Theater der Zeit

V Bernd Alois Zimmermann

Stimmen im Lärm der Zeit

Peter Konwitschnys Theaterarbeit mit B. A. Zimmermanns Oper Die Soldaten

von Günther Heeg

Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)

Assoziationen: Musiktheater

Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten, Oper Nürnberg 2018. Inszenierung Peter Konwitschny, Bühne und Kostüme Helmut Brade. Marie schreibt einen Brief an die Mutter ihres Verlobten. Marie: Susanne Elmark, Charlotte: Solgerd Isalv. Foto: Ludwig Olah.
Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten, Oper Nürnberg 2018. Inszenierung Peter Konwitschny, Bühne und Kostüme Helmut Brade. Marie schreibt einen Brief an die Mutter ihres Verlobten. Marie: Susanne Elmark, Charlotte: Solgerd Isalv. Foto: Ludwig Olah

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1. Ein apokalyptisches Totaltheater?

Hartnäckig hält sich das Gerücht über Zimmermanns Soldaten, das sie als Paradebeispiel eines avantgardistischen Totaltheaters ausgibt. In den Soldaten sei der lineare Verlauf der Zeit aufgehoben und die Zuschauer:innen stattdessen dem Kugelblitzgewitter aus einer »Kugelgestalt der Zeit«2 ausgesetzt, das sie von allen Seiten und mit allen medialen Mitteln umzingelt und angreift. Als inhaltliche Konsequenz der formalen Strukturen resultiere dann Geschichte des Untergangs der menschlichen Gattung, die in ihrer totalen Gestalt jede konkrete Handlung verschwinden lässt. So, als »Weltuntergangstheater« und »apokalyptisches Multimediadrama«3, stellt sich ein Rezensent seinen Zimmermann vor, den er anlässlich der Nürnberger Inszenierung schmerzlich vermisst.

Zieht man die Bewertung ab, dann ist das nicht falsch gesehen. Denn die Nürnberger Inszenierung von Peter Konwitschny (Regie), Helmut Brade (Bühne und Kostüme), Kai Weßler (Dramaturgie) und Marcus Bosch (musikalische Leitung) unternimmt nichts weniger, als Zimmermanns Oper von dem Gerücht zu befreien, das sie umgibt. Kein Verlust ist damit verbunden, sondern eine Neuentdeckung der Soldaten, die dem Werk und der Entfaltung seines »Zeitkerns«4 in der Gegenwart gerecht wird.

Zimmermann selbst hat mit seinen Äußerungen über Die Soldaten der Idee eines apokalyptischen Totaltheaters durchaus Nahrung gegeben. Nicht zufällig hat er Jakob Michael Reinhold Lenz’ 1776 verfasstes Stück Die Soldaten, das Lenz selbst eine Komödie nennt, als Vorlage seiner Oper gewählt. Eine Affinität zwischen ihm und Lenz sieht Zimmermann nämlich gerade in der Auffassung und Behandlung der Zeit. In Lenz’ Angriff auf die »jämmerlich berühmte[.] Bulle der drei Einheiten«5 (des Orts, der Handlung und der Zeit) sieht Zimmermann einen geistesverwandten Vorgriff auf die »Kugelgestalt der Zeit«. In seinen tastenden Präzisierungsversuchen dieser Metapher beruft er sich außerdem auf James Joyce und Ezra Pound. Zimmermanns Überlegungen zur Gleichzeitigkeit aller Zeiten haben allerdings weniger in der Oper als Ganzes, sondern dann vor allem im 4. Akt der Soldaten und hier besonders in dessen erster Szene ihren Niederschlag gefunden. Ihnen gilt Zimmermanns Rede von der

panakustischen Form der musikalischen Szene, die alle Elemente des Sprachlichen, Gesanglichen, Musikalischen, Bildnerischen, Filme, Ballett, Pantomime, Bandmontagen (Geräusch und Sprachklänge, konkrete Musik) in dem pluralistischen Zeit- und Erlebnisstrom zusammenschmilzt [Hervorhebung – G. H.], der dann in jenen Fall [der Apokalypse – G. H.] mündet, dem wir ständig und unaufhaltsam zustreben.6

Das entspricht der Vorstellung eines Totaltheaters, wie immer auch Zimmermann mit dem Begriff umgegangen ist.

