herumliegen um mich, gehören niemandem mehr. die bombensplitter, die herumliegen um uns, keiner will sie zurück. die wut, die überall auf dem boden liegt, niemand kommt sie suchen. warum sucht ihr eure wut nicht mehr, warum lasst ihr sie los, warum schickt ihr sie aus und kommt nicht mehr zurück, um sie zu holen? ein auge liegt da, das geradeaus starrt. ein finger liegt da, der zum horizont zeigt, aber der horizont hält sich in gemütlichem abstand zu uns. keiner reicht uns die hand, keiner streckt seine hände in dieses gewimmel aus, aus angst, selbst seine hände zu verlieren darin. einige haarbüschel liegen da, und lachen aus blut. darin spiegelt sich der himmel, und vorbeigehende schritte. plötzlich streift eine hand über meine schultern und bleibt stehen auf meinem hals. atme ich noch?
steht auf.
ja, ich atme noch. kein problem, ich atme. danke, vielen dank. ja, verdammt nochmal, ich atme doch. das muss reichen, verdammt nochmal. reicht das nicht? irgendwann reicht es mir!
chor der putzkolonnen
die putzkolonnen kommen und räumen den unfallort:

/wir sind die fröhlichen putzkolonnen/
und wo wir fröhlich putzen kommen
wird alles sauber
oder sauber gemacht.
/wir sind die krieger der bürokratie-/
obacht
wir waten durch pfützen aus blut bis zum knie.
kopf wird an kopf gelegt und
hand an hand schön nebeneinander und
fuß an fuß
/und links die weiße farbe vom asphalt und/
rechts der schwarze ruß
und oben die nicht mehr identifizierbaren teile
und unten aus den taschen das kleine
und schnell noch die blutlachen aufgewischt
/fahren wir den weg entlang/
die flugbahn ist aufgefrischt.
kopf wird an kopf gelegt und
hand an hand schön nebeneinander und
fuß an fuß
und links die weiße farbe vom asphalt
/und rechts der schwarze ruß./
europa
ein kleiner kollateralschaden, nichts weiter. klar, nichts weiter. weiter gehts. es geht immer weiter, es muss immer weitergehn.
in der yogaklasse
europa

ich atme noch immer. ich bin fit. ich gehe in meine yogaklasse. wir stehen im kreis und summen uns zu. wir verbinden uns mit dem körper, der schon mit dem kosmos verbunden ist, der mit seinem faden schon am kosmos hängt. in der yogaklasse falte ich meinen faden übereinander und verschränke die hände. ich bin in meinem körper, und alles wird gut. mit diesen bewegungen kann man alles wieder gut machen. wir atmen uns die energie zu, wir atmen uns die luft weg. wir sind fit. wir müssen uns verbinden.
atmen.
nicht das zerstören lassen, was uns ausmacht, die hoffnung, die zuversicht, die einsicht. nicht die hoffnung hergeben, nicht die hoffnung aufs tablett legen, nicht das tablett ablegen, nicht das aufgeben, was das wichtigste ist. die visionen darf man nicht hergeben, die muss man festhalten, die sind so fragil, es reicht, wenn man einmal niest -
hatschi!
vom ganzen atmen tut mir die nase weh. die nase tut weh und der hals.
ich habe eine erkältung. ich bleibe einige tage alleine, abseits. einmal meldet sich russland, einmal engelland. einmal die mit der roten fahne. während des telefonierens kritzle ich die jeweilige flagge auf einen zettel und sage ja. ich sage ja, ja! hinter mir hängt ein bild, jemand starrt vom bild herunter, herrje, das ist eine demokratie! das habe ich vergessen. der kopf dröhnt. ja, ja! natürlich! die flaggen beginnen sich zu überlagern. die farben wiederholen sich, die sterne, auf meinem zettel. ich nehme einen größeren zettel, der staat am anderen ende der leitung hat schon aufgelegt. ich habe doch zugesagt! mein fieber steigt, die fahnen beginnen sich aufzulösen, die staaten lösen sich auf, die farben bekommen kleine hände und tanzen. wir sind frei, sagen sie, wir sind endlich frei, gib mir deine hand. und sie tanzen im kreis, und ich male einen regenbogen. es ist alles so schön.
im fieberwahn.
der regenbogen

