Theater der Zeit

Festival

Etappenziel: Festivalerlebnis

Wochenendbesuche in Erlangen und Magdeburg

Theater- oder gar Festivalbesuche sind seit nunmehr zwei Jahren eine seltene Ausnahme – verunmöglichten doch die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln einen zentralen Kern derselben: die leibhaftige Versammlung. Welche Strategien und Formate Veranstalter*innen und Künstler*innen in Erlangen und Magdeburg fanden, um dennoch gemeinschaftsstiftende Zusammenhänge, zufällige Begegnungen und kurze Momente von Vertrautheit herzustellen, beschreibt Anke Meyer anhand ausgewählter Programmpunkte beider Festivals.

von Anke Meyer

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Bayern Theaterkritiken Sachsen-Anhalt Puppen-, Figuren- & Objekttheater Puppentheater Magdeburg

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Ausgefallene oder auf digitale, teils auch hybride Versionen umgestellte Theaterfestivals waren und sind in den beiden Pandemiejahren 2020 und 2021 eher die Regel als die Ausnahme. Doch dann: der Sommer 2021! Die steigenden Außentemperaturen, die sinkenden Ansteckungszahlen machten Theaterveranstaltungen mit Publikum vor Ort wieder möglich. Nach teils mehrfachem Verschieben ganzer Festivalausgaben bzw. kreativem Umschwenken auf durchaus reizvolle und spannende Online-Versionen reagierten einige Veranstalter nun mit einem neuen Konzept: Sie unterteilten das große Festivalmenü in kleine Häppchen und boten über das Jahr verteilt an mehreren Wochenenden ein reduziertes, pandemiekompatibles Programm an. Konnte das funktionieren? Würde sich bei einem derart aufgesplitteten Programm mit rigider Publikumsbegrenzung so etwas wie ein Festivalfeeling einstellen? Würde sich das „Surplus“ der Festivalerfahrung gegenüber dem zeitlich entzerrten Besuch einzelner Vorstellungen im normalen Spielbetrieb überhaupt bemerkbar machen?

Nach drei Wochenendbesuchen kurz gesagt: Ja und nein. Natürlich kann ein (verlängertes) Wochenende nicht den fast meditativen Erschöpfungszustand hervorrufen, wie zehn randvolle Festivaltage. Natürlich sind Austausch und Geselligkeit reduziert, wenn nur einige Solist*innen und Kompagnien zu Gast sind, weniger Fachbesucher*innen anreisen und überhaupt deutlich weniger Publikum zugelassen ist. Tag für Tag das erwartungsvolle Vibrieren in einem bis auf den letzten Platz besetzten Raum, das Fitness steigernde Hetzen von Vorstellung zu Vorstellung, das oft kommunikative Gedränge bei Open Air-Veranstaltungen, in der Theatergastronomie (wie in Magdeburg) oder in den Straßencafés (wie in Erlangen) – all das blieb aus oder war zumindest schmerzlich limitiert.

Man wahrte Abstand, auch bei den diversen Veranstaltungen im Erlanger Stadtraum, der dennoch seinen ganzen Charme entfalten konnte – wie zum Beispiel bei Christoph Bochdanskys „Das Leben misst dir deinen Teufel an (den passenden bekommst du zugeteilt)“, wo der Neustädter Kirchenplatz als smarter Mitspieler bei freiem Eintritt ganz neues Publikum anlockte.

Daneben habe ich bei den von mir besuchten Festivaletappen mehrere Formate erlebt, die bei aller gebotenen körperlichen Distanz eine eigene Form von performativer Nähe, von aktiver Beteiligung entstehen lassen. Das gilt für Florian Feisels Wohnmobilshow „Plastika“, in der er sich von zwei Besucher*innen bei der provisorischen Animation einer unvollendeten alten Bauchrednerpuppe unterstützen lässt, ebenso wie für Xavier Bobés’ politisch-historisches Objektspiel für fünf Personen „Dinge, die man leicht vergisst“ – um zwei Beispiele aus Erlangen und Magdeburg herauszugreifen.