Die Idee eines Totaltheaters ist ein Kind der ersten Avantgarde. 1926/27 entwirft Walter Gropius ein Totaltheater für Erwin Piscator. Es geht zurück auf László Moholy-Nagys Ausführungen zu einem »Theater der Totalität« in dem Text Theater, Zirkus, Varieté7 von 1924. Paul Pörtner publizierte Ausschnitte aus dem Text von Moholy-Nagy 1960 unter dem Titel Das Theater der Totalität in seiner Zusammenstellung der Theaterexperimente der ersten Avantgarde in dem Band Experiment Theater8. Von daher könnte ihn Zimmermann gekannt haben.

Man kann die Idee des Totaltheaters als eine multimediale Steigerungs- und Überbietungsform der Idee des Gesamtkunstwerks sehen. Um diese Idee einschätzen zu können, ist an eine Unterscheidung zu erinnern. Die unterschiedlichen Formen des Zusammenwirkens der Künste und Medien in einem Gesamtkunstwerk lassen sich, etwas vereinfacht, in zwei Gruppen einteilen: eine, die auf die Differenz der Künste setzt, auf die Sichtbarmachung des Schnitts zwischen ihnen, auf Abstand und wechselseitige Verweisung sowie auf die Ausstellung ihrer Medialität, und eine zweite Gruppe, die auf die vollkommene Integration aller einzelnen Künste und Medien und auf ihre Verschmelzung zielt. Multimediaprojekte und die Vorstellung eines multimedialen Totaltheaters gehören der zweiten Gruppe an, weil sie auf Steigerung, Überbietung und Überwältigung quaVerschmelzung angelegt sind. Zur ersten Gruppe gehören so unterschiedliche Autoren wie Wassily Kandinsky, Antonin Artaud, Brecht, Benjamin und Gilles Deleuze. Deleuzes Hauptwerk Differenz und Wiederholungentfaltet die Idee einer differenten und differenzierenden, gleichzeitig-ungleichzeitigen Raum-Zeit aller Zeiten, Räume, Künste und Medien nur drei Jahre nach der Premiere von Die Soldaten.

Problematisch an Zimmermanns Vorstellungen eines Totaltheaters ist selbstverständlich nicht die avantgardistische Außerkraftsetzung traditionell linearer Narrative und konventioneller dramatischer Strukturen, auch nicht die transmediale Konstellierung, sondern die Entdifferenzierung der einzelnen Künste, Räume und Zeiten, die mit der Idee eines Totaltheaters einhergeht. Dessen Zweck ist nicht ästhetische Erfahrung, die sich über eine intensive Konstellation aus Differenz und Affinität, Distanz und Nähe der Einzelkünste, Räume und Zeiten herstellt, sondern ästhetische Überwältigung, die, wie es in der Vorstellung des von Zimmermann propagierten Zusammenschmelzens angelegt ist, auf die Immersion der Apokalypse zielt.

Die gewaltsame Entdifferenzierung der Wahrnehmung in der Vorstellung des Totaltheaters reproduziert und verdoppelt ungewollt die dargestellte Gewalt der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Soldaten (von Lenz undZimmermann), der sie doch (kritisch) beikommen will. Im Ziel der künstlerischen Erschaffung einer überwältigenden Totalität gleichen sich die ästhetischen Mittel des Totaltheaters an die unmittelbare Gewalt der Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts sowie der Klassengesellschaften und Diktaturen des 20. Jahrhunderts an. Die entdiffenzierte, unreflektierte Artikulation des Totaltheaters ist als künstlerischer »Lärm der Zeit«9 die bewusstlose Spiegelung und Verstärkung jenes »Lärms der Zeit«, den die brutale gesellschaftliche Gewalt macht.