ihr müsst euch nur die hände reichen, alle, dann bildet ihr einen weg der hoffnung, von einem ende der welt zum nächsten, von einem goldtopf zum nächsten goldtopf. dann bildet ihr eine brücke von kontinent zu kontinent, und es herrscht der freie waren- und menschenverkehr. der regenbogen kennt keine grenzen und keine unterschiede. unter dem regenbogen haben alle platz. über die regenbogenbrücke bewegen sich alle klatschend und singend, wir winken, und es ist alles gut. wir sind so fröhlich gestimmt! kommt alle her! kommt doch alle her, hier ist so viel platz, hier ist es so schön! hier ist viel platz und es ist so schön und viele goldtöpfe sind auch da! man muss nur reingreifen und schon wird alles gut! die goldtöpfe sind immer voll, meine goldtöpfe sind immer voll, keine sorge. huiiii! huiiii! schaut meine farben! schaut, wie ich glitzere! rot und blau und gelb und pink und orange! alle farben des regenbogens! alles da! huiiiii! huiiii!
plötzlich mit anderer stimme.
eines muss aber auch klar sein: mehr als sechs farben gehen sich nicht aus, von gelb bis blau, weiter geh ich nicht! wenn man mich zu fest zusammendrückt, wenn man mich zu fest zusammendrückt, dann werd ich braun, dann vermischen sich die farben, und ich ende in einer braunen lache, und das ist nicht schön. das will doch keiner. wenn ich erst braun und blutig bin, dann seht ihr erst, wohin das führt! von gelb bis blau, weiter geh ich nicht! hört auf, mich zuzudrücken und mich abzuschnüren, ich kann keine luft mehr bekommen, ich laufe schon blau an, ich lös mich schon auf im himmel, wollt ihr das, dass ich verschwinde, weil man mir keine luft zum atmen gelassen hat? alle krallen sich fest an mir, jeder möchte ein stück vom guten glück, aber ich mach da nicht mit! ich mach da nicht länger mit!
europa
der regenbogen fällt auf den regenboden und verschwindet.
sie niest.

im wald ist ein gott, der wächst nach

die abgehackten köpfe können faschingsgesichter von politikern sein.
die kinder

im wald ist ein gott
im wald ist ein gott, dem man den kopf abhacken kann
im wald ist ein kopf, den man abhackt vom gott, und der wächst
er wächst immer neu, es kommt ein immer neuer kopf noch nach
er wächst immer neu, und er wächst in immer neuen farben nach.
das wächst wie ein wald
das wächst immer neu
das wächst wie tausend köpfe nach.
einer geht vor, wird von den anderen vorgeschubst.
diesmal finden wir ihn
diesmal ist es der echte
diesmal ist es der richtige
diesmal halten wir ihm den mund auf, bis er etwas sagt.
einer schlägt ihm auf den kopf
einer zieht es ihm aus dem mund
und einer legt es ihm hinein.
hihihi
hihihi
haha
sag schon.
wir kitzeln dich zu tode.
europa
im wald stehn die kinder
und klauben sich
und klauben sich
eine wahrheit zusammen.
die kinder
da vorne ist das immer neue, das immer andere immer wieder gehen wir in den wald, mit scheren und zangen und sägen!
wir suchen den letzten kopf.
hacken.
wann wächst endlich der richtige kopf nach?
wann wächst endlich derjenige, der alles besiegelt, wir sind schon so müde vom hacken.
die kinder (rennen im kreis)
erkenntnis braucht zeit.
keine zeit!
keine zeit!
/wir haben keine zeit/
hast du eine zeit?
nein, ich habe keine zeit.
hast du eine zeit?
nein, ich habe auch keine zeit.
ich habe auch keine zeit.
/niemand hat eine zeit!/
man kann nicht die zeit haben!
nein, weil die zeit uns hat!
/die zeit hat uns!/
die zeit hat uns ausgespuckt die zeit hat uns ausgespuckt, und jetzt zappeln wir
die zeit hat uns ausgespuckt, und jetzt zappeln und zucken wir
/wir zucken und zappeln und zetern/
/wir suchen und sabbern und seepferd/
wir sehnen und singen.
wir jauchzen und glucksen und springen.
ich sehne mich.
ich dehne mich.
ich hüpf und übergebe mich.
europa
was ist mein wesen?
was ist mein wesen, wenn alle verwesen.
was wird mein wesen gewesen sein?
welcher kopf ist der meine?
könnt ihr es mir sagen?
wieviele tode werden noch in köpfen über böden rollen? bevor ich weiß, wer ich bin oder sein könnte.
bevor es heißt, dass ich bin oder sein könnte.
die kinder

