Stück
Die nächste Eskalationsstufe
Rechtes Denken, Wutbürger und der Abbruch der Kommunikation – Lutz Hübner und Sarah Nemitz über ihr neues Stück „Furor“ im Gespräch mit Jakob Hayner
von Lutz Hübner, Sarah Nemitz und Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Edgar Selge: Der helle Wahnsinn (01/2019)
Assoziationen: Dramatik Schauspiel Frankfurt
Lutz Hübner, Sarah Nemitz, wie haben Sie den Stoff für „Furor“, ein Kammerspiel über rechtes Denken und das Versagen der Politik, gefunden? Wie hat sich das Stück, ein Auftrag des Schauspiels Frankfurt, entwickelt?
Sarah Nemitz: Wir arbeiten seit vielen Jahren eng mit Anselm Weber zusammen (dem Intendanten des Schauspiels Frankfurt und Regisseur der Uraufführung; Anm. d. Red.). Auch in diesem Fall war klar, dass das Stück mit ihm gemeinsam entstehen soll. Am Anfang einer Stückentwicklung finden immer lange Gespräche über mögliche Themen statt, ein Brainstorming.
Lutz Hübner: Wobei wir nicht sofort auf diese Geschichte kamen. Über Umwege waren wir bei der Frage gelandet, wie sich das rechte Denken über die Jahre verändert hat. Und wie es sich in der Öffentlichkeit manifestiert. Die erste Beobachtung war, dass es sich über die grölenden Nazis hinaus zu einer seltsamen Rittergut-Herrenreiter-Szene entwickelt hat. Oder nehmen wir das Phänomen der „Identitären“, die eher mit linken Guerillamethoden arbeiten …
Nemitz: … zu finden in einem eher studentischen Milieu, in dem man zuvor rechtes Denken nicht unbedingt verortet hätte.
Hübner: Marc Jongen, AfD-Politiker und ehemaliger Mitarbeiter von Peter Sloterdijk, hat gerade gesagt, dass sich das rechte Denken intellektualisiert. So kommt die „Konservative Revolution“ gewissermaßen wieder durch die Hintertür. Das waren unsere ersten Ansätze, die wir zunächst über eine Analogie verhandeln wollten. Wir haben uns mit Walther Rathenau beschäftigt, den ostelbischen Junkern, den Mordkommandos und der paramilitärischen Organisation Consul in der Weimarer Republik. Wir saßen lange an dem Stoff, aber manchmal gehen Analogien eben auch nicht auf, es wird dann auch seltsam alarmistisch. Wir wollten mit unserem Stück nicht den Eindruck erwecken, dass wir uns nun wieder in einer Situation wie 1933 befinden.
Nemitz: Im Grunde hatten wir einen kompletten Stückentwurf, der sich aber als Sackgasse herausstellte. Wir haben dann, nach eineinhalb Jahren Arbeit, noch mal von vorn begonnen.
Hübner: Das Motiv war aber das gleiche: Wir fragten uns, was die nächste Eskalationsstufe sein könnte. Wir wollten es aber als heutige Geschichte erzählen. Das hat auch mit Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ zu tun, mit dem Solidaritätsversprechen, das von rechts vereinnahmt wird, und der Arbeiterklasse, die plötzlich auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht. Was sind das für Versprechen, was ist das für eine Wut? So kamen wir auf die Idee eines Kammerspiels, eine recht einfache Stückkonstruktion, mittels derer wir die verschiedenen Themen und Positionen aufeinanderprallen lassen konnten. Wir wollten nicht mit vielen Personen viel Stoff verhandeln, sondern eine Druckraumsituation schaffen.
Welche gesellschaftliche Situation beschreibt das Stück? Was prallt da aufeinander?
Hübner: Auf der einen Seite gibt es Jerome, der in einer Filterblase lebt, der nur die Informationen bekommt, die sein Weltbild bestätigen, eine Mischung aus Verschwörungstheorien und populistischen Statements. Sein Ausgangspunkt ist eine klar erkannte Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, die Schere von Arm und Reich, die auseinandergeht, die Chancenlosigkeit. Das ist eine Mischung aus richtigen Beobachtungen und falschen Schlüssen. Man kann nicht sagen, dass er ein durchgeknallter Nazi ist, sondern er ist jemand, der in der Analyse bis zu einem gewissen Punkt recht hat, dann aber den Schluss zieht, dass alles abgeräumt werden muss. Denn das rechte Denken ist in erster Linie immer ein Abschaffungsdenken. Es formuliert kein Gesellschaftsmodell, sondern propagiert die große Abschaffung. Auf der anderen Seite gibt es den Politiker Braubach, der seinerzeit in die Politik gegangen ist, weil ihn ein ganz ähnliches Gefühl für Ungerechtigkeit angetrieben hat, der inzwischen aber den Politikbetrieb kennt und auch weiß, wo dieser Betrieb versagt. Das Vorbild ist ein bestimmter Typus von Politiker, den es immer seltener gibt: den Vertreter einer Volkspartei, der über Betriebsräte und Gewerkschaften in die Politik kommt. Biografisch sind die beiden Figuren von ihrem Startpunkt aus nicht weit voneinander entfernt. Nur hat der eine in den Achtzigern noch andere Chancen gehabt, einen anderen Möglichkeitshorizont, während Jerome, der als Paketbote arbeitet, einfach draußen ist. Der Ausgangspunkt ist ähnlich, aber die Welten, in denen sie gelandet sind, sind völlig unterschiedlich. Das war wichtig für die Stückkonstruktion.
