Theater der Zeit

Auftritt

Theater Bonn: Empowermentshow mit Rhythm’n’Blues

„Hairspray“ von Marc Shaiman, Buch von Mark O’Donnell und Thomas Meehan nach dem Film von John Waters – Musikalische Leitung Jürgen Grimm, Regie Erik Petersen, Bühne und Kostüme Dirk Hofacker

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Musiktheater Theater Bonn

Antonia Tröstl, Fin Holzwart und das Ensemble von „Hairspray“ am Theater Bonn. Foto Bettina Stöß
Antonia Tröstl, Fin Holzwart und das Ensemble von „Hairspray“ am Theater BonnFoto: Bettina Stöß

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Eigentlich möchte Tracy bloß ins Fernsehen. Genauer gesagt in die „Corny Collins Show“, die sie wie ihre Teenager-Freundinnen 1962 in Baltimore immer sehen. Und alle träumen von Link Larkin, dem gutaussehenden Jungen, der durch diese Show als neuer Elvis aufgebaut werden soll. Und wahrhaftig wird eine Stelle frei. Eine der Sängerinnen ist schwanger und muss pausieren. Es gibt ein Vortanzen. Aber Tracy hat ein Problem. Sie entspricht nicht dem Schönheitsideal. Sie ist zu dick.

Der Film „Hairspray“ war 1988 der erste ökonomische Erfolg des Regisseurs John Waters. Zuvor hatte er sich mit heftigen, witzigen und provokanten Filmen wie „Pink Flamingo“ die Bezeichnung „Papst des Trashs“ verdient. Auch in „Hairspray“ nimmt Waters Partei für Minderheiten und Menschen mit Macken. Aber ohne dass jemand – wie Hauptdarsteller Divine in „Pink Flamingo“ – warmen Hundekot in den Mund nimmt oder ein Anus singt. Der „Hairspray“-Humor ist zwar weiterhin politisch unkorrekt, doch nicht ganz so provokant. Marc Shaiman komponierte daraus ein enorm erfolgreiches Musical, das dann wiederum auch verfilmt wurde, unter anderem mit John Travolta als Tracys voluminöser Mutter.

Mit rasanten Rhythm’n’Blues-Nummern und ein paar leicht ironisierten Balladen reißt das Musical auch das Publikum im Bonner Opernhaus mit. Ausstatter Dirk Hofacker hat eine typisch amerikanische Shoppingmall auf die Bühne gestellt, quietschbunt, es könnte auch ein überdimensionales Einkaufszentrum von Playmobil sein. Antonia Trötsl spielt Tracy zunächst voll naivem Mut, sie lässt sich von Zurückweisungen nicht so schnell abschrecken. So etwas ist sie gewohnt. Doch als sie es wahrhaftig schafft, ins Ensemble der Fernsehshow zu gelangen, merkt sie, dass das zu wenig ist. Ausschließlich Weiße dürfen mitmachen, das findet sie ungerecht. Nur einmal in der Woche gibt es einen sogenannten „Negroe’s Day“, an dem Schwarze singen und tanzen dürfen. Tracy verbündet sich mit ihnen und gemeinsam beginnt ein Kampf für die Gleichberechtigung von Dicken, Schwarzen, dicken Schwarzen und allen anderen, die nicht der Norm der bürgerlichen Gesellschaft entsprechen.

Aktualisierungen braucht es nicht, die kann sich jeder denken. Schilder mit dem Namen von Rosa Parks werden geschwenkt, der Schwarzen amerikanischen Bürgerrechtlerin, die sich 1955 weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast freizumachen. Die Lösung im Stück scheint einfach. Wenn alle zusammenhalten, dann klappt es mit der Abschaffung rassistischer Grenzen. Natürlich ist das naiv, und wir sind heute immer noch weit entfernt von diesem Ideal. Aber es macht unfassbar Spaß, davon zu träumen, dass es klappen kann. Wenn der Traum so witzig und temperamentvoll erzählt wird, wie es Regisseur Kai Eriksen in Bonn tut.

Ein Höhepunkt ist das Liebesduett von Tracys Mutter mit ihrem Lebensgefährten, einem Erfinder von Scherzartikeln. Enrico De Pieri (die Mutter ist traditionell eine Männerrolle) und Mark Weigel tanzen sich in einen Rausch hinein. Sie schweben wie Fred Astaire und Ginger Rogers, berühren sich, lachen, setzen – „einen hab ich noch“ – weitere Pointen und Liebeserklärungen. Sie schwitzen, man hört sie keuchen, ihre kurzen Zwischendialoge wirken improvisiert. Und gerade weil ihre Nummer bewusst nicht perfekt ist, entsteht hier der Zauber des Musicals. Das Publikum schreit vor Begeisterung, weil man die beiden richtig lieb hat.

Die Rolle der Motormouth Maybelle, die sich schon lange für die Rechte der Schwarzen einsetzt, hat Yannick-Muriel Noah übernommen, eine Sopranistin aus dem Opernensemble. Es ist großartig, wie sie ihr Fach wechselt, den Blues und den Jazz in der Stimme trägt und nur einmal, ganz am Schluss eines wuchtigen Songs ihre Opernstimme einsetzt. So entsteht ein besonders kraftvoller und strahlender Moment.

Klar, auch das „Haispray“-Musical ist Entertainment, vielleicht sogar Eskapismus. Aber es benennt Probleme, die alles andere als verschwunden sind, bevor es eine Welt der Harmonie entwirft, in der am Ende auch die Fiesen mitsingen und mittanzen dürfen. Sie tun einfach gut, diese zweieinhalb Stunden Rhythm’n’Blues, mit viel Gefühl, Ironie und bissigem Humor, hinter dem die Menschlichkeit nie verschwindet.

Erschienen am 21.10.2024

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