Auftritt
Uckermärkische Bühnen Schwedt: Wir haben einen Geist gesucht
„Every Heart is Built Around a Memory“ von Markolf Naujoks – Game Theatre von Samia Chancrin, Sarah Methner, Markus Schubert und Georg Werner
Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken Uckermärkische Bühnen Schwedt
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Am Eingang zur Probebühne der Uckermärkischen Bühnen Schwedt werden Würfel verteilt. Die quadratischen Leuchtkörper dienen als Begleiter eines Spiels, in das die Zuschauer:innen beim Betreten des Saals einchecken. Ein grünes Licht erscheint und signalisiert, dass wir ab jetzt Teil des Game Theatres sind. Doch bevor die Bühne ihre Pforten für eine interaktive Variante von Markolf Naujoks „Every Heart is built around a memory“ öffnet und das Publikum sich aufgefordert sieht, an dem Spiel teilzunehmen, verorten Carla (Antonia Schwingel) und Nina (Katarzyna Kluczna) das Publikum zunächst in einer Geschichte: Sie erzählen von ihrer Schwester Marie, die sich vor ihrem Tod eine „eigene Welt hinter der Welt“ erbaut hat. Einen Zufluchtsort, in den Marie immigriert ist, weil sich ihr analoges Leben wie eine Kulisse angefühlte hat: „fein säuberlich gefaltet auf einen winzigen Mikrochip“. Zwölf Anschlüsse hatte Marie sich gelegt, um gänzlich als „Kaiserin Marie“ in ihre immersive Überlebensstrategie zu verschwinden. Nina und Carla treffen eine Entscheidung: Sie möchten in das Spiel ihrer kleinen Schwester eintauchen und Marie suchen – oder das, was von ihr übrig geblieben ist.
An dieser Stelle der Geschichte leuchten die Würfel der Zuschauer:innen in verschieden Farben auf: blau, grün, rot und weiß. Vier Gruppen, in denen sich das Publikum fortan durch das Bühnenbild bewegt und an verschiedenen Levels teilnimmt. In Anbetracht der Geschichte, in die Carla und Nina das Spiel ihrer Schwester vorab gebettet haben, erscheint dieser Übergang allerdings irritierend reibungslos. Dabei gibt es doch so viele offene Fragen: Worauf lassen wir uns hier ein? Wollen wir dieses Spiel überhaupt mitspielen? Denn würden wir kurz gemeinsam innehalten und auf das zurückschauen, was wir bislang über Marie und das Spiel erfahren haben, erscheinen die Antworten auf diese Fragen keineswegs eindeutig: Wenige Minuten zuvor war im Prolog die Rede von einem Code, der den Geist von Marie Schritt für Schritt kopiert, ihre Identität eingenommen und das Original gelöscht hat. An diesen Umstand schließt sich erneut eine Reihe Fragen an, die in der Inszenierung nicht konkret werden: Was lässt sich jetzt überhaupt noch in der digitalen Welt finden? Was ist von Marie übrig? Wer macht hier die Spielregeln? Und lag oder liegt die Verantwortung nicht eigentlich ganz woanders?
Zu Beginn ist der Spielstand bei null Prozent. Ziel des Spiels ist es also, diesen Prozentsatz in den verschiedenen Runden zu erhöhen. 100 Prozent würden ein Wiedersehen mit der verstorbenen Schwester versprechen – oder mit dem, was im Digitalen von Marie erhalten geblieben ist? Von Level zu Level gilt es, den Geschichten über Maries Leben möglichst aufmerksam zu folgen und die Regeln schnell zu erfassen und umzusetzen. So beispielsweise im Rahmen des blauen Levels: In einer schnellen „This or That“-Fragerunde sprechen die Teilnehmer:innen ihre Antworten parallel in Headsets, um Maries Persönlichkeit näher zu kommen. Aber geht das so überhaupt? Oder werden wir mit diesem binären Spielaufbau in die Irre geführt?
Während Marie noch in weiter Ferne scheint, entstehen hin und wieder kurze Momente des Miteinanders zwischen den Teilnehmer:innen: Um das grüne Level zu bestehen, ist das Publikum aufgefordert, kleine Menschenketten zu bilden, um die in unterschiedlichen Konstellationen aufleuchtenden und von der Decke hängenden Seilenden miteinander zu verbinden. Die Zuschauer:innen des Jugendstücks nehmen sich – mal schüchtern, mal entschlossen – an die Hände; manchmal wird gelacht oder ein Witz gemacht. Vielleicht ist es das, was Marie gefehlt hat – das Miteinander.
Am Ende der vier Runden erscheint eine Meldung auf den Leuchtwürfeln: „Der Spielstand beträgt null Prozent!“ Plötzlich tut sich ein kritischer Raum zwischen Teilnehmer:innen auf: „Sollen wir das jetzt etwa nochmal machen?“, fragt eine Schüler:innen ihre Freundin. Eine gute Frage. Können wir Marie überhaupt finden? Als das Publikum sich zum Ende der Inszenierung erneut auf den Sitzen einfindet, nimmt die Geschichte nochmals eine Wendung: Wir erfahren, dass Carla und Nina Teil des Spiels sind. Marie hat sie vor ihrem Tod programmiert, um im Kampf gegen die dunklen Gedanken zwei vertraute Partnerinnen an ihrer Seite zu haben. Möglicherweise war also die Einsamkeit, die Marie in ihrem analogen Leben begleitet hatte, noch viel größer, als wir dachten. Und unsere Partizipation in diesem Spiel ist vielleicht nichts anderes als die Sehnsucht, die sich in Maries echten Leben nie erfüllt hat.
Die Entscheidung, dieses Stück interaktiv zu gestalten, ist spannend. Doch ohne ausreichend dramaturgische Schärfe birgt sie die Gefahr, die kritische Distanz zu den Figuren und der Handlung zu verwaschen. Dass den Zuschauer:innen beim Auschecken der Würfel ein Kassenbeleg ausgedruckt wird, verleiht dem Verlassen des Saals einen bitteren Beigeschmack: Wir haben einen Geist gesucht. Aber Leben retten – das kann man nur, wenn es noch nicht zu spät ist.
Erschienen am 4.3.2025