wir suchen den letzten kopf, der die letzte wahrheit spricht.
europa
das bleibt immer bestehen. das hat gar kein ende. da kommt immer etwas neues, da kommt immer etwas neues nach.
da wächst eine immer neue wahrheit nach.
da ist bis jetzt noch immer etwas nachgekommen,
da ist bis jetzt noch immer etwas rausgekommen,
noch immer etwas neues gekommen. da wird noch vieles kommen.
die kinder
es geht um einen kopf.
um welchen kopf geht es hier?
um wessen kopf geht es?
nach welchem kopf richten wir uns aus?
europa

das ist auch die hoffnung, die niemals ausstirbt, die nicht aussterben will. das ist der motor der welt.
und wenn ihr tausend köpfe abhackt, es wächst immer einer nach. warum? weil es tausend köpfe gibt. weil ein chor von tausend wissenden köpfen da spricht, weil da tausend wahrheiten dranhängen. weil das ein chor ist, der ohne pause und ohne erschöpfung spricht. hört ihr nicht, was er sagt:

chor der wissbegierigen

der wissenschaftler
die informationen sind da drinnen, in dieser schnur, in dieser kabelschnur, mit den kleinen schnüren drinnen, und in dieser helixschnur und in dieser nabelschnur, und in jeder schnur, die information tropft von einem zum anderen unterm meer dahin und über die telefonleitungen und in den körpern und im gehirn und überall, wo man hinschaut oder nicht hinschaut, tropft die information.
chor der wissbegierigen

wir sind der chor der wissbegierigen.
/wir wollen wissen, was drinnen ist im menschen/
und was man rausnehmen kann.
/wir wollen wissen, was alles hineingeht/
und welche formen er annehmen kann
der mensch.
das interessiert uns.
das leben
was passiert hier?
der wissenschaftler
also hier diese helix hier, das ist wie ein kleiner verzwirbelter faden, die dreht man hier auf, man dreht die einfach in die entgegengesetzte richtung, also in die richtung, in die sie sich selber nicht drehen will, in die sie sich selber nicht drehen würde. dann knackt sie auf, und dann tut man rein was man haben will, wie man den menschen haben will, je nachdem, was er tun soll, und je nachdem, was man sich leisten kann.
chor der wissbegierigen
wie kommt das alles da rein?
wie hält das alles zusammen?
warum fällt es nicht auseinander?
/wie macht man das bloß?/
warum hat es so lange gedauert?
warum hat es so lange gedauert, das nachzumachen?
/wie macht man das auf?/
wie kommt man da rein?
wo ist die tür?
wie knackt man die helix?
das bewegt sich so viel.
/wie schlägt man das tot/
wie stellt man das ruhig
das leben.
das leben
was habt ihr mit mir vor.
chor der wissbegierigen
sh sh sh.
halten es fest.
der wissenschaftler

schön ruhig bleiben. das wird jetzt vernäht.
das leben
ich bin noch so jung. ich bin zumindest noch nicht so alt. ich bin zumindest noch nicht so lang da. ich hab zumindest gerade eben noch meinen ersten atemzug getan, und beim ausatmen hab ich schon die halbe welt zerstört, aber es war nicht böse gemeint. das passiert halt alles so. das passiert alles von selbst. ich habe zehn finger und jeder macht etwas anderes. ich bin mir in mir selbst nicht schlüssig. ich ziehe nicht an einem strang. nicht mit mir selbst.
der wissenschaftler
es mag sein, dass es früher mehr auswahl gegeben hat, verschiedene kopfteile, verschiedene geschlechtsteile und verschiedene körper, aber diese atavismen brauchen wir nicht. reicht nicht eine art, für die welt? ist das nicht viel friedlicher? und weil ich es bin, der die helixe knackt, reicht es nicht, wenn alle so sind wie ich?
das leben

