Auftritt
Hans Otto Theater Potsdam: Großes Buch klein
„Stern 111 nach Motiven des Romans von Lutz Seiler“ in einer Theaterfassung von Esther Hattenbach und Bettina Jantzen – Regie Esther Hattenbach, Bühne und Kostüme Regina Lorenz-Schweer, Musik Johannes Bartmes, Video Sebastian Merk
von Thomas Irmer
Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken Hans Otto Theater
Von Lutz Seilers erstem Roman „Kruso“ gab es vier Theateradaptionen, in Magdeburg, Leipzig, Greifswald und eben auch in Potsdam, die selbst alle zusammen übereinander gelegt das Literatur-Wesentliche dieses Buchs nicht erreichen konnten. Das Konkrete der Handlung geht in einem besonderen, assoziationsreichen Erzählton auf, und dieses erhöhte Feeling für eine Zeit an einem bestimmten Ort, der Epochenschwelle des Sommer 1989 auf Hiddensee, schien auf der Bühne bei allen Theaterbemühungen unerreichbar.
„Stern 111“ stellt in mancher Hinsicht eine Fortsetzung von „Kruso“ dar: zeitlich zwei Tage nach dem Mauerfall 1989 einsetzend wird unter anderem noch einmal die Geschichte einer kleinen Gemeinschaft mit sozial-utopischen Vorstellungen und ihrem Zerfall erzählt. Im Ost-Berlin der Zeit bis zur staatlichen Wiedervereinigung.
Der Roman mit dem Titel von einem DDR-Kofferradio der 1960er Jahre wurde nach seiner Veröffentlichung 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und er lockt außerdem mit der Frage, ob es in der Wendezeit nicht doch andere Geschichten und vor allem andere Potenziale gegeben hat als die, mit denen sich das Land heute in der Selbstbefragung quälend beschäftigt. Da liegt sofort auf der Hand, warum das Theater sich trotz der schwierigen „Kruso“-Erfahrungen mit Seilers Literatur nun auch an den „Stern 111“ heranmachen will.
Die Bühne zeigt links ein Baugestell, auf denen die beiden sehr versierten Musiker Johannes Bartmes und Michael Koschorrek für den fast durchgehenden Soundtrack sitzen, und im Hintergrund tief herunterhängende Bauplanen, wie sie für die Abdeckung von zu renovierenden Altbau-Fassaden verwendet werden. Vorn erzählt Carl, ein Student, der unmittelbar nach dem Mauerfall zu seinen Eltern nach Gera zurückgekehrt ist, wie er diese verliert. Denn Walter und Inge – exzellent dargestellt von Franziska Melzer und Philipp Mauritz, ein abgeklärter Techniker, mit dessen ostthüringisch-sächsischem Dialekt eine ganze Mentalität erkennbar wird – gehen in den Westen. „Die Eltern sollen es einmal besser haben“, diese paradoxe Seiler-Pointe wird vom Publikum mit hörbarem Schmunzeln aufgenommen, während der nunmehr symbolisch verwaiste Carl sich mit dem hinterlassenen Shiguli nach Berlin begibt, dort Schwarztaxifahrer, Hausbesetzer und Mitglied in der verschworenen Gemeinschaft der Assel wird, einer dieser damals wild gegründeten Kneipen in der Oranienburger Straße, wo die Frauen vom ersten Ost-Berliner Straßenstrich zusammen mit naseweisen Kreuzberger Kommunarden zur Tür hereinkamen.
Aus dieser zwei Erzählstränge begründenden Szene wird alles weitere entwickelt, aber schon diese Eröffnung verweist auf einen Mangel der gesamten Inszenierung. Sie bleibt an Zeichen und Atmosphäre arm, immer muss die zitatmäßig nicht immer treffsichere Musik etwas ausfüllen, das dem Erzählten nicht bis zum Ende gelingt, und zunehmend entsteht auch der Eindruck, dass ohne auch nur angelesene Kenntnis von den hauptsächlichen Themen des Romans den mehr oder weniger auf die Bühne purzelnden Szenen gar nicht mehr zu folgen ist.
Carl, im Grunde ein Außenseiter überall, erst recht in der illustren Szene, in der er landet, ist in der Darstellung von Paul Wilms ein ziemlich aufrechter und dabei doch unbeholfener Jungdichter, den die Regie von Esther Hattenbach nur wenig intensive Beziehungen zu seiner Jugendliebe Effi (Alina Wolff) oder etwa des Assel-Kollektivs mit dem Guru-haften Hirten (René Schwittay) gestalten lässt. Im Grunde ist das wie bei einem Musical gedacht, wo die Handlung als Gesamtbild erscheinen soll – und weniger als verfeinerte Durchdringung einzelner Figuren und ihrer Geschichte.
Das ist besonders schade für die Parallelerzählung von Inge und Walter, die über das Notaufnahmelager Gießen, erste Jobs in der alten Bundesrepublik – und dort erfahrenen Demütigungen – sich bis nach Amerika vorarbeiten. Ihrem Jugendtraum, nachdem sie Bill Haley bei dem Rock’n’Roll-Aufruhr 1958 im West-Berliner Sportpalast selbst kennengelernt hatten und der sie – mit dem Eindruck von Walters feinem Fingerspiel auf dem Akkordeon – persönlich einlud. Nun sind sie endlich nach über dreißig Jahren in Kalifornien, wo sie vorurteilsfrei neugierig empfangen werden. Aber die Inszenierung macht aus dieser großen Aufstellung von Carl, mit seinen ersten, groß auf die Bühne projizierten Gedichten, zwischen dem Rock’n’Roll der Eltern und dem Assel-Punk seiner Generation fast nichts, was einen anrührt und für heute oder darüber hinaus etwas bedeuten könnte. Es wird so wegerzählt. Und gleicht der nicht angezündeten Zigarette, die Carl über drei Stunden lang in der Hand hält. Bitte gebt ihm Feuer!
Erschienen am 5.2.2025