2. Dramaturgie der Soldaten bei Lenz und Zimmermann

Wer sind die Soldaten? Es hat besagten Kritiker hart getroffen, dass in der Nürnberger Inszenierung keine Soldaten in Uniform anzutreffen sind. Sieht doch Zimmermann selbst für die 3. Szene des 4. Akts (»Nocturno III«) einen »Transportzug mit Panzern« über eine Eisenbahnbrücke rollend vor, dazu einen »unaufhörliche[n] graue[n] Zug« gefallener Soldaten mit Stahlhelm, die blicklos über die Straße gehen, den »Marschtritt marschierender Soldaten« und gar den Pilz einer Atombombe, um die »antimilitaristische Tendenz« der Oper zu illustrieren, von der er im Brief an Jan Krenz 1963 spricht.10 Zimmermanns Warnung vor einem kriegerischen Weg in den Untergang mit allen ästhetischen und technischen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, ist angesichts der Erfahrungen seiner Generation mit Diktatur und Krieg und der Wiederaufrüstung der jungen Bundesrepublik aktuell und nachvollziehbar. Sie hat nur nichts mit den ersten drei Akten seiner Oper und mit dem Stück von Lenz zu tun, das Text und Handlung der Zimmermann’schen Soldaten bildet.

Schon in Lenz’ Stück geht es nicht um eine Kritik an Krieg und Kriegshandwerk. Wo darin eine kritische Position eingenommen wird, wie in der angeklebten Schlussszene zwischen der Gräfin La Roche und dem Obrister Graf von Spannheim, gilt sie dem Heiratsverbot für Offiziere. Das trage Schuld, dass sich die adeligen Offiziere in Ermangelung von standesgemäßen Ehefrauen an die Verführung junger Mädchen und Frauen aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Familien machten. Dem könne nur abgeholfen werden durch die staatliche Besoldung von Konkubinen, die sich für das Gemeinwohl opferten und den Soldaten ihre Dienste anböten – gleichsam die Idee einer Aktion Lebensborn vor der Zeit.

Dramaturgisch gesehen stehen Die Soldaten von Lenz im Kontext der bürgerlichen Trauerspiele, die, wie Emilia Galotti oder das spätere Kabale und Liebe, Liebesbeziehungen zwischen Bürgerlichen und Adligen, die durch soziale Schranken getrennt sind, als Konfliktpotential zum Antrieb haben. Anders als in diesen bekannten und den vielen unbekannten Stücken dieses Genres geht es bei Lenz aber nicht um ein Frauenopfer, das den Sieg bürgerlicher Tugend beglaubigen soll, sondern direkt und unverblümt um die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs und die Teilhabe an der gesellschaftlichen (Vor-)Macht. Die Soldaten exponieren das Begehren der Macht in beiden Richtungen, von unten nach oben und umgekehrt, ohne jeden moralische Rahmen. Die auf Ungleichheit und Vormacht beruhende Ordnung bleibt ohne moralische Legitimation. Das Zueinanderfinden von Vater und Tochter im Elend der vorletzten Szene spricht der inneren Überlegenheit bürgerlicher Tugend noch im Untergang in den Dramen der Empfindsamkeit Hohn. Marie ist frei von jeder tugendhaften Anwandlung, eine frühe Schwester der Lulu (wie Zimmermann gesehen hat), an der sich nicht nur das Begehren der Macht, sondern auch die Macht des Begehrens zeigt.

Diesem Begehren gänzlich unsentimental zu folgen und ganz auf Risiko zu setzen, macht Maries Stärke aus in einer gesellschaftlichen Ordnung, deren Spitze sie durch den Verkauf ihrer selbst erobern will. »Trifft mich’s, so trifft mich’s. Ich sterbe nicht anders als gerne«. Das ist der Satz einer materialistisch-sinnlichen Entrepreneurin, die sich aus den familiären Bindungen befreit hat. Einer Entrepreneurin ihrer selbst in einer Welt der reinen Immanenz11, die ohne Transzendenz auskommen muss. Was in dieser Welt sich artikuliert und kommuniziert, ist buchstäblich viel Lärm um Nichts. Der Lärm dieser Zeit, der Lärm einer auf asymmetrischer Machtverteilung beruhenden Welt der reinen Immanenz, äußert sich im durchgehenden Geräuschpegel der Kaffeehäuser und anderer öffentlicher Einrichtungen, im Stammtischgequatsche, angefüllt mit theologischen und philosophischen Phrasen, und im Klatsch, vor allem aber in der Lust, die anderen – Stolzius, Rammler, den Juden, die ältere Madame Bischof und Jungfer Zipfersaat – vorzuführen, sie zu diskriminieren und sich auf deren Kosten zu amüsieren.

