Auftritt
Baden-Baden: Wir haben noch Briefmarken geleckt!
Theater Baden-Baden: „Vania und Sonia und Mascha und Spike“ (EEA) von Christopher Durang. Regie Stefan Huber, Ausstattung Andrea Wagner
Erschienen in: Theater der Zeit: Die Menschenbaustelle – Bühnenexperimente am Bauhaus Dessau (02/2014)
Assoziationen: Theater Baden-Baden
Findet Boulevardtheater noch immer in einem Paralleluniversum statt – meist fern öffentlich finanzierter Häuser? Nein, die Grenzen sind fließend geworden. Das Theater Baden-Baden mit Intendantin Nicola May erprobt immer wieder aktuelle Boulevardtexte, derzeit ein Stück des preisgekrönten Broadwaydramatikers Christopher Durang, der mit schrägen, dunklen Psychologiekomödien wie „Trotz aller Therapie“ hier gern in die Woody- Allen-Schublade gesteckt wird: „Vania und Sonia und Mascha und Spike“, uraufgeführt 2012 am McCarter Theatre in Princeton, gibt sich im Titel als upgedateter Tschechow-Remix zu erkennen und gewann 2013 den begehrten Tony Award.
Die Frage ist: Wie geht so etwas diesseits des Atlantiks? Die Europäische Erstaufführung (EEA) am Theater Baden-Baden inszenierte der Schweizer Stefan Huber, von Haus aus Musicalspezialist. Er entwickelt das komische Potenzial des Stücks eher beiläufig, locker, lässig, ohne Schrillheiten. Sonia und Vania, zwei schon in den Fünfzigern angelangte Nachkommen eines Professorenhaushalts, führen ein ereignisloses Dasein im ererbten Gut der Eltern. Dass sie sich schon beim Morgenkaffee zanken, lässt tief in ihr ungelebtes Leben blicken. Selbst als Sonia die volle Tasse an die Wand deppert („Ich hasse das Leben!“), hält Huber den Ball angenehm flach. Nein, allzu exaltiert agiert hier niemand, hier wird eher Tschechow-like geplaudert, gesehnt und gekabbelt. Manchmal auch bitterböse, klar. Was in Baden-Baden ganz unforciert und selbstverständlich daherkommt, ist nichts anderes als eine Kreuzung aus amerikanischer Sitcom und russischem Seelendrama.
Denn die namentlich gesampelten russischen Landadligen (aus den populärsten Tschechow-Dramen) sind bei Durang zu heutigen Amerikanern in einem Landhaus mutiert, zu Nachkommen eines aussterbenden Bildungsbürgertums in Bucks County (Pennsylvania). Man unterhält sich im sarkastischflapsigen Broadwayslang. Und vom literarischen Erbe ist nur ein einziges schmales Bücherbord übrig geblieben, das in schwindelnder Höhe hängt. Unerreichbar.
Schon skurril: An die äußerst temperamentvollen Vorhersagen ihrer Haushälterin Kassandra (Agnes Lampkin): „Hüte dich vor den Iden des März!“, auch modern variiert als „Hüte dich vor Hootie Pie!“, scheinen sich Sonia und Vania bereits gewöhnt zu haben. Ebenso an die Auftritte ihrer einschwebenden Schwester Mascha, einer mäßig gefragten, sich mit Schmuddelfilmen wie „Sexy Killers“ durchschlagenden Schauspielerin, die aber das Geld für den Unterhalt ihrer Geschwister anschafft – eine starke Rolle für Birgit Bücker (bei der UA war’s Sigourney Weaver): Ihre Mascha strahlt verblichenen Glamour wie zupackende Lebensweisheit aus und erträgt es tapfer, dass ihr neuester, blutjunger, etwas dämlicher Lover Spike sich bereits anders orientiert – mit einer dauereuphorischen Jungaktrice namens Nina. Stellvertretend für das angenehm unspektakulär und hintergründig agierende Ensemble sei noch Catharina Kottmeier erwähnt, deren Heulsuse Sonia mehr und mehr aufblüht. Und Berth Wesselmann, dessen Vania viel lässigen, krisengestählten Witz verströmt. Auch die psychologisch fein gestrickte Übersetzung von Anna Opel und Nicola Mays behutsame Dramaturgie wirken gut zusammen (und unterließen es gottlob, die vielen US-sozialisationsbedingten Anspielungen ins „Europäische“ zu übertragen).
Durangs Stück macht zeitkritische Themen wie Bildungs- und Erinnerungsverlust mit schnoddrigem Softsarkasmus leichtgängiger, stopft aber alles Mögliche noch mit rein: Generationenkonflikt, Alzheimer, Film- und Theaterhistorie, Zivilisationsverfall, indigene Kulte, antike Tragödie, Endzeitvisionen – ein All-inclusive- Text, der ein bisschen patchworkartig wirkt. Dass Vania auch noch sein postapokalyptisches Theaterstück rezitieren lässt (eine Parallele zu Tschechows Treplew in „Die Möwe“) kommt arg auch-noch-draufgepappt daher. Hubers Regie lässt es eher laufen, das Zeitkritische geht so zuweilen im Boulevardtalk unter. Nur nicht die harte Diskrepanz zwischen dem handyabhängigen Spike und dem zeitgeistresistenten Vania: Der redet sich kraftvoll die alten, E-Mail-losen Zeiten schön und donnert ein empörtes „Wir haben noch Briefmarken geleckt!“ in den Raum. Gibt es einen Weg aus der Misere? Ja, und den weist die afroamerikanische Haushälterin Kassandra, indem sie Mascha per Voodoopuppenzauber in die richtige Richtung lenkt, die, so viel sei verraten, anders aussieht als bei Tschechow. Die Lösung für russische und amerikanische Zivilisationsdämmerungen, auch so könnte man Durangs Subtext deuten, kommt also aus Afrika ... //