Gespräch
Was macht das Theater, Thorsten Merten?
von Gunnar Decker und Thorsten Merten
Erschienen in: Theater der Zeit: Glanz und Elend – Shenja Lacher und das Ensemble-Netzwerk über die Zustände am Stadttheater (10/2016)
Assoziationen: Akteure Dossier: Bühne & Film
Thorsten Merten, vor 25 Jahren drehten Sie Ihren ersten Film mit Andreas Dresen, seinen Debüt-Film „Stilles Land“. Darin geht es um ein Provinztheater, in dem man ohne Mühe das Theater Anklam erkennt, wo Sie als Jungregisseur Becketts „Warten auf Godot“ inszenieren wollen. Doch dann platzt die Wende mitsamt Maueröffnung dazwischen.
Ich habe 1990 an der Ernst-Busch-Schule mein Schauspielstudium beendet, das war das erste Mal, dass wir beim Intendantenvorsprechen vor leeren Rängen spielten, weil keine Intendanten kamen. Dann ging ich nach Schwerin, wo Christoph Schroth gerade dabei war, nach Berlin zu wechseln. Im ersten Nachwendejahr spielten wir immer nur vor einer Handvoll Zuschauer, die Leute hatten andere Dinge im Kopf. Eine schlechte Zeit für die Kunst, für jede Form von Nachdenklichkeit überhaupt. Und da kam Andreas Dresen und bot mir die Rolle an.
Woher wusste er von Ihnen?
Dresen hatte ja enge familiäre Verbindungen nach Schwerin und da sagte ihm Schroth quasi im Weggehen, schau dir den doch mal an! Das hat er dann auch getan und gab mir – ohne Filmerfahrung – die Hauptrolle. Und ich Idiot hab die dann total verhampelt!
Finden Sie? Es fällt schon auf, dass es ein junger Regisseur voll innerer Unruhe ist, aber ich habe mir diese Überaktivität mit seiner Ungeduld erklärt. Da ist eine Unschuld im Spiel, die immer noch berührt.
Ich habe Andreas Dresen dann später auch gefragt, warum er mich besetzt hat und er antwortete, weil er davon fasziniert gewesen sei, wie ich glühe. Aber ich hatte an dem Tag bloß Fieber. Doch im Ernst, ich hatte noch bis Ende der neunziger Jahre so einen kleinen Fernseher, wo man fast nichts drauf sah. Als ich mich das erste Mal auf einem großen Bildschirm gesehen habe, bekam ich einen Schreck: Man sah ja alles so überdeutlich, auch dass ich viel zu viel machte. Ich spielte quasi in meinen ersten Filmen für den dritten Rang.
Jetzt stapeln Sie aber tief! Ich finde gerade „Stilles Land“ zeigt auf eine unaufdringliche Weise den Übergang von einem zum anderen Gesellschaftssystem, das Aufeinanderprallen von Mentalitäten, auch das mehr oder weniger schnelle Anpassen der Einzelnen an die neuen Verhältnisse.
Na ja, ich habe dann ja später an der Volksbühne auch mit Frank Castorf gearbeitet und öfter gedacht, was soll der denken, wenn er den Film sieht! Denn jenes Anklam, das wir als so verschlafen zeigten, war ja die Stadt, wo er seine heißeste Zeit hatte!
Es ist doch eine Metapher für die Biermannverse „Das Land ist still“ – und dann folgt nach einer langen Pause der Aufschrei „noch!“. Nur war es nach so langem Schweigen wohl nicht verwunderlich, dass das, was jetzt laut wurde, nicht immer vernünftig war und dass die, die am lautesten schrien, vielleicht am wenigsten Anlass dafür hatten. Das sind ja auch Erfahrungen, die unsere Generation prägten: Wer ging unter, wer kam hoch? Nicht immer die Richtigen.
Es gibt immer eine Sehnsucht nach Unschuld. Und die hat etwas mit dem Anfangen zu tun. Als Studenten spielten wir „Die geliebte Dornrose“, ein Text von Andreas Gryphius, dem Barockdichter, in einer Spielfassung von Peter Dehler. Da geht es auf sehr einfache Weise um die Liebe zwischen Kornblume und Dornrose. Damit gingen wir in der Endzeit-DDR auf eigene Faust auf Tournee, auch nach Sibirien, an die Erdgas-Trasse BAM (Baikal Amur Magistrale), ein FDJ-Projekt. Lauter handfeste Kerle bevölkerten diese Baustellen. Das war für uns junge Schauspieler der Härtetest, denn die wussten natürlich nichts vom Theater. Am Anfang brüllten sie immer „Ausziehn, Ausziehn!“, aber dann ließen sie sich doch einfangen. Einmal schrie jemand sogar „Stopp, ich geh jetzt mal pinkeln, und wenn ihr nicht solange wartet, hau ich euch aufs Maul!“. Also haben wir gewartet, bis er wieder da. Das waren keine leeren Drohungen, vor uns war ein Schlangenbeschwörer da, dem haben sie die Schlange abgestochen, weil sie sich so gelangweilt haben. Also eine gefährliche Situation vor Publikum, wo es entweder ganz großartig wird, oder ganz furchtbar. In den letzten Jahren habe ich nur noch als Gast am Theater gearbeitet. Früher war es die „Theaterfamilie“, die mir wichtig war, während ich mich beim Filmdreh eher einsam fühlte. Jetzt kenne ich viele Leute beim Film und freue mich drauf, mit ihnen zu arbeiten. Nun sind es die Theater, die mir fremder geworden sind.
Aber „Halbe Treppe“ von 2001 war doch noch mal so ein glücklicher Verwandlungsmoment, eine Art Synthese aus Film und Theater?
Ich saß zu der Zeit in Schwerin und war – es klingt idiotisch – völlig frustriert, weil ich eine Hauptrolle nach der anderen spielen musste, aber keine Freude mehr an solcherart Routine hatte. Und dann dieses Experiment! Ein Film ganz ohne Drehbuch und feste Regeln. Plötzlich war das Theater nicht mehr das, was man vergessen musste, wenn man vor der Kamera stand, sondern wir vier Schauspieler konnten aus dem Stand heraus Szenen entwickeln. Ohne Bühnenerfahrung wäre das so nicht gelungen. //
Die Fragen stellte Gunnar Decker