Theater der Zeit

Stück

Wir werden uns alle immer ähnlicher

Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss über sein neues Stück „Frau Schmitz“ im Gespräch mit Judith Gerstenberg

von Lukas Bärfuss und Judith Gerstenberg

Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Assoziationen: Dramatik Schauspielhaus Zürich

Lukas Bärfuss, der Titel deines neuen Stückes „Frau Schmitz“ wirkt unverfänglich. Dass dem keineswegs so ist, zeigt schon die erste Szene. Du sagtest einmal, mit dem ersten Satz sollte das Thema gesetzt sein. Ist das dein Prinzip, auch um den Laborcharakter des Theaters zu betonen?
Ich bin nicht sicher, ob ich ein Prinzip habe. Was du ansprichst, nämlich den Umstand, dass ich gleich mit der ersten Szene das Geschehen in Gang bringen will, hat vielleicht etwas mit einer Angst oder einem Misstrauen zu tun. Ich fürchte mich davor, jemand könnte sich gelangweilt fühlen, jemand könnte sich für das, was ich zu sagen habe, nicht interessieren. Vielleicht ist das kindlich, aber es ist wohl vor allem solipsistisch. Ich bin selbst ungnädig mit Kunstwerken, gerade literarischen, die sich nicht um mich bemühen. Ich mag nichts, das hermetisch ist. Ich mag das Selbstgenügsame nicht. Die Welt, wie ich sie vorfinde, verschließt sich nicht. Das bedeutet nicht, dass diese Welt ohne Geheimnisse und entzifferbar wäre. Aber die Türen zur Wirklichkeit finde ich weit offen. Und es ist richtig, ich möchte etwas untersuchen, und ich weiß natürlich: In jeder Untersuchung liegt eine Grausamkeit. Die reine Beobachtung gibt es ja nicht, wie Werner Heisenberg festgestellt hat: Jeder Beobachter verändert das System, das er beobachtet. Aus dieser Grausamkeit folgt ein Lustgewinn, keine Frage, und das ist es wohl, worauf ich zuerst abziele: auf das Lustzentrum. Auf meines, auf das der Schauspieler, auf das Lustzentrum des Publikums.

Auf den ersten Blick behandelt das Stück die Genderfrage. Worum geht es dir wirklich?
Wenn ich das sagen könnte! Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit dem Begriff der Verwandlung auseinandergesetzt, ein Begriff, der in der Kunst, in der Literatur eine zentrale Rolle spielt. Einfach deswegen, weil die Zeit für uns nicht beherrschbar ist. Die Existenz bleibt in ihrem Wesen biografisch: Man wird geboren, reift, altert, stirbt. Die Literatur beschreibt die Verwandlung selten affirmativ, sie erzählt vom Schmerz, von der Ungerechtigkeit, vom Zorn über diese Verwandlungen. Das ist die Konstante, anhand derer wir einen Zugang finden zur Tradition. Es ist hinlänglich bekannt, wie diese existenzielle Erfahrung in einen ökonomischen Zusammenhang gebracht wurde.

Du sprichst von der Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit als Maxime unseres neoliberalen Gesellschaftssystems?
Da Kreativität zum zentralen Wert der Innovationskraft wurde, und da man feststellte, dass Kreativität eine Krisenerfahrung ist, die Reaktion auf eine Bedrohung, auf eine Beschränkung, versuchte man eine wesentliche und sehr unproduktive Folge der sozialen Marktwirtschaft auszuhebeln, nämlich das Gefühl der Sicherheit. Altersvorsorge, Krankenversicherung, Arbeitslosengeld – all dies verschafft den Menschen Sicherheit, aber sie werden eben auch bequem und träge. Die politische Forderung nach ständigen Reformen musste in die Unternehmen gebracht werden, und dort hieß der Begriff Change Management. Im Gegensatz zu den Behauptungen ihrer Verfechter ging es aber nicht darum, den Wandel zu organisieren, es ging in erster Linie um die Produktion eines andauernden Bedrohungsgefühls. Es ist aufschlussreich zu sehen, dass diese Lehren einen permanenten Katastrophenfall annehmen, stets mit der Beschwörung dessen beginnen, was sich gerade krisenhaft verändert: Klima, Technologie, Bevölkerung und so weiter. Auf diese Veränderungen gibt es grundsätzlich nur eine adäquate Reaktion, und das ist nicht der Widerstand, nicht der Versuch, etwas gegen diese als negativ empfundenen Veränderungen zu unternehmen. Die einzige in ökonomische Rendite umsetzbare Reaktion ist: Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Da man nichts gegen die Krisen tun kann, da sie zu groß, gewissermaßen schicksalhaft sind, bleibt nur die Möglichkeit, sich selbst anzupassen, sich weiterzubilden, umzuschulen, zu reorganisieren.

