Theater der Zeit

Auftritt

Schauspiel Stuttgart: Der Verblendung in die Augen schauen

„Forecast:Ödipus“ von Thomas Köck (UA) – Regie Stefan Pucher, Bühne Nina Peller, Kostüme Annabelle Witt, Musik Christopher Uhe

von Otto Paul Burkhardt

Assoziationen: Baden-Württemberg Theaterkritiken Stefan Pucher Thomas Köck Schauspiel Stuttgart

Therese Dörr als lokaste und Thomas Hauser als Ödipus in Thomas Köcks Tragödien-Überschreibung „Forecast:Ödipus“ am Schauspiel Stuttgart.
Therese Dörr als lokaste und Thomas Hauser als Ödipus in Thomas Köcks Tragödien-Überschreibung „Forecast:Ödipus“ am Schauspiel Stuttgart.Foto: Katrin Ribbe

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„See for Yourself“ prangt in großen roten Lettern auf der Bühne. Schau selbst hin, überzeuge Dich selbst! Ein Unheil verkündendes Menetekel? In der Regie Stefan Puchers könnte es auch ein Werbeschriftzug auf einer Jahrmarkts-Schaubude sein – vielleicht, um Leute per Gruselversprechen in eine Geisterbahn zu locken.  

Tatsächlich lenkt das neueste Stück von Thomas Köck „Forecast:Ödipus“ den Blick auf Unheimliches. Es verknüpft die uralte Geschichte von Ödipus, der ohne Wissen seinen Vater meuchelt und mit seiner Mutter Kinder zeugt, mit dem gegenwärtigen Zustand der Menschheit, die wider besseres Wissen in den selbstverschuldeten Untergang taumelt. Köck, Experte für Dystopien, nennt seinen Text denn auch im Untertitel „Living on a Damaged Planet“. In Puchers Regie hatte „Forecast:Ödipus“ jetzt Uraufführung am Schauspiel Stuttgart.  

Das Drama gibt sich als Überschreibung zu erkennen, als Teil einer Trilogie mit dem griechischen Titel τύφλωσίς (tyflosis, Blindheit), einem zentralen Begriff antiker Gesellschaftskritik, der sich bis heute durchzieht – über Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ bis hin etwa zu René Polleschs „Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“ oder Julia Kristevas Essay „Powers of Horror“. Eben dieses Bedeutungsfeld von Geistesblindheit und Wahn nimmt auch Köck aufs Korn. Er transferiert den Mythos ins 21. Jahrhundert und überschreibt die zu Zeiten von König Ödipus in Theben grassierende Seuche mit modernen Übeln wie Wachstumsfixiertheit oder Klimakollaps. Der uralte Plot erhält so eine neue Dringlichkeit. 

Den Kern dieser epochenübergreifenden Reflexion über Verblendung bildet schlicht die Umerzählung des Ödipus-Stoffes – im Alltags-Sprech von heute und immer wieder angereichert mit spielerisch-flapsiger bis bitterböser Ironie. „Meine Fresse“, staunt da etwa der blinde Seher Teiresias. Zum Schweigen wird wie folgt aufgefordert: „Du hast jetzt erstmal Suppenschlitzpause!“ Und für Iokaste ist das „apokalyptische Gerede von Männern“ nichts als „Bullshit“. Durchs Stück geistern außerdem Diskursbruchstücke aus Köcks Lektüren, darunter Anna Tsings „Arts of Living on a Damaged Planet“ und Wolfgang Streecks „How Will Capitalism End?“  

Regisseur Stefan Pucher macht aus alldem wuchtiges, bilderstarkes Poptheater mit wummernden Rock- und chorischen Rap-Einlagen. Der Bühnenhimmel ist ein einziges, flammendrot waberndes, posthumanes Inferno. Von einer Redner:innen-Tribüne herab bläst manchmal eine Weltuntergangs-Posaune. Und beherrscht wird die Szenerie von einem gigantischen, abgeschlagenen Medusenhaupt, das zuweilen per Animation Tränen weint oder aus geröteten Augenhöhlen ins Publikum stiert. Die Großlettern „See for Yourself“ mischen noch Rummel-Atmosphäre bei, und riesige, sich von oben herabsenkende Teufelsklauen stiften Horrormovie-Flair. Antike Tragödie fließt auch mit ein, wenn auf hohen Kothurn-Stiefeln durch die Szene gestakst wird oder altgriechische „io“-Klagerufe ertönen.  