Die Lust am Verlachen und Niedermachen der anderen entspringt der Angst, selbst auf die absteigende Bahn und in die Bredouille zu geraten. Denn auch die sozialen Privilegien der Soldaten sind nicht ungefährdet in einer Gesellschaft, in der die Geldherrschaft die Vorrechte des Adels unterminiert. Desportes z. B. sitzt wegen Schulden vorübergehend im Gefängnis. Auf die Herkunft des deutschen Worts Lärm aus dem italienischen all’arme, zu den Waffen, zurückgreifend, könnte man sagen: Der Lärm dieser Zeit entsteht aus einer beständigen Alarmbereitschaft aller, aus der Angst heraus, die angestammte gesellschaftliche Position und Macht könnte auf dem Spiel stehen. In diesem Alarm, im Lärm, den sie alle machen, artikuliert sich die Gewalt der ungerechten Ordnung der feudalabsolutistischen Gesellschaft.

In einer Welt der reinen Immanenz, die viel Lärm um Nichts macht, ist Maries Untergang singulär und kontingent, ungeeignet, irgendwelchen Sinn für irgendein Ganzes daraus zu schlagen. Das mag Zimmermann, der Lenz drei Akte hindurch folgt, am Ende nicht hinnehmbar erschienen sein. Deshalb braucht er Marie für die Apokalypse. Er instrumentalisiert ihren Untergang für die negative Utopie des drohenden Weltuntergangs, um, anders als Lenz, seiner Oper doch noch einen Sinn für das Ganze, einen Sinn des Ganzen abzupressen.

Peter Konwitschny, der Regisseur der Nürnberger Soldaten, hat sich an der drohenden Metaphysizierung am Ende von Zimmermanns Oper gestoßen. Während seiner Arbeit mit Studierenden der Leipziger Theaterwissenschaft als erster Bertolt Brecht Gastprofessor der Stadt Leipzig hat er betont, dass es darauf ankomme, gegenüber dem Phantasma eines Totaltheaters und apokalyptischen Multimedia-Spektakels, das Zimmermanns Soldaten anhängt, das Stück von Lenz in der Oper stark zu machen. Wie das in Nürnberg geschieht und wie die Oper davon profitiert, möchte ich im Folgenden zeigen.

3. Musik und Szene. Peter Konwitschnys Inszenierung von Zimmermanns Die Soldaten

Die Abwesenheit einer Totalität des Sinns in Lenz’ Soldaten ist der tiefere Grund für die Aufgabe der drei Einheiten und die Fülle der Zeiten, Räume und Handlungsstränge überspringenden kurzen Szenen, aus denen das Stück besteht. Sie sind herausgeschnitten aus einem Ganzen, das keinen Sinn mehr macht: szenische Momentaufnahmen, Bruchstücke. Darin gleichen sie Gesten, die sich nach Benjamin und Brecht der Unterbrechung eines Handlungskontinuums verdanken. Gesten sind Äußerungen eines prekären, nichtsouveränen Handelns unter kontingenten Umständen und verweisen auf die abwesende Totalität eines Sinns, die sich nicht vergegenwärtigen, sondern nur mit-teilen, d. h. mit anderen teilen lässt. Sie sind konkret bezogen auf eine Situation und evozieren zugleich einen unendlichen Raum des aktuell Abwesenden, aber Potentiellen: einen Möglichkeitsraum. B. A. Zimmermann mag diesen Raum gespürt haben, der die szenischen Gesten von Lenz’ Soldaten umgibt und ihn als Möglichkeitsraum der Musik entdeckt haben.