ich bin vieles, nicht nur eines. ich bin unberechenbar. ihr könnt mich nicht knacken. ich bin zu viel für euch.
der wissenschaftler
entspannen!
das leben
ich bin aber mehr, ich bin alles und alle!
chor der wissbegierigen
du musst dich anpassen.
der wissenschaftler
wir passen dich an. es ist zum besten der welt.
das leben
niemals!

die sonnengöttin

europa
europa, das ist die frau mit der weiten sicht. ich kann gerade keinen meter sehen, vor meinem eigenen auge. ich sehe den meter nicht. alles ist dunkel geworden, schwarz wie die nacht. ich stoße an mit den spitzen meiner finger, an der dunkelheit. man müsste es mit dem inneren auge versuchen, vielleicht sieht man da mehr. vielleicht kann ich mehr sehen, wenn ich einmal reinschaue in mich. wie war das mit dem einschlafen: ich darf nicht einschlafen. ich darf nicht einschlafen.
nicht einschlafen.
sie nickt kurz fast ein.
nicht schlafen.
ich bin hier allein im dunkeln. ich werde in frage gestellt, immer und immer wieder. ich werde erschlagen von allen seiten. glaubt noch jemand an mich? glaubt keiner mehr an mich? ich bin doch hier, ich habe mich nicht verändert, oder doch? ich darf nur nicht einschlafen, ich darf nur nicht einschlafen vorzeitig. wenn ich einschlafe, kommt ein retter, vielleicht, und küsst mich wach. kommt der tote stier, vielleicht, und küsst mich tot.
er ist tot, und ich lebe. kann es sein, dass ich nur lebendig bin, solange ich wachbleiben kann, solange ich nicht einschlafe?
europa nickt ein, als sie aufwacht, stehen kinder um sie herum.
europa

wer seid ihr?
die kinder
wir sind die kinder.
europa

welche kinder seid ihr?
die kinder

wir sind die kinder des lebens, das nicht unterzukriegen ist. wir sind das leben selbst, das gewesen ist und sein wird.
europa
ich muss eingenickt sein, ich habe euch gar nicht gesehen.
die kinder
wer bist du?
europa
ich bin die, die den stier erschlagen hat. ich bin die frau mit der weiten sicht, ich bin europa.
die kinder
und was kannst du sehen, in der weite?
europa
blicke ich zurück, erscheint eine reihe von bildern. blicke ich nach vorn, dann sehe ich eine tiefe nacht, das muss die zukunft sein.
die kinder
vorne stehn wir und winken.
europa
ich sehe euch noch nicht. ich kann euch nicht sehen.
ich kann keinen meter vor mein eigenes auge sehen.
im folgenden wird europa von den kindern umkreist.
europa

wenn keiner an mich glaubt, werde ich verschwinden.
ich bin so müde.
ich kenne meinen ursprung nicht und nicht mein ende.
ich bin von irgendwoher und werde wieder verschwinden, irgendwohin. wo seid ihr? ich warte auf euch.
die kinder
wer bist du?
europa
ich bin schon gewesen.
die kinder
ist das dein wesen?
europa nein, dieses ist mein wesen: dass ich nicht ohne vision sein kann und nicht ohne hoffnung. dass ich viele versuche und viele hoffnungen bin und schon viele tode. dass es kein verzeihen gibt und dass es verzeihen gibt. dass ich öffne und verdichte und beraube und nehme und hoffe und wandle. dass man sich fürchten muss, dass man sich fürchten muss vor mir und sich fürchten muss um mich, und dass man sich nicht fürchten muss, dass man sich nicht fürchten muss.
die kinder
das ist vieles, was dein wesen ist.
europa
da ist noch mehr.
die kinder
erzähl es uns!
europa
dass ich lebendig bin, und dass das einzelne mehr wiegt als das ganze dabei! dass ich freiheit erlaube, auch wenn ich alles zersetze dabei! dass ich vieles integriert habe in mir, dass ich vieles aufnehme und noch mehr hervorbringen kann! dass ich offen bin und immer neu! dass ich ohne zentrum bin, und mich nicht verdichte in einem kern! dass ich vieles sein kann, aber selten ich selber bin! dass ich vieles sein kann, dass sogar ihr ich sein könnt!
ihr kinder, schaut weg, ich bin so müde.
die kinder
was ist los, stirbst du jetzt?
eins kneift das andere in die seite.
was können wir tun?
europa
wollt ihr meinen, was ihr sagt?
die kinder nicken.
europa

