Theater der Zeit

Auftritt

Saarbrücken: Panorama der Einsamkeit

Saarländisches Staatstheater: „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“ (DSE) von Pat To Yan. Regie Moritz Schönecker, Bühne Benjamin Schönecker, Kostüme Veronika Bleffert

von Björn Hayer

Erschienen in: Theater der Zeit: Das große Kegeln – Zur Machtdebatte am Theater (06/2021)

Assoziationen: Theaterkritiken Sprechtheater Saarland Asien Saarländisches Staatstheater

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Die deutschsprachige Erstaufführung von „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“ des Hongkonger Autors Pat To Yan mutet in gleich doppelter Weise irreal an: zum einen, weil sie – nach voriger Testung der Besucherinnen und Besucher – tatsächlich live am Saarländischen Staatstheater stattfindet, zum anderen, weil sie von einem dystopischen Raum erzählt, in den uns der Regisseur Moritz Schönecker geradewegs hineinkatapultiert. Zu Beginn blicken wir auf sich am Boden windende Menschen in Schutzanzügen. Erst mit dem „Mann aus der Zukunft“ findet ihr zombieskes Dasein ein vorläufiges Ende. Nachdem dieser uns ankündigt, nie mehr Musicals anschauen zu wollen, berichtet eine Frau vom Albtraum einer Gruppenvergewaltigung durch Regierungsbeamte. Was sich vor unseren Augen abspielt, beruht auf keiner Ursache-Wirkung-Logik, sondern entspringt einer bizarren Vorstellungswelt. „Es ist das Ende des Realismus“, wie man uns mitteilt.

Daher lässt sich das pathetisch grundierte Stück auch nicht allein, wie der Titel suggeriert, auf das freiheitsfeindliche System Chinas beziehen. Es erhebt den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Beschrieben wird eine vom Hyperfortschritt getriebene Gesellschaft. Wir begegnen sowohl Robotern, die uns Empathie vorheucheln, als auch jener Frau, die ihnen vermeintliche Erinnerungen eingepflanzt hat und sich aufgrund ihres öffentlichen Geständnisses auf der Flucht befindet. Als wäre die Regentschaft der Maschinen nicht schon genug des Übels, werden wir auch noch eines tyrannischen Staates gewahr. Panzer rollen (in der Mauerschau) durch die Straßen, und bald schon ist nur noch das Kochen und Essen erlaubt.

Dass der Text reichlich überfrachtet ist, macht es für die Regie nicht leicht. Zeitebenen wechseln, Miniaturgeschichten werden angerissen, aber nicht zu Ende erzählt. Statt von Narration lebt das Drama von Metaphern und Anspielungen. Zwar gelingt es Schönecker nicht, die Länge und Sperrigkeit der Vorlage gänzlich hinter sich zu lassen. Gleichwohl verfügt er über ein Gespür für die richtigen, die Zuschauer ergreifenden Bilder. Als berührend erweist sich etwa eine Szene mit einer werdenden Mutter. Während auf einer Leinwand das Ultraschallbild eines Fötus zu sehen ist, fragt sich die Frau, ob man überhaupt ein Kind in dieser trostlosen Hölle gebären sollte. Was folgt, ist ein gleißender Schrei, raumgreifend und durch ein gigantisches Echo verstärkt. Nicht minder bewegend fällt die Begegnung mit einer Katzenfigur aus. Versehen mit einem überdimensionierten „Hello Kitty“-Kopf (Kostüme Benjamin Schönecker), trägt sie einen leuchtenden Reifen über die weitestgehend dunkle Bühne. Auch sie erweist sich als vom Leben gebeutelt. Allein Schmerz beweise ihre Existenz, so die skurrile Gestalt.

Gemeinsam mit seinem Ensemble, darunter Silvio Kretschmer, Bernd Geiling, ­Barbara Krzoska, Jan Hutter und Verena Bukal, zeigt uns der Regisseur ein Land der Wanderer und Haltlosen sowie eine Epoche, der jedweder innere Kompass abhanden­gekommen ist. Hier und da mögen vertikale Leuchtkörper noch ein Licht zu erkennen geben. Und hier und da schimmert der Kosmos mitsamt ­seinen Sternen als Videobild auf. Doch die ­Zeichen haben ihre Bedeutung verloren, firmieren lediglich noch als Träger einer diffusen, nicht mehr greifbaren Sehnsucht. Weniger die konkreten Auswüchse einer Diktatur als vielmehr die damit einhergehende Gefühls­lage werden an diesem Abend dokumentiert. Es ist ein Gemisch aus eskapistischen Fantasien und äußerster Beklemmung. Vor allem aber: ein Panorama der Einsamkeit. Sei es die Geige spielende, von Sophokles entlehnte Antigone (Gaby Pochert), die ihren Bruder in diesem Schreckensregime nicht begraben darf, sei es der blinde Richter oder die märchenhafte „weiße Knochenfrau“, die als Inbegriff der Systemaussteigerin gelten kann – sie alle verharren in ihrer Position auf verlorenem Posten. Die Saarbrücker Inszenierung von „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“ ist also mehr als reines Polittheater, sie erzählt mithin von den Widrigkeiten der condition humaine selbst. //

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