In Peter Konwitschnys Nürnberger Inszenierung ist dieser doublierte Raum aus gestisch-szenischer Konkretion und musikalischer Evokation zu erfahren. Die Bühne von Helmut Brade ist leergeräumt bis auf drei Schlagzeuggruppen an den Seiten und an der Rückwand.

In diesen umfassend leeren Raum lässt Brade Hänger in unterschiedlichen Farben herunterfahren, Vierecke für Fenster und Türen sind darin ausgeschnitten, die den jeweiligen Ort der Handlung markieren. Dazu ein Sessel, ein Stuhl, Tisch oder ein Bett und mit rotem Licht auf dem Boden eine Spielfläche abgesteckt – und fertig ist die Szene. Auf ihr entfaltet Konwitschny in der Kürze der Szenendauer mit wenigen präzisen Gesten und Haltungen ein prägnantes Spiel.

Entscheidend an diesen Szenen ist der Raum, der sie umgibt. Die Szenen führen eine prekäre Existenz. Sie sind schnell hergerichtet und verschwinden wieder schnell, sind leicht gebaut und provisorisch eingerichtet. Es sind sozusagen Tableaus im Unterwegs, die ihre Ausschnitthaftigkeit vorzeigen und auf den Raum um sie herum verweisen. Dieser ist erfüllt von Musik. Das gilt sowohl für die Dauer der Szenen selbst, in denen die Musik die szenische Gestik doubliert und übersteigt, als auch – und ganz besonders – für die Einleitungen und Zwischenstücke, die Zimmermann erst in der zweiten Arbeitsphase, der Wiederaufnahme der Komposition nach dem Scheitern der geplanten Aufführung 1960, eingefügt hat. Diese »Vor- und Zwischenspiele«, schreibt Zimmermann 1964 an den Intendanten der Kölner Oper, sollen »dem Publikum Gelegenheit geben, gewissermaßen von dem dramatischen Ansteigen sich gelegentlich auszuruhen, um damit umso mehr Kraft für die Gipfelleistungen zu gewinnen.«12 Auch wenn das zunächst nur nach einem Einteilen der Kräfte für den Schlussspurt, mag sein die Apokalypse, klingt, erinnert das Einräumen von Ruhepausen doch an Schillers Ausführungen Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie im Vorwort zur Braut von Messina,13 die das Reflexionspotential der chorischen Unterbrechungen des Handlungszusammenhangs betonen, und natürlich an die Bedeutung der unterbrechenden Songs, Gedichte, Kommentare und der Musik bei Brecht.

Allerdings ist Zimmermanns Musik nicht reflektierend-kommentierend wie z. B. die Kompositionen von Hanns Eisler, aber auch nicht illustrierend, den Lärm der Zeit schlicht reproduzierend. Zimmermanns Musik exponiert den Zustand des Ganzen. Sie stellt ihn aus. Das zeigt sich gleich zu Beginn im Preludio: Eine Kakophonie von Klängen und Geräuschen wird durch den eisernen Rhythmus der Pauke in d grundiert, angetrieben, strukturiert und moderiert. Die Diskrepanz zwischen der Ordnung des Paukenrhythmus und dem Chaos der Klanggeräusche der anderen Instrumente sowie das kurzzeitige Stottern und Aussetzen des Rhythmus lassen die Dysfunktionalität des Ganzen erfahrbar werden. Der Lärm der Zeit droht die nackte Ordnung selbst – transzendenzlos, unlegitimiert, eisern – zum Einsturz und Erliegen zu bringen. Das ist, bei aller Gewalt der Erschütterung, auch die Analyse einer Beziehung durch Musik. Nicht musikalische Bebilderung der Apokalypse ist dabei am Werk, sondern die Ausstellung einer Gefährdung von Ordnung überhaupt durch die chaotisch-lärmende Gewalt aller gegen alle. Zimmermanns musikalischer Ausstellung liegen die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu Grunde, die seine Oper den Lenz’schen Soldaten des 18. Jahrhunderts hinzufügt.

