Das Enjambement
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Mit dem Enjambement oder Zeilensprung überspringt der Satz die Zeilengrenze. Der rhythmische Abschluss der Verszeile fällt mit dem syntaktischen Abschluss nicht zusammen. Die Syntax befreit sich aus dem Korsett des Metrums. Im Enjambement greift der Satz, um seinen Sinn zu vollenden, am Versende auf die nächste Verszeile über. Es entsteht eine kleine Pause, die eine Option beinhaltet, den Gedanken auf die eine oder andere Art weiterzuführen. Diese gestische Unterbrechung lädt uns ein, eine Perspektive einzunehmen und die Verszeilen so zu verbinden, dass der innere oder äußere Blick gerichtet wird. Einfaches Pausieren genügt nicht. Der nachfolgende Vers muss so antizipiert werden, dass das Sprechen zu einer Spannungszunahme oder zu einer Lösung führen kann. „Das Enjambement ist ein Ende, das keines ist. Es stellt ein Ende und zugleich einen Übergang dar, einen Bruch und zugleich einen Zusammenhang, eine Differenz und eine Vermittlung.“181 Das letzte Wort der ersten Zeile und das erste Wort der zweiten Zeile werden hervorgehoben. Die Art der Hervorhebung richtet sich nach dem Sinnzusammenhang. Durch das kurze Innehalten zwischen den Zeilen entsteht ein synkopierender Rhythmus. „Das Enjambement setzt das, was es trennt und verbindet, zugleich als Einheiten und als Teile. Dadurch können die Formulierungen in diesen Zeilen nach zwei...