Auftritt
Staatsschauspiel Dresden: Nebeltraumvisionen
„Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill – Regie und Bühne Sebastian Hartmann, Kostüme Adriana Braga Peretzki, Choreografie Rônni Maciel, Musik Samuel Wiese
von Thomas Irmer
Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Sebastian Hartmann Staatsschauspiel Dresden
Eugene O’Neills Künstler- und Familienzerfallsdrama, das er kurz vor der siechen Schlussphase seines Lebens in autobiografischer Selbstverständigung schrieb, ist für Sebastian Hartmann denkbar geeignet. Alte Kunst gegen neue Ideen, Schuld ohne Sühne, Rausch und Rage, alles in einem einsamen Haus, das an der Küste Neuenglands im Nebel aus der Wirklichkeit verschwinden könnte.
Hartmanns von ihm selbst gestaltete Bühne ist leer bis auf ein Möbelstück, das jeweils zur Szene passend als Sessel oder Couch hereingebracht wird, und eine Art Dach über der Leere. Zuhause ist hier trotzdem niemand, hinten sitzt am Flügel und mit elektronischem Gerät Samuel Wiese und lässt dunkle Mollakkorde zu dem immer wieder einströmenden Bühnennebel hereinwehen.
Die bedeutungsvollste Hinzuerfindung dieser Inszenierung ist die ständige Präsenz eines dritten Sohns in der Familie Tyrone, der schon als Kind verstorbene Eugene, den sein Bruder Jamie mit den Masern infizierte – ein tiefer Grund für die Selbstzerfleischung der Tyrones. Der aus Brasilien stammende Tänzer Rônni Maciel verkörpert diesen Eugene als eine Art Geist um die anderen herum und spricht in einigen Momenten Portugiesisch auf diese ein. Insbesondere zur Mutter Mary, die Cordelia Wege eben nicht wie in anderen Inszenierungen als im Rückfall zusammensinkende Morphinistin gestaltet, sondern als Mann und Söhnen gegenüber ziemlich resolut.
Torsten Ranft freilich ist als James Tyrone der ausgebrannte Großschauspieler, der wie O’Neills Vater den Grafen von Monte Cristo als Tourneestar ein paar Tausend Mal bis zur völligen Routineerstarrung spielte. Sozusagen das Feindbild kreativen Theaters für die hier von Simon Werdelis und Marin Blülle besonders sensibel gespielten Söhne Jamie und Edmund.
Hartmann übersetzt die Familienkonflikte um den Vater in ein traumhaft pantomimisch bewegtes Bild, in dem der alte Tyrone alle nacheinander von sich wegstößt, diese aber schon von ganz allein vor ihm fliehen oder zu Boden gehen. Das Stück leidet ohnehin an seinem für die heutige Bühnenpraxis allzu ausformulierten Text für eine vergleichsweise schnell erfassbare Figurenkonstellation und ihre Thematik. 2009 inszenierte Hartmann während seiner Intendanz am Leipziger Centraltheater das Stück schon einmal und entdeckte darin damals so etwas wie ein Leiden an schwindender Glaubensfähigkeit – er ließ den alten Tyrone auf groteske Weise auf den toten Gott im Himmel schießen. Nun, mit einer ganz anderen Sicht, lenkt er die Deutung dieser Theaterfamilie auf einen abschließenden Diskurs über Geschichte und Funktion des Theaters, den Marin Blülle wie einen fiebernden Vortrag ans Publikum bringt und der in etwa das visioniert, was man in den drei Stunden davor schon erlebt hat: statt des Theaters des psychologischen Realismus, dem das Stück entstammt, ein ritueller Surrealismus, der uns der Wahrheit des Lebens näher bringt als das Theater im Dienst pädagogischer Aufklärung. Tatsächlich war aus dem Dach über der Bühne ein Segel für ein Boot geworden, und aus dem Haus der Tyrones eine Fahrt ins Ungewisse. Als Bild von Hartmanns Theaterauffassung, zu der übrigens für diese Inszenierung gehört, dass jede einzelne Aufführung mit anderen Akzenten in anders angelegten Szenen gespielt werden wird. Das konnte man zur Premiere freilich noch nicht beurteilen.
Erschienen am 3.12.2024