Von Lenz erhält sie dazu im Gegenzug die szenisch-gestische Konkretion, die der Oper ein Widerstandspotential gegen die Apokalypse verschafft. Unterschiedliche Zeitschichten treffen in der Wieder-Holung des Theaterstücks aus dem 18. Jahrhundert mit, durch und in der Musik des 20. Jahrhunderts aufeinander und überlagern und verschränken sich. Deren Verhältnis lässt sich – durch die Inszenierung von Peter Konwitschny gesehen – als wechselseitige Historisierung, d. h. als ein Fremdmachen der jeweiligen Zeithorizonte verstehen. Die Soldaten sind keine Literaturoper, die ein Stück Literatur mit Musik ausstattet. Das Stück und die Oper, die Szene und die Musik treten vielmehr erst auseinander und entfalten ihren Eigensinn, um sich dann aufeinander zu beziehen. Die Nürnberger Inszenierung gibt diesem Auseinandertreten Raum: in der beschriebenen Bruchstückhaftigkeit der Szenen, im sichtbaren Umbau während der Zwischenspiele und – ex negativo – in der dezidierten Engführung von Musik und Szene. Wenn Marie am Ende des 1. Akts in das Gewitter der Schlaginstrumente auf der Bühne rennt oder in der Kaffeehausszene am Beginn des 2. Akts die ganze Bühne angefüllt ist mit dem Lärm aller, in dem die stimmliche Artikulation der Einzelnen untergeht und sich die Gewalt aller gegen alle im anschließenden »Intermezzo« entlädt.

Herausgefallen aus der Abfolge der Tableaus ist bei Zimmermann wie in der Inszenierung von Konwitschny die 2. Szene des 2. Akts. Sie bringt Personen zur gleichen Zeit zusammen, die räumlich getrennt sind: Marie und Desportes befinden sich in Lille, ebenso wie Weseners alte Mutter, Stolzius und seine Mutter sind in Armentières. Zimmermann schlägt dafür drei getrennte Lichtinseln auf der Bühne vor:jeweils für Marie und Desportes, für Weseners alte Mutter sowie für Stolzius und seine Mutter. Konwitschny führt alle zusammen in einer surrealistischen Szene auf einem großen Bett, auf dem sich eine von der Musik geleitete Traumszene entfaltet. Zum Zitat des Bachchorals kommen alle handlungskonform und handlungswidrig miteinander in zärtliche, liebevolle Berührung, ehe, durch Stolzius, die Gewalt der Liebe in die Liebe zur gewaltsamen Rache umschlägt. Für eine kurze Dauer ist die Zwangsläufigkeit der vorgeschriebenen Handlung unterbrochen. Alles könnte auch ganz anders verlaufen …

Es ist nicht nur viel Lenz, sondern auch viel Brecht in dieser Inszenierung von Peter Konwitschny, der bekanntlich von Brecht herkommt. Brechts Idee einer »Trennung der Elemente«14, die man insgesamt für die Beziehung zwischen Musik und Szene geltend machen könnte, wird auf besondere Weise in der Nürnberger Version der letzten Szene des 3. Akts und den ganzen 4. Akt hindurch manifest. Während der schwebende Klangteppich des Terzetts im 3. Akt »Ach ihr Wünsche junger Jahre« textlich-musikalisch der verlorenen Illusionen des endlichen Lebens gedenkt, vollzieht sich auf der Szene die Einkleidung und Uniformierung von Marie und eines ganzen Angestelltenheers junger Frauen. Die Aufspaltung der visuellen und akustischen Wahrnehmung, die hier exemplarisch zu erfahren ist, wird zum Prinzip der Darstellung im 4. Akt. Das Nürnberger Produktionsteam hat auf die von Zimmermann vorgesehenen Tonbandeinspielungen mit ihren militärischen Kommandos, Fliegerangriffen und Schreien und auch auf die drei Filme verzichtet. Stattdessen hat es die simultane Verschichtung von elf Szenen von Lenz’ Stück, die Zimmermann mit der Absicht einer Totalerfahrung der »Kugelgestalt der Zeit« vornimmt, für die mögliche andere Erfahrung einer Versetzung der Elemente des Ganzen (der Apokalypse) genutzt.