Mit welcher Konsequenz?
Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen. Diese Beschreibung der Welt gibt sich faktisch, phänomenologisch, aber tatsächlich ist sie reine Ideologie. Die Methode, mit der sie umgesetzt wird, ist die Idee der ewigen Konkurrenz. Dass wir alle miteinander im Wettbewerb stehen, dass wir uns für diesen Wettbewerb zu ertüchtigen haben, dass nur der Wettbewerb den Menschen aus seiner Trägheit reißt: Diese Ideen sind heute hegemonial. Man findet sie in jeder gesellschaftlichen Diskussion, nicht nur in der Wirtschaft, ebenso in der Politik, und natürlich auch in der Kunst. Das alles ist hinlänglich beschrieben. Eine Sache allerdings geschieht beinahe unbemerkt. Der Wettbewerb hat eine ziemlich problematische Konsequenz: Die Konkurrenten werden konform, sie gleichen sich untereinander an. Und zwar, weil sie sich denselben Regeln, denselben Vorgaben, denselben Zielen zu unterwerfen haben. Ohne die Einheit der Regeln und der Ziele gibt es keinen Wettbewerb, keine Messbarkeit, keine Vergleichbarkeit. Aber diese Regeln, diese Ziele sind natürlich reine Willkür. Das Resultat dieser Affirmation der Verwandlung mit der Methode des Wettbewerbs ist deshalb nicht zuerst Innovation, also Erneuerung, wie immer behauptet wird, sondern in erster Linie Konformismus. Wir sehen uns alle immer ähnlicher, und gerade Frau Schmitz ist ja vollkommen konform in ihrer Lebensweise. Und deshalb ist sie erfolgreich. Aber dann hält sie sich plötzlich nicht mehr an die Regeln, und das Unglück beginnt.

Frau Schmitz dient als Katalysator. Nicht ihren Konflikt – das Leben im falschen Körper – stellst du in den Mittelpunkt, sondern die Reaktionen ihrer Umgebung, die Ansprüche, Erwartungen und Verwirrungen. Was passiert, wenn einem die Zuordnungen, die Codes, die das Miteinander geräuschlos steuern, genommen werden?
Das ist individuell eine große Katastrophe und wird abseits der Kunst, der Bühne, in der Regel als Wahnsinn bezeichnet. Wenn ich die Rollen nicht verstehe, die meine Mitmenschen spielen, wenn ich meine Rolle nicht verstehe und einhalte, dann lande ich sehr schnell entweder im Irrenhaus oder im Gefängnis. Wenn ich mit der Bäckersfrau wie mit meiner Mutter oder mit meiner Mutter wie mit der Bäckersfrau rede, wenn ich also die Funktionen nicht entschlüssle und meine Sprechweisen nicht anpasse, dann ist Schluss mit dem bürgerlichen Leben. Es wäre nicht sinnvoll und sehr behindernd, wenn wir uns in jeder Minute die Komplexität dieser Muster bewusst wären. Wir sind auf Automatismen angewiesen. Die Zügelung, diese Zähmung ist äußerst anstrengend, mit vielen Demütigungen und Beschränkungen verbunden, gerade in einer arbeitsteiligen Gesellschaft entkommen wir der Funktionalität sehr selten. Auf die Dauer wäre sie unerträglich, wenn es nicht Gelegenheiten gäbe, diese Rollenhaftigkeit zu entblößen und damit zu kritisieren, über sie zu lachen und uns einen Moment von ihrem Zwang zu befreien. Das Theater gehört zentral dazu. Es zeigt uns, dass unsere Identität kein Schicksal, sondern ein Konstrukt ist. Die Frage ist nur, ob wir etwas mit dieser theatralen Erfahrung anfangen. Ob die Utopie des Theaters noch die Kraft hat, über den Zuschauerraum hinauszuspringen. Ob die Menschen sich noch inspirieren lassen und eine Möglichkeit sehen, sich von den Beschränkungen ihrer alltäglichen Funktionszusammenhänge zu befreien.

Warum hast du das Genre der Komödie gewählt?
Vielleicht, weil Komödie vor allem Konstruktion und also Form ist. Sie zügelt das Chaos, bändigt die Anarchie zum Zwecke des Gelächters. Diese Bändigung ist für einen Künstler eine anspruchsvolle Aufgabe, vielleicht die anspruchsvollste überhaupt. Und ich rede nicht vom Gag, von der Pointe, obwohl das natürlich auch gemeistert sein will. Jede Komödie verlangt eine Deutung, eine eindeutige Stellungnahme und vor allem eine Zuschreibung: Es muss klar sein, über wen gelacht wird, wer also das Opfer ist, wer die Grausamkeit zu erleiden hat. Humor ist deshalb politisch, weil er die Kosten verteilt. Eine zivilisierte Gesellschaft hat den Humor gebändigt, wir wissen genau, wann wir wo und worüber zu lachen haben. Wenn wir an unpassenden Stellen lachen, bei Gelegenheiten, die eigentlich des Ernstes bedürfen, wird es gefährlich. Und um diese Gefahr geht es mir, wohl gemerkt, nur im Theater. Ich halte es für kein gutes Zeichen, wenn uns die Politik zum Lachen bringt. Und das tut sie in der letzten Zeit gerade wieder beängstigend häufig. //

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