Thema: Martin Linzer Theaterpreis
Laudatio auf das Schauspielhaus Bochum zur Verleihung des Martin Linzer Theaterpreises 2020
von Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Die Spieler – Das Schauspielhaus Bochum (06/2020)
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Akteure Schauspielhaus Bochum
Theater der Zeit vergibt jedes Jahr im Juni einen Theaterpreis. Er ist Martin Linzer gewidmet, der gemeinsam mit Herbert Ihering, als dessen Schüler er sich begriff, einer dezidiert linken Theaterkritik im 20. Jahrhundert den Weg ebnete und bis ins beginnende 21. Jahrhundert unverwechselbar ausschritt: haltungsstark, beobachtungsscharf und stilsicher. Martin Linzer, der 2014 verstarb, hinterließ eine noch heute klaffende Lücke, für uns wie für das Theater, das er liebte, ohne sich ihm aufzudrängen. Präsent ohne Attitüde, schrieb er mit intellektueller Wachheit und Noblesse seine Theaterkritiken, oft an den Hauptstraßen des Theaterbetriebs vorbei im vermeintlich Kleinen das Große entdeckend. Er tat das 57 Jahre lang für unsere Zeitschrift. So ehren wir ihn und danken ihm, indem wir uns auf seine Spur begeben. Mit Vernunft und ohne Besserwisserei, aber mit deutlichem Bezug aufs Wirkliche. Dieses zu suchen soll der Anspruch des Preises sein, den wir, gemäß dem Votum eines jährlich wechselnden Alleinjurors von Theater der Zeit, jeweils einem Ensemble oder einer freien Gruppe zuerkennen wollen, dabei einen weiten Theaterbegriff ausschreitend. //
Wer Preise vergibt, tut Urteile kund. Man möchte mitteilen, was man für außerordentlich und gelungen hält. Dass der diesjährige Martin Linzer Theaterpreis an das Schauspielhaus Bochum und sein Ensemble geht, hat Gründe. Und zwar gewichtige. Denn was unter Johan Simons an dem Haus geschieht, muss man auch im fernen Berlin zur Kenntnis nehmen. Die Berliner – noch dazu, wenn sie ins Theater gehen – denken nämlich immer, in ihrer Stadt gäbe es erstens alles und zweitens besser als anderswo. Doch dann fährt man nach Bochum ins Theater und stellt fest, dass beides nicht stimmt. Das Theater, das man in Bochum sehen kann, handelt von der tragischen oder komischen Selbstverstrickung des Menschen. Es richtet sich an alle, nicht nur an die Wohlbetuchten oder -informierten. Es beweist, dass zeitgenössisches Schauspiel sich an klassischen Texten entzünden und unsere Gegenwart beleuchten kann. Ein solches Theater wird eine Zukunft haben, weil es mit dem Publikum den künstlerischen Griff nach den Sternen wagt.
Nach einem denkwürdigen Abend wie „Iwanow“ von Simons streift man durch das nächtliche Bochum. Die Feierwütigen am Bermuda3Eck vermischen sich mit den Wodkagelagen auf dem russischen Land. In den Secondhandläden und Pfandleihgeschäften um den Hauptbahnhof hallen die Klagen über die Schulden im Stück wider. Es ist, als hätte Anton Tschechow das Bochum unserer Tage gekannt. Oder überhaupt unsere Zeit. Die großen Erzählungen des Theaters fassen viel Wirklichkeit. Der von Jens Harzer verkörperte Iwanow ist ein kluger, aber verzweifelter Mensch. In seinem zerfallenden goldenen Käfig erleidet er einen Widerspruch, an dem er letztlich zugrunde gehen muss. Er sieht den Mangel, die Haltlosigkeit und den Abgrund, die sich im Zentrum der Gesellschaft auftun. Und zugleich findet er keinen Weg heraus. Diese Darstellung bleibt wie der gesamte Abend über lange Zeit im Gedächtnis, und vielleicht wird man sie nie vergessen. Das ist die Hoffnung einer flüchtigen Kunstform wie Theater.
Was zeichnet unsere Epoche aus? Die Selbstabschaffung des Menschen durch seine Tätigkeit – wie es Tom Schneiders „Die Hydra“ nach Heiner Müller zeigt. Die Arbeiten des Herakles verschränken sich mit der entbehrungsreichen Schufterei im Ruhrgebiet, deren Andenken man im Deutschen Bergbaumuseum in Bochum bestaunen kann. Was aber kommt nach der Arbeit? In dieser Gesellschaft ist es nicht die Freiheit, lautet Müllers realistischer Befund, sondern die Zerstörung. So verschwindet Sandra Hüller hinter Plastikfolie wie das Soziale in der Quarantäne. In der kybernetischen Moderne, in der permanentes Just-in-time- Feedback an die Stelle einer geschichtlichen und sittlichen Vision getreten ist, wagt das Theater den Blick auf den größeren Zusammenhang: Arbeit am Krisenbewusstsein des Menschen in einer verkehrten Welt.
Jens Harzer und Sandra Hüller gehören zu den beeindruckendsten Schauspielern, die man zurzeit im Theater erleben kann. Sie hervorzuheben soll nicht schmälern, wie großartig das gesamte Bochumer Ensemble ist. Wie muss das Schauspiel beschaffen sein, das fasziniert, die Aufmerksamkeit fesselt und Leidenschaften sowie Vernunft weckt? Das offene Geheimnis, wie es Peter Brook einmal nannte, besteht in der dreifachen Beziehung des Schauspielers – zum eigenen Ich, zu dem Anderen und zum Publikum. Und dazwischen muss jeder Schauspieler wie ein Seiltänzer um die Balance ringen. Wenn man wie mit angehaltenem Atem einem Abend wie „Iwanow“ folgt, der immerhin nicht weniger als viereinhalb Stunden dauert, dann wohnt man einem solchen Balanceakt bei. Der euphorische Schlussapplaus tut die Erleichterung kund, dass alle Seiltänzer nach ihren Höhenflügen wieder wohlbehalten auf dem Boden gelandet sind.
Schauspiel kann das Leben zeigen, und zwar in der verdichteten Form und mit all seinen untergründigen Spannungen. Aus dem Wust des Mannigfaltigen gewinnt das Theater das Exemplarische und spiegelt diese Erfahrung gleichsam als Konzentrat wider. Nicht umsonst ist die Bedeutung von Iwanow im Russischen die des Jedermann. Es geht um uns als gesellschaftliche und politische Wesen. Wir blicken in den Spiegel des Theaters. Er verstärkt das Erstaunen darüber, wie wir leben. Vielleicht verstärkt er auch die Hoffnung, dass es nicht für immer so bleiben muss. Und so beginnen wir, uns zu begreifen. Das geschieht überall dort, wo man sich mit heiterem Ernst und aufrichtiger Hingabe der Kunst widmet. Wie in Bochum. Dafür gibt es in diesem Jahr den Martin Linzer Theaterpreis. Herzliche Gratulation! //