Die Zuschauer:innen, die nun auf der leeren Bühne stehen, vernehmen im Fastdunkel huschender Suchscheinwerfer zunächst das »Preludio«, dann, in hellerem Licht, hören sie weit über sich von oben zunächst den Text der Szenen, aufgesagt von den Sänger:innen, die auf den drei Beleuchtungsbrücken aufgereiht sind. Dabei fällt es schwer, aus der Distanz heraus den Sprecher oder die Sprecherin zu identifizieren, es bleiben, obwohl die Sprechenden sichtbar sind, bezogen auf diese weitestgehend ortlose, ungerichtete Stimmen, die auch die Angesprochenen, die Zuschauer:innen, durch ihre räumliche Unbestimmtheit aus ihrer sicheren Position versetzen und entorten. In dieser Lage erfahren sie im Dunkeln den Klangraum der Musik, nah und umgebend, intensiv. Dem folgt der Blick auf die Szene IV, 2, die Rache des Stolzius durch die Vergiftung von Desportes, in der Mitte des ersten Rangs, also aus großer Entfernung von der Bühne aus gesehen. Die abschließende 3. Szene, die Begegnung zwischen Wesener und Marie, spielt sich dagegen wieder unmittelbar unter den Zuschauer:innen in großer, nahezu haptischer Nähe zu den Akteur:innen ab.

Innerhalb von zwanzig Minuten sind so die Zuschauenden, die Zuhörenden harten Wahrnehmungsschnitten von Hören und Sehen, Nähe und Ferne, Distanz und Empathie ausgesetzt. In dieser Aussetzung versetzen sich sowohl die von Zimmermann intendierte Totalität der Apokalypse wie die Vorstellungskraft der Zuschauer:innen, die sie einbilden, die sie einhören soll. Das Gewahrwerden des Eigensinns der einzelnen Elemente der Wahrnehmung lässt diese zu spät kommen, um die Apokalypse noch zu erleben. Die zeiträumliche Versetzung in der Trennung der Elemente setzt das Hier und Jetzt der Apokalypse aus. Die Wahrheit dieser Erfahrung ist: Die Apokalypse hat immer schon stattgefunden. Für die Nürnberger Inszenierung der Soldaten gilt Jacques Derridas Satz: »Auf komm, die Apokalypse, es ist vorbei […] das ist es, was ankommt.«15

4. Stimmen im Lärm der Zeit

»Wir kommen nicht an der Feststellung vorbei, dass diese eine Oper zum Singen ist«16, hält Zimmermann in einem Brief an den Regisseur der Uraufführung fest. Was auf den ersten Blick selbstverständlich anmutet, hat seine Tücken. Sie liegen nicht nur in den Schwierigkeiten der Gesangspartien mit ihren Intervallsprüngen und unglaublichen Höhen, sondern auch in der Frage nach deren Ort. Die Stimmen in den Soldaten halten sich an der Grenze zwischen Szene und Musik auf. Sie sind nicht der seelische Ausdruck der Figuren und ihrer Sprache. Zimmermann:

Bei der ›Vertonung‹ des Textes wurden Sprachmelodie und Wortrhythmus der Textvorlage rigoros dem Musikalischen dienstbar gemacht: Einzig und allein die rhythmischen Reihen bestimmten das Geschehen […]. Dieser Hinweis erscheint mir […] wichtig, weil gerade durch die rigorose Ausklammerung der Sprachmelodie und des Wortrhythmus eine besondere Prägnanz der ›Deklamation‹ erzielt wurde.17