Momente der Begegnung

Auch in der Kombination, im Verweis von einem Wochenende auf das andere, entfalteten diese intimen Vorstellungen Wirkung. Oder, wie im September „A Thousand Ways“, als vor Ort präsentierte Fortsetzung eines auf äußerste Distanz angelegten Formats aus dem digitalen Erlanger Mai-Programm: Im ersten Teil dieses vom amerikanischen Duo 600 Highwaymen erdachten Triptychons, einem Telefongespräch zwischen zwei Fremden, geleitet durch automatisch eingespielte Fragen, entwickelte sich im Verlauf einer Stunde ein erstaunlich differenziertes und persönliches Bild zu der unbekannten Stimme am anderen Ende der Leitung, eine temporäre Nähe und natürlich ein Film im Kopf. Im zweiten Teil sitze ich nun an einem Tisch einer fremden Person gegenüber, zwischen uns eine transparente Trennscheibe. Vor uns haben wir Karten mit Handlungsanweisungen, die uns zu einer gestischen Kommunikation animieren. Auf dieser visuellen Ebene entsteht nicht nur ein von Leichtigkeit und Pläsier geprägter Dialog, sondern auch bald Vertrauen, gepaart mit Erwartungen, die sich an das Agieren des Gegenübers heften und entsprechende Überraschungen generieren. Ja, wir werden angeleitet von einem „Text“, der uns zu Dramaturginnen (denn wir entscheiden über Timing und Gestus), Spielerinnen und einzigen Zuschauerinnen unserer eigenen und doch fremden „Szenen“ machen. Eine erstaunliche Erfahrung von 60 Minuten Nähe und Offenheit bei gewahrter Distanz.

Bereits am Juli-Wochenende, bei „Table Dialogues“, einem interaktiven VR-Projekt von Robbert&Frank Frank&Robbert, gab es einen Tisch und daran zwei einander unbekannte Menschen. In einem ehemaligen Erlanger Ladengeschäft öffnet sich ein virtueller Raum, der uns einzeln kopfüber ins Unendliche stürzen lässt, zurück zum Urknall vielleicht. Es ist, als wäre ich Teil eines hochdramatischen Kreationsprozesses, sei es im Universum, im Künstlerkopf … oder in meinem eigenen. Nach Absetzen der VR-Brille werden wir gebeten, das, was in unserem Kopf weiterarbeitet, mit altmodischer Schulkreide auf der schwarzen Tischplatte auszubringen. Initiiert durch Fragen des Künstlerteams beginnt zwischen uns beiden mittels Zeichnungen, zwei kleinen Figurinen und zwei Tonkugeln ein Dialog der gegenseitigen Interpretation und Impulse. Irgendwo zwischen kindlichem Vergnügen und rituellem Ernst begegnet man den spontanen Visionen eines Zufallspartners, sich selbst – und nicht zuletzt den Künstlern, die dieses Ritual ersonnen haben.

Ganz allein besucht man im September in denselben Räumlichkeiten die Performance „As Far As My Fingertips Take Me“ der libanesischen Künstlerin Tania El Khoury. Auch dies eine Übung in distanzierter Intimität, eine unsichtbare Berührung sowohl im wörtlichen Sinn als auch durch die so fern scheinenden, uns jedoch im Kern unserer Lebensweisen- und sicherheiten betreffenden Fluchttragödien. Die rücken mir hier buchstäblich „auf die Pelle“, wenn der von einer weißen Wand verborgene Performer Basel Zaraa mir die trostlose Erzählung mit Fingerabdruckfarbe auf meine Haut malt. Draußen sehe ich dann immer wieder Menschen mit diesen kleinen schwarzen, hintereinander her stapfenden Figuren auf dem Arm … Es ist zum einen die bei der Performance entstandene Empfindung, die dabei wieder evoziert wird, es kommt aber auch etwas anderes auf: ein kurzes Gefühl der Verbundenheit, weil man sich im Vorbeigehen auf dem Marktplatz, in den wieder geöffneten Restaurant-Terrassen oder beim Beobachten der mit ihren Klebebändern den Aufstand probenden Asphalt Piloten gegenseitig als Festivalbesucher*in identifiziert.