wollt ihr meine kinder sein?
die kinder nicken.
die kinder

bleibst du jetzt hier?
bleibst du jetzt am leben?
europa
was lässt mich zerfallen? seid ihr es?
seid ihr schon ich? bin ich schon auseinandergefallen in euch?
die kinder
wir sind doch noch gar nicht, wir sind doch noch gar nicht da!
europa
vielleicht ist meine zeit schon gewesen.
die kinder
du darfst nicht sterben!
nein, stirb nicht!
rütteln an ihr.
europa

warum?
die kinder
wir wollen es dir erzählen. hör uns an. hör unsere lösung an.
wir erfinden dich neu. wir erfinden alles neu!
ich hab jetzt schon etwas erfunden
nimmt einen laptop.
das kann mithilfe von zahlen alles verändern – wenn alles kaputt zu gehen droht, dann berechnet das alles neu, und dann planen wir alles neu danach. ich habe auch etwas erfunden, kennst du das schon?
nimmt ein pflaster.
schau, damit kann man den körper heilen, wenn er kaputt geht.
europa
ihr rührenden kinder. das gehört zum leben auch dazu, dass es kaputt geht und aufhört und sich wandelt. niemand ist für immer da. ich hatte heute abend meinen auftritt und morgen muss ich wieder untergehen. ich habe mich abgefunden damit, vielleicht müsst ihr es auch. vielleicht kommt etwas anderes, nach mir.
die kinder
aber das wollen wir nicht. nein, das wollen wir nicht.
wir haben jetzt schon gesagt, dass wir deine kinder sind.
schau doch nur, unsere erfindungen! und ich habe noch etwas, schau, schau, seife!
europa
rührend seid ihr.
die kinder
schaut, was ich erfunden habe, das leuchtet!
und ich hab hier was, das bewegt sich.
sie ziehen immer mehr dinge hervor, und schmeißen sie auf den boden. irgendwann ist der bühnenboden voll mit dingen.
kein problem, ich habe etwas erfunden, da kann man alles rein tun, was man nicht mehr braucht. ich nenne es mistkübel.
tun alles in den mistkübel.
das ist bis jetzt die beste erfindung von allen!
alle nicken zustimmend.
das ist auf jeden fall die beste.
so kann man immer neue sachen erfinden!
da kann man alles reintun, was man nicht mehr braucht. siehst du?
europa
hört auf, hört doch auf!
die kinder
nein, nein!
wir hören nicht auf, wir hören nicht auf, das neue zu erfinden, wir erfinden so lange weiter, bis die welt eine richtige welt, bis die welt eine richtige welt geworden ist!
europa
so lange lohnt es sich vielleicht nicht mehr.
die kinder
dann warte doch, dann warte doch zumindest auf uns! warte doch, bis wir sind, zumindest.
europa

das neue ist immer schon das alte.
die kinder
das kommende ist auch nur beschäftigt mit sich selbst.
europa
ich kann euch jetzt sehen.
die kinder

wir sind immer schon hier.
europa
ihr wollt glauben an mich?
die kinder das wollen wir!
europa
ihr wollt meine kinder sein?
die kinder
ja!
europa
wollt ihr mich lieben?
die kinder
das werden wir.
europa stirbt und wird von den kindern in stücke gerissen und verspeist.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2018

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