Die Differenz zwischen der sprachgeleiteten szenischen Interaktion und der von der Musik induzierten stimmlichen Expressivität spaltet die Figuren in einen sichtbaren Körper der szenisch-gestischen Aktion und einen unsichtbar-vernehmbaren gespenstischen Stimmkörper, der die Bühne über den jeweiligen szenischen Schauplatz hinaus füllt. Die Stimme überschreitet die Szene und ist doch, als Überschreitung (in) der Szene, die Stimme der Szene. Sie ist das gespenstische musikalische Double der Szene der gestischen Interaktion. Als solches sind die Stimmen in doppelter Weise gezeichnet. Zum einen vom Lärm der Zeit, der in der Musik immer wieder durchschlägt, zum andern von der Zwangsläufigkeit der Sprachhandlung des dramatischen Verlaufs. Die zweifache Gewalt, die den Stimmen damit angetan wird, treibt sie ins Extreme: in ungeahnte Höhen, zu wilden Intervallsprüngen, zu stimmlichen Verrenkungen. Nichts hat mich bei meinen ersten Soldaten in Frankfurt18 vor bald vierzig Jahren mehr ergriffen als die objektive Expressivität und subjektive Ausdruckslosigkeit dieser stimmlichen Torturen. Damals wie heute lässt sich darin nicht nur der Abdruck der Gewalt des gesellschaftlichen Zusammenhangs erfahren, sondern, in all den an die Grenze gehenden, Grenzen überschreitenden Windungen der Stimmen, auch ihr Ent-Winden, auch ihr verzweifelter Widerstand gegen diese Gewalt. Die Stimmen in Zimmermanns Soldaten sind Stimmen im Lärm und gegen den Lärm der Zeit.

Endnoten

  • 1 Vortrag auf dem Symposium Wahrnehmungstheater. Interdisziplinäre Debatten über Bernd Alois Zimmermann am 14. und 15. April 2018 im Staatstheater Nürnberg.
  • 2 Zimmermann, Bernd Alois: »Zu den Soldaten«, in: ders.: Intervall und Zeit. Gesammelte Aufsätze, Mainz 1976, zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 34 – 36, hier S. 34.
  • 3 Oehlein, Josef: »Raufbolde beim näckischen Ringelpiez«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.3.2018.
  • 4 Adorno: [Der Essay als Form], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 9 – 33, hier S. 18.
  • 5 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater. Shakespeare-Arbeiten und Shakespeare-Übersetzungen, hrsg. v. Hans-Günther Schwarz, Stuttgart 1995, S. 21.
  • 6 Zimmermann: »Zu den Soldaten«, S. 35.
  • 7 Vgl. Moholy-Nagy, Lázló: »Theater, Zirkus, Varieté«, in: Bühne im Bauhaus, Bauhausbuch Nr. 4, hrsg. v. Oskar Schlemmer, München 1925, S. 52 – 56.
  • 8 Siehe Moholy-Nagy: »Das Theater der Totalität«, in: Pörtner, Paul (Hrsg.): Experiment Theater, Zürich 1960, S. 128 – 130.
  • 9 Ich entnehme die Bezeichnung dem Titel der ausgezeichneten Schostakowitsch-Biographie von Julian Barnes: Der Lärm der Zeit, Köln 2017.
  • 10 Vgl. Zimmermann: [Brief an Jan Krenz, Köln, 11. Januar 1963], zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 42.
  • 11 Siehe Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988.
  • 12 Zimmermann: [Brief an den Intendanten Arno Assmann, Bühnen der Stadt Köln. Rom, 9. April 1964], zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 43.
  • 13 Vgl. Schiller: [Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie], in: ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 3, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Frankfurt a. M. 1992, S. 471 – 477.
  • 14 Brecht: [Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], S. 79.
  • 15 Derrida, Jacques: »Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie«, in: Engelmann, Peter (Hrsg.): Apokalypse, Graz/Wien 1985, S. 9 – 90, hier S. 90.
  • 16 Zimmermann: [Brief an Hans Neugebauer, Bühnen der Stadt Köln. Olevano Romano, 6. August 1964], zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 43.
  • 17 Zimmermann: [Brief an Pricken (?), 10. Dezember 1965], zit. n. Programmheft zur Premiere von Die Soldaten am 17. März 2018 im Staatstheater Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 44.
  • 18 Die Premiere der Frankfurter Soldaten war am 18.6.1961. Das Produktionsteam, das nicht mehr nach einzelnen Funktionen unterschied, bildeten Michael Gielen, Alfred Kirchner, Karl Kneidl, Hans Kresnik, Klaus Zehelein und David Walsh.
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