Ja, es gibt ein Festivalfeeling – gerade durch diese besonderen Formate, die besonderen Orte, die kleinen Gruppen, die sich hier und dort und nochmal dort zusammenfinden, zum Beispiel vor dem „Happiness“-Kiosk von Dries Verhoeven. Hier muss man tatsächlich (mit Abstand) Schlange stehen, um sich von der beängstigend präzise agierenden Roboterdame gefühlt alle Drogen dieser Welt anpreisen zu lassen. Ein mit seiner professionellen Verkäuferinnen-Sachlichkeit und seinem detailreichen, nur durch die offen liegenden Verdrahtungen der sprechenden Menschen-Maschine gebrochenen Realismus nach anfänglicher Belustigung schaudern lassender Vorgang.

Großes Kopfkino mit Ameisen und Büchern

Weniger an die Knochen ging mir eine andere Arbeit von Dries Verhoeven: die beim Magdeburger Blickwechsel-Wochenende im November 2021 (dem ersten von dreien, die unter dem Titel „Beste Freunde – ein ganzes Jahr“ bis Juni 2022 stattfinden) unter dem Dach des Puppentheaters gezeigte Videoinstallation „Homo Desperatus“. Das Gewimmel der siebzigtausend Ameisen, die sich in den aus Zucker akkurat nachgebauten, weißen Miniaturen von Schauplätzen meist menschengemachter Katastrophen – wie das Lager von Guantánamo oder die eingestürzte Textilfabrik Rana Plaza in Bagladesch – zu organisieren versuchen, bleibt in meinen Augen vor allem ästhetisch; das Arrangement mehr Behauptung und Zeichen, unterkühlt gegenüber den desaströsen Vorfällen und dem daraus entstandenen unermesslichen Leid. Allerdings beschleicht mich irgendwann das Gefühl, wir Menschen agieren im Katastrophenfall deutlich weniger besonnen und organisiert als die Ameisen …

Was wahrscheinlich auch in der Theatergeschichte immer wieder belegt wird, und selten so schaurig komisch, wie mit Alfred Jarrys „Ubu“ – in Magdeburg am ersten Blickwechsel-Wochenende in einer Version des Stuffed Puppet Theatre zu Gast. Neville Tranters bejubelte deutsche Erstaufführung fand im Puppentheater statt, im März 2022 folgt am selben Ort die Ubu-Lesart des Materialtheaters Stuttgart. Ja, in Magdeburg wurde und wird ins Theater geladen, man konnte dort im November zum Beispiel auch die hochenergetische neue Produktion von Jan Jedenak, „Mandragora“, und die hauseigene Inszenierung „Schonzeit“ erleben.

Für ein sehr besonderes Festivalerlebnis sorgte in Magdeburg noch die Schweizer Formation Trickster-p mit ihrer Installation „Book is a Book is a Book“. In einem wie ein Lesesaal anmutenden großen Raum an einzelne Tischchen platziert, dürfen wir ein Buch erkunden, das mit seinen Zeichnungen und Textfragmenten sofort in Bann schlägt. Über Kopfhörer schickt uns eine Stimme auf eine labyrinthische Reise durch die Seiten und öffnet dabei immer neue Räume für unsere eigenen Geschichten. Wir sind Mitspieler*innen, Kulisse, Leser*innen, Bühne, Autor*innen, Zuschauer*innen in diesen Räumen, die wir gemeinsam allein beschreiten.

www.figurentheaterfestival.de
www.puppentheater-magdeburg.de/blickwechsel

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