Entscheidend ist, dass Köck den klassischen, etwa von Sophokles fixierten Ödipus-Plot grundlegend verändert hat, indem er, beeinflusst durch Friedrich Dürrenmatts Studien, die Figur der delphischen Orakelpriesterin Pythia einführt. Katharina Hauter spielt diese Pythia giftgrün kostümiert als radikale Weissagerin, die das auf Ausbeutung der Erde beruhende System ganz abschaffen will und ihre philosophische Fundamentalkritik mit profanen buzzwords wie Umverteilung und Erhöhung der Spitzensteuersätze aufmischt. Hauters Pythia bildet so den Gegenpart zum blinden Seher Teiresias, der in Köcks Mythen-Relaunch nicht mehr so gut wegkommt: Michael Stiller entlarvt ihn als Kompromissler, als Gefälligkeitsgutachter, als Zyniker, der zwar auch das Ende erkennt, aber lieber mit den Mächtigen zusammenarbeitet. 

Während also Pythia und Teiresias noch über das richtige Handeln angesichts der untergehenden Welt streiten, beschäftigt sich Ödipus vornehmlich mit sich selbst. Ensemble-Gast Thomas Hauser gibt ihn in antik-modernem Outfit, unten griechischer Trachtenrock, oben androgyn geschminkt nebst Langhaar-Look. Wie der junge Ödipus unwissentlich seinen Vater Laios ermordet, wird bei Köck als stuttgart-bezogene Comic-Pointe erzählt – als eskalierter Vorfahrts-Streit zweier Autolenker: Ödipus, im kleinen Cinquecento unterwegs, killt dabei den arroganten, S-Klasse fahrenden Alten samt dessen Gefolge in einer Art Amokrausch. „Vom Lackschaden zum Massenmord“, lästert später Iokaste. Hauser zeigt, wie aus dem zunächst naiven Ödipus, je mehr dieser über sich erfährt, ein zusehends desorientierter Anti-Held wird, um dessen Selbsterkenntnis es angesichts drohender Globalkatastrophen nur noch am Rande geht.  

Insgesamt holt Pucher so Einiges aus dem Ensemble heraus. Therese Dörrs Iokaste, eine aufgebrezelte Glamourlady ganz in Gold, basht die antike Männerheldenriege als lachhafte „Schwanzparade“ und irrt am Ende mit heraushängenden Augäpfeln über die Szene. Fiesen Humor wiederum verströmt der „Chor der Greise“ (Teresa Annina Korfmacher, Jannik Mühlenweg, Valentin Richter): Trotz augenscheinlicher Gebrechlichkeit verwandeln sich die Drei immer wieder urplötzlich in wilde „Wohlstandswutschnaubende“, die, mit Blick auf Motown Stuttgart, zu stampfenden Rockrhythmen ihr achtspuriges Straßen-Lebensgefühl feiern – derweil im Hintergrund Game-Videos mit Autocrashs eingeblendet werden. Zum schön schrägen Bühnenpersonal zählen auch ein kraftstrotzender Kreon (Sebastian Röhrle), eine hellsichtige Botin (Josephine Köhler), eine schrille Priesterin (Celina Rongen) und eine selbstbewusste Dienerin (Marietta Meguid).  

Köcks Ödipus-Update gibt sich mit der Zusatzfigur Pythia als Mythenkorrektur zu erkennen. Phasenweise wirkt es wie eine böse Spottrede, die mittelständische Verlustängste um Aktiendepots und SUVs aufspießt: eine Publikumsbeschimpfung, prompt von diesem heftig beklatscht. Puchers Regie wiederum zeigt, wie das Ganze, trotz Köcks teils wohlfeiler und plakativer Weltanalysen, immer wieder ins Groteske kippt. Was wir sehen, ist bitterer, moralinfreier Ernst, verflüssigt mit Ironie und zugespitzt mit kräftigem Wumms, auf die Bühne gewuchtet als bilderreiches Poptheater. Endzeit-Revue, Grusel-Trash, antike Wehklage, aktuelle Wutrede, Zweifel und Hoffnung: alles dabei. Was bleibt, ist eine weitere klarsichtige Studie über einen hinlänglich bekannten gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang, sprich: über die Frage nach dem verhängnisvollen Gap zwischen menschlichem Erkennen und Handeln. 

Erschienen am 25.5.2023

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