Theater der Zeit

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Auftritt

Landestheater Schwaben Memmingen: Die Liebe zum letzten Zitroneneis

„Alles muss sich ändern – jetzt!“ von Milo Knot, Lili Roesing und Leah Winzely (UA) – Regie Linda Bockmeyer, Nandi Nastasja & Benjamin Truong, Ausstattung Carolin Wirth, Ines Diaz Naufal & Christin Kriener

Eine Stückentwicklung mit jungen Regisseur:innen und Autor:innen der Universität der Künste Berlin, Akadamie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg und der Theaterakademie August Everding in München

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Dramatik Baden-Württemberg Theaterkritiken Dossier: Neue Dramatik Benjamin Truong Linda Bockmeyer Nandi Nastasja Lili Roesing Leah Luna Winzely Milo Koot Landestheater Schwaben

Flurina Carla Schlegel in „Growth“ als Teil der Dreier-Inszenierung „Alles muss ich ändern – jetzt“ am Landestheater Schwaben.
Flurina Carla Schlegel in „Growth“ als Teil der Dreier-Inszenierung „Alles muss ich ändern – jetzt“ am Landestheater Schwaben.Foto: Forster

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Das letzte Zitroneneis schmilzt dem Verkäufer in den Händen. Mit seiner pinkfarbenen Schürze und der gleichfarbigen Mütze erinnert er an eine Zeit, als der süße Genuss noch zum Alltag gehörte. Damals war die Stadt Memmingen in Allgäu ein Eisdielenparadies. In Zeiten des Klimawandels ist es unmöglich geworden, Speiseeis herzustellen. Diese Geschichte denkt die junge Autorin Leah Winzely weiter. In ihrem Text „Heisszeit“ spürt eine Klimaforscherin den letzten Eisverkäufer auf. Gemeinsam machen sich die Spieler:innen Tom Christopher Büning und Delia Rachel Bauen in der schrecklichen neuen Welt des Klimawandels auf die Suche nach den verlorenen Lebenswelten. 

„Alles muss sich ändern – jetzt!“ haben die Studierenden der Universität der Künste in Berlin sowie der Theaterakademien Baden-Württemberg in Ludwigsburg und August Everding in München ihre Stückentwicklung genannt. Gemeinsam greifen sie mit den Schauspielern des Memminger Landestheaters den Diskurs auf, der ihre Generation prägt. In Zeiten, da sich junge Menschen der „letzten Generation“ aus Verzweiflung und Kampfesgeist entschlossen auf den heißen Asphalt kleben, um die Klimakatastrophe doch noch abzuwenden, braucht das Theater eine starke Sprache. Die finden die jungen Künstler:innen in dem bemerkenswerten Gemeinschaftsprojekt, das die Freunde des Landestheaters Schwaben mit finanziert haben. 

Immer wieder versiegen den beiden Akteuren die Worte in „Heisszeit“. Der Münchner Regiestudent Benjamin Truong entfaltet mit den Schauspieler:innen ein wunderschönes Szenario der Erinnerung. Da arbeitet er mit Klängen und Geräuschen. Weiden peitschen auf kalten Stein. Das klingt so wie die Flügelschläge der Tauben auf den öffentlichen Plätzen, die einst zum Bild der Eisdielen gehörten. Voller Zärtlichkeit lässt Leah Winzelys Text die Schauspieler Büning und Bauen einander entdecken und ertasten. Vorsichtig halten sie das Glas mit dem letzten Zitroneneis der Menschheit in Händen. Trockeneis hüllt den Raum in Nebel. Ein schönes und zugleich verstörendes Bild, das Verzweiflung spiegelt. Im Off sprechen Memminger Bürger:innen von ihren Ängsten. Was tun, wenn die Welt in zwei Hälften bricht? So unterstreicht das Regieteam die Brisanz des Stoffes. 

Mit einem Gerüst aus Metall haben die Ausstatterinnen Carolin Wirth, Ines Diaz Naufal und Christin Kriener den engen Raum der Memminger Studiobühne strukturiert. Er lässt sich in einen Wald, in ein Wohnzimmer oder in die Zentrale einer Hilfsorganisation verwandeln. Milo Knot untersucht in seinem Text „Das Ende einer Welt“ die Folgen des Klimakollapses für die Liebesbeziehung zweier Männer. Klaus Philipp versucht, seine Zweierbeziehung zu retten, während Sam (Tom Christopher Büning) die Welt retten will. Klug verbindet die Ludwigsburger Regisseurin Linda Bockmeyer die ironische Nabelschau Milo Knots mit den politischen Diskursen, die der Autor aufwirft. Scharf und mit schönen Theaterbildern arbeitet sie so die Tiefenschärfe des Texts heraus.   

In einen Wald verirrt sich die Jurastudentin Alice in „Growth“ von Lili Roesing. Als Jurastudentin Alice sucht die Schauspielerin Flurina Schlegel im sterbenden Wald nach einer Welt, die wieder zur Generationengerechtigkeit zurückfindet. Doch die Uhr tickt. Und die Zeiger lassen sich nicht zurückdrehen. Stimmen aus dem Off erinnern sie an ihre Kindheit, als das ökologische System Wald noch intakt war. Stark zeigt Schlegel, wie die junge Frau funktioniert, während die Welt über ihr zusammenbricht. Wichtiger als die Rettung der Natur ist das erste Staatsexamen. Roesings schreckliche Bilder einer neuen Generation der Gleichgültigkeit verortet die Ludwigsburger Regisseurin Nandi Nastasja in einem gruseligen Märchenwald. Mit Daniel Kohnens Sounddesign spiegelt sie Zukunftsangst in Klängen. Immer bedrohlicher hämmern die Stimmen auf Alice ein, zwingen sie, ihre Werte zu hinterfragen: Was fängst Du mit dem Leben an, das Deiner Generation gestohlen wird?  

Die Klimakatastrophe spiegeln die drei Texte aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Zwar sind die Inhalte der Texte ganz unterschiedlich, sie stehen für sich und werden an einem Abend hintereinander gezeigt. Auf fließende Übergänge wird bewusst verzichtet. Brücken bauen die Regieteams durch die Narrative. Alle drei Texte zeigen Wege auf, wie sich junge Menschen aus dem „No-Future-Lebensgefühl“ befreien. Der Eisschützer rettet ein Stück Lebensqualität in die düstere Zukunft, das Paar rettet die Liebe als wichtigsten Lebensentwurf und die Jura-Studentin findet im Einklang mit Wald und Wiesen ihre Identität wieder. Das zentrale Thema haben die Texte gemeinsam. Die Folgen der Umweltzerstörung zeigen die jungen Theatermacher:innen in klugen, undogmatischen Produktionen. „Alles muss sich ändern – jetzt!“ stellt nicht die Angst in den Mittelpunkt, die Menschen heute in die Verzweiflung treibt. Es sind starke Stimmen, die da zu Wort kommen. Mit innovativen und zugleich sehr unterschiedlichen künstlerischen Mitteln erzählen sie in dem Projekt der Theaterakademien und des Landestheaters Schwaben von einer Generation, die die Hoffnung auf eine Zukunft noch lange nicht aufgegeben hat. 

Erschienen am 16.6.2023

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