Die von Kristin Schulz vorzüglich edierte Sammlung sämtlicher derzeit auffindbarer Gedichte Heiner Müllers lässt zweierlei fasslicher als bis dato werden: übergreifende Gemeinsamkeiten des lyrischen Werks mit dem gesamten Müller-Kosmos sowie markante Ungleichzeitigkeiten.
Aufs Ganze gesehen durchläuft der Lyriker dieselbe Entwicklung wie der Drama- tiker, der Prosaautor, der Publizist. „Das Schreibglück der fünfziger Jahre / Als man aufgehoben war im Blankvers“, von dem ein spätes Gedicht, „Ajax zum Beispiel“, berichtet, schlug sich anfänglich in schmucken Lobgesängen auf den Kommunismus und seine Überväter nieder. Dem neuen Deutschland in der DDR galt Müllers ganze Libido; den anderen deutschen Staat, den Westen, sah er als „Hure der Konzerne“, von „Gefangenen des Kapitals“ bevölkert, die ihre „kalkigen Gesichter durch den rostigen Stahl der Welt- städte“ („Der 7. November“) bugsierten. Der einzige Lyrikband, den Müller selbst zusammenstellte, spart solche Jugendsünden aus, setzt eine „SELBSTKRITIK“ an deren Stelle: „Meine Herausgeber wühlen in alten Texten / Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt Das / Habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT.“ („FERNSEHEN“)
Aufgenommen in „GEDICHTE“ (1992) hat Müller jene frühen Stücke, die erste Zweifel am Gelingen des Unternehmens Sozialismus formulierten. Würden die Arbeiter das Volkseigentum je als ihr Eigentum begreifen und sich demgemäß verhalten? Hörten...