Theater der Zeit

Auftritt

Magdeburg: Im Leichenfeld

Theater Magdeburg: „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett. Regie Stas Zhyrkov, Ausstattung Sophie Lenglachner

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Edgar Selge: Der helle Wahnsinn (01/2019)

Assoziationen: Sachsen-Anhalt Theaterkritiken Theater Magdeburg

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Die Ausstattung von Sophie Lenglachner für die Inszenierung von „Warten auf Godot“ des noch jungen ukrainischen Regisseurs Stas Zhyrkov ist eine starke Setzung. Sie spielt mit Aufführungstraditionen des interpretationsbeladenen Stücks, entwirft aber auch mutig einen ganz eigenen Raum für Wladimir und Estragon in der Studiobühne des Theaters Magdeburg. Dieser zeigt zwei Haufen pyramidenartig aufgeschichteter Totenköpfe, einzelne Exemplare sind offenbar mit aufgeklapptem Kiefer gerade erst heruntergerollt. Das Totenfeld der roten Schädel kann dabei die verschiedensten Lichtstimmungen wiedergeben – von Giftgrün bis zu einem fauligschwarzen Dunkelrot. Der berühmte Baum ist hier nur ein Zweig in der Hand von Wladimir, der ebenso wie Estragon in einen noch an Chaplin gemahnenden Frack der besser Betuchten aus den jüdischen Vierteln des alten Europa gekleidet ist, freilich schon reichlich angeschmuddelt. Dafür sind mit Zlatko Maltar als Wladimir und Daniel Klausner als Estragon beide jung besetzt und drehen von Anfang an mit sichtlich vom Temperament des Regisseurs angefeuerter Spielfreude auf.

Zhyrkov und seine Dramaturgin Laura Busch haben den Text eingekürzt und dabei einige der von Beckett beschriebenen Hutund Schuhpantomimen weggelassen, womit sie den Weg für eine Interpretation freimachen, um die man seit Pierre Temkines „Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte“ (2008) nicht mehr herumkommt. Temkine wies nach, dass die beiden auf Godot Wartenden in ihrer Figurenbiografie eigentlich zwei Pariser Juden im Frühjahr 1943 auf der Flucht ins sichere Italien darstellen. Am Rande einer Straße erwarten sie den bislang unbekannten Fluchthelfer. Damit entzog Temkine der jahrzehntelang herrschenden Auffassung des Beckett-Paars als Melonenhut-Clowns und existenzialistischen Clochards für immer den Boden.

Zhyrkov war natürlich gut beraten, das nicht eins zu eins umzusetzen, aber vieles an Grauen und Groteskem in seiner Inszenierung erklärt sich aus dieser Inspiration. Auch einige Merkwürdigkeiten des Stücks treten zutage: So verwischte Beckett zwar das historisch Konkrete der Geschichte, ließ aber beispielsweise am Beginn des zweiten Akts als einer der ersten Nachkriegsautoren in der Öffentlichkeit die Millionen Leichen in den Lagern ansprechen – ein Vorgriff auf die später folgende Bearbeitung des Holocaust-Traumas.

Die Wechsel zwischen den Momenten, in denen Wladimir und Estragon sich necken und frotzeln, und jenen, in denen Gedächtnisverlust und Aversionen hervorbrechen, erfolgen so rasant, dass eine unheimliche Stimmung entsteht, die Zhyrkov an manchen Stellen mit dem akustischen Nachhall ihrer Stimmen noch verstärken lässt – sie könnten bald ortund körperlos sein. Mit dem Auftritt von Pozzo und Lucky zieht hier – ganz der Situation einer Flucht nachempfunden – vor allem die Frage ein, wer hier wem vertrauen kann. Der Pozzo von Burkhard Wolf ist ein besonders herrischer Sadist, der mit dem Herumkommandieren seines Lucky diesen gleichsam an einem unsichtbaren Strick führt. Björn Jacobsen spielt Lucky in Frauenkleidern, der sprechakrobatische „Denke, Schwein!“-Monolog geht bei ihm in ein serviles Ständchen in Marilyn-Monroe-Pose über. Auch das Ersetzen des philosophischen „Blablas“ durch Monroes Geburtstagsnummer vor John F. Kennedy zählt zu den dezenten Vergegenwärtigungen im Sinne einer zum Allgemeingut gewordenen Populärkultur in Zhyrkovs erfindungsreichem Zugriff auf den Klassiker.

Nach der Pause zum zweiten Akt sind einhundert Jahre und ein Tag vergangen, und es erscheint eine schwarz verschleierte Figur, die durch den Totenkopfraum geistert. Der Zweig, verpflanzt, erblüht und gewachsen, ist offenbar zu Stuhl und Tisch verarbeitet worden, auf dem der Fortschritt eine Fernbedienung hinterlassen hat. Zwischen Wladimir und Estragon ist fast alles beim Alten, nur Pozzo und Lucky sehen jetzt wie handelsübliche Geschäftsleute von heute aus, denen die Gebrechlichkeit einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Hier lässt Zhyrkov die Inszenierung anhalten für einen Exkurs zu der Frage: „Warum warten wir immer noch auf Godot? Warum steigen wir aus dem Spiel nicht aus?“ Danach führt er das Stück, alle Doppelungen des zweiten Akts überspringend, schnell ins Finale, in dem Wladimir und Estragon gleichsam in Beantwortung der Frage anfangen, die losen Schädel einzusammeln und wieder aufzuschichten – als Totenbeschwörung. Sie kommen nicht vom Fleck, wenden sich aber wenigstens den Toten zu. //

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