Was hat sich gesellschaftlich seit den achtziger Jahren geändert? Die landläufige Meinung ist doch, es würde einem heute so gut gehen wie nie.
Hübner: Es ist ein zweiter Arbeitsmarkt entstanden, der gesamte Niedriglohnsektor. Man sieht es zum Beispiel bei der Paketpost: Die Festangestellten kommen noch in den Genuss von Tarifbindung, gewerkschaftlicher Vertretung und Arbeitsschutz, während nur wenige Meter weiter die über Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen Angestellten die gleiche Arbeit machen, arbeitsrechtlich aber Freiwild sind und nicht über den Mindestlohn hinauskommen. Das ist zusammen mit den immens steigenden Mieten katastrophal. In den Achtzigern konnte man sagen, selbst wenn alles schiefgeht, bekommt man irgendwo eine abgesicherte Festanstellung. Wenn heute alles schiefgeht, landet man bei Hartz IV oder beim Niedriglohn. Das bedeutet, dass Leute aus der Armutsfalle nicht herauskommen.
Sie sagten, das rechte Denken sei eines der Abschaffung. Zugleich ist das auch das von den Rechten beschworene Katastrophenszenario: Deutschland schafft sich ab.
Hübner: Thilo Sarrazin hat tatsächlich mit diesem Slogan angefangen. Es wird ein riesiges Bedrohungsszenario geschaffen, und die Folgerung ist, dass das „System inklusive der Systempresse“ marode sei und komplett ausgetauscht werden müsse.
Nemitz: Aber gegen was es ausgetauscht werden soll, wird nicht gesagt. Es gibt kein Bild, keine positive Utopie. Es gibt nur die Angst und die Vernichtungsfantasien.
Hübner: Und wenn es einmal angedeutet, nicht ausformuliert wird, ist es das Bild einer kleinstädtischen homogenen Gesellschaft. Der Rechte definiert sich aber erst mal über den Linken, durch den er sich angegriffen fühlt. Das ist im Stück auch so, wo Jerome seine politische Identität und seine Protesthaltung aus seinem Gegenüber bezieht.
Nemitz: Und mehr kommt dann auch nicht. Was folgt, ist eine gewisse Ratlosigkeit. Braubach fragt ja, was Jerome will, der kann aber darauf nicht wirklich antworten.
Es gibt ja mit Braubach, Jerome und dessen Tante Nele nur drei auftretende Figuren in dem Stück, eben: ein Kammerspiel. Geht es Ihnen mehr um Psychologie oder Politik?
Nemitz: Das kann man nicht trennen. Die Leute kommen aufgrund ihrer psychischen und emotionalen Verfasstheit zu bestimmten politischen Positionen. Wir versuchen, die Verfasstheiten hinter den Positionen sichtbar zu machen. In erster Linie geht es im Theater immer um Psychologie – zumindest in der Art von Stücken, die wir schreiben.
Hübner: Alle drei treffen in einem psychologischen Ausnahmezustand aufeinander. Der Politiker Braubach besucht Nele, weil er ihren Sohn angefahren hat, der nun im Rollstuhl sitzt. Die Bilder dieses Unfalls kann er nicht vergessen, das ist eine existenzielle Krise, gleichzeitig steht er natürlich als Politiker für ein bestimmtes System. Für Nele, die als freiberufliche Pflegerin arbeitet, also eine working poor ist, ist wirklich eine Welt zusammengebrochen, für sie ist die Situation nicht nur emotional, sondern auch ökonomisch schlimm, weil in prekären Verhältnissen nichts schiefgehen darf, es darf einfach keine Krankheit, kein Unglück geben. Und für Jerome ist es die Chance, einmal Handelnder zu sein, ohne zu wissen, wie es ausgehen wird.
Die drei Figuren kommunizieren zwar miteinander, aber ihre Verständigung scheitert. Warum? Hübner: Wenn es keinen gemeinsamen Fundus von Tatsachen gibt, von dem man ausgehen kann, keine gemeinsame Realität, dann ist jede Kommunikation nur der Austausch von Statements.
Nemitz: Braubach und Jerome verstehen überhaupt nicht, was ihr Gegenüber will, was sein Anliegen ist. Der Konflikt im Stück ist im Grunde ein großes Missverständnis. Wir beschreiben ein riesiges Kommunikationsproblem. Es gibt keine gemeinsame Sprache mehr, auch keinen Konsens über Dos and Don’ts.
Hübner: Es wäre bei einem solchen Stoff verlogen, am Ende eine harmonische Lösung anzubieten: Jerome wird Wahlkampfhelfer bei Braubach, oder eine zynische Lösung: Er wird einfach gekauft … Die Probleme existieren, es ist eine Zustandsbeschreibung. Es ist auch ein Plädoyer für Demokratie, aber nicht in dem Sinne, dass Onkel Braubach kommt und dem Jerome einmal die Welt erklärt, ihm zeigt, dass er auf dem Holzweg sei, sondern es geht um die Verhärtung. Es geht um Nichtkommunikation.
Deswegen das offene Ende? Es gibt keine antizipierbare Lösung im Moment?
Nemitz: Das heißt nicht, dass wir nicht glauben, dass es eine gibt.
Hübner: Sich bewusst zu machen, dass das rechte Denken existiert und dass es wächst, hilft, darauf reagieren zu können. Um in der Diskussion zu bleiben. Wenn es eine Moral des Stücks gibt, dann: weiterreden, auch wenn es schwerfällt. //