Theater der Zeit

Auftritt

Schauspiel Köln: Der vergessene Völkermord

„Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“ von Futur3 (UA) – Künstlerische Leitung: André Erlen und Stefan H. Kraft, Regie: André Erlen, Bühne und Kostüme: Michaela Muchina, Videodesign und Livekamera: Valeru LIsac

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Stefan H. Kraft André Erlen Futur3 Schauspiel Köln

„Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“, Künstlerische Leitung André Erlen und Stefan H. Kraft, in der Regie von André Erlen von FUTUR3 in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und dem Orangerie Theater Köln. Foto Ana Lukenda
„Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“, Künstlerische Leitung André Erlen und Stefan H. Kraft, in der Regie von André Erlen von FUTUR3 in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und dem Orangerie Theater Köln. Foto: Ana Lukenda

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Eine Hand schlägt ein Fotoalbum auf. Auf der Videoprojektion sieht das Publikum Schwarzweißbilder eines verlassenen Dorfes. Die Menschen sind nicht freiwillig gegangen. Sie wurden ausgehungert im Holodomor, einem Völkermord der Sowjetunion an der Bevölkerung der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933. Man weiß bis heute nicht genau, wie viele Millionen damals verhungert sind, in der Sowjetunion, war es verboten vom Holodomor – übersetzt „Mord durch Hunger“ – zu sprechen. Nun haben das Kollektiv Futur3 und das Kölner Schauspiel ein ebenso packendes wie informatives Theaterstück auf die Bühne gebracht – „Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“.

Die Ukraine hat schon immer viel Getreide produziert und exportiert, seit der Antike. Doch die Sowjetunion wollte alle Bauernhöfe zwangskollektivieren. Um den Widerstand der Kulaken – so wurden die Eigentümer der Bauernhöfe genannt – zu brechen, wurde ihnen fast alles Essbare weggenommen, auch die Tiere. Wie der Bestand der Pferde, Schweiner und Hühner während des Holodomors dezimiert wurde und andere Zahlen und Statistiken sieht das Publikum als Einblendung in Bühnenhintergrund.  

Das Ensemble besteht aus Ukrainer:innen und Deutschen. Aus Briefen, Artikeln, Tagebüchern und anderen Quellen entstanden reale historische Figuren. Zum Beispiel Magda Homann, eine Bäuerin aus Niedersachsen, die im ersten Weltkrieg einen Soldaten aus der Sowjetunion kennenlernt und mit ihm in ein ukrainisches Dorf zieht. Der Mann stirbt, die Söhne ziehen in den nächsten, den zweiten Weltkrieg. Magda ist allein, hungert und bettelt ihren deutschen Bruder in Briefen um Hilfe an. Doch die bleibt aus. Die Schauspielerin Anja Jazeschann spielt diese Rolle direkt und emotional. Sie verschmilzt mit der Rolle, fleht und wütet, bevor sie wieder aus der Figur heraustritt. Oleksii Dorychevskyi spielt den Sohn eines dieser Kulaken. Er geht nach Moskau, vertritt die Ideale des Kommunismus, will aufsteigen. Seine ukrainische Identität versucht er hinter sich zu lassen.

Es geht an diesem Abend nicht nur um die Rekonstruktion des Holodomors. Sondern auch um die Frage, warum dieses Staatsverbrechen vergessen werden konnte. Eine mögliche Antwort bietet ein Journalist aus Wales, Gareth Jones, an. Er reist durch die Ukraine, sieht, was dort geschieht und berichtet darüber. Doch die liberalen Medien und damals bekannte Autorinnen und Autoren bezeichnen ihn als Lügner. Weil der Kommunismus für den Fortschritt steht, und solche Taten einfach nicht wahr sein können. Was aus Jones geworden ist, weiß niemand. Eine Theorie lautet, der sowjetische Geheimdienst habe ihn getötet.

Die Ablehnung durch westliche Medien trug dazu bei, dass der Holodomor bis zum Ende der Sowjetunion weitgehend vergessen wurde. Heute liegt hier ein Teil der Erklärung, für den leidenschaftlichen Widerstand der Ukraine gegen den Angriff Russlands. Viele haben das Gefühl, wenn sie sich nicht wehren, sterben sie sowieso. Weiterführende Informationen über den Holodomor und die Aufführung hinaus bietet das Online-Programmheft des Kölner Schauspiels: DIE REVOLUTION LÄSST IHRE KINDER VERHUNGERN, von FUTUR3 in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln.

In einem Video berichtet ein ukrainischer Bauer von heute, was ihm seine Familie über den Holodomor erzählt hat. Dann kracht es, russische Bomben nahen, alle flüchten in den Schutzkeller. Das ist der einzige offensichtliche Bezug zur Gegenwart. Mehr braucht es nicht in André Erlers klarer und kraftvoller Inszenierung.

Erschienen am 5.12.2022

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