Kolumne
Besserwisser*innen
Das Theater ist von Moral umstellt – wenn das mal gut geht
Erschienen in: Theater der Zeit: Test the East – 30 Jahre Mauerfall (11/2019)
Assoziationen: Debatte Volksbühne Berlin Schauspiel Leipzig
Moral macht der Kunst zu schaffen, nicht weil die Kunst unmoralisch wäre, sondern weil sie moralische Fragen lieber umspielt als beantwortet, lieber in tausend Teile zerlegt als in eindeutige (und damit einfältige) Botschaften kleidet. Letztes Jahr war in München im Haus der Kunst eine große Jörg-Immendorff-Ausstellung zu sehen, „Für alle Lieben in der Welt“, darunter Gemälde aus dem Zyklus „Café Deutschland“. Weil sich der Künstler nicht mehr wehren konnte, ließen die Kuratoren ihrem moralisch korrekten Einfältigkeitsverstand freien Lauf und klebten unters „Café Deutschland“, auf dem sich ein Hakenkreuz befand, ein pädagogisches Erklärzettelchen: „Das Hakenkreuz wird hier in kritischer Absicht verwendet.“ Ach so. Hätte ich jetzt nicht gedacht. Für wie dumm hält der Kunstbetrieb eigentlich sein Publikum? Für sehr dumm, muss man annehmen, denn Einfältigkeitsverstand und Erklärzettelchen lauern seit Neuestem überall, auch im Blick auf Theater und Literatur. Ganz so, als ginge es darum, die anarchische Kraft der Künste einzuhegen und zu domestizieren. Was Immendorff betrifft, so müsste man seine Kuratoren bloßstellen mit der Ironie von Martin Kippenberger: „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken.“
In der Berliner Volksbühne hat Stefan Pucher Wedekinds „Lulu“ inszeniert, offenbar auf der Moralhöhe der Zeit und so mit dem ganzen feministischen Diskurs gewappnet. Im Programmheft wird nicht weniger als das Theater an sich beklagt, seine von Männern für Männer entworfene Kultur. Intendant, Regisseur, Autor, Dramaturg, allesamt auch hier beklagenswert männlich. Formuliert werden „Fallen“, in welche die Männer auf keinen Fall tappen sollten, zum Beispiel die Falle der Melancholie, „die manische Euphorie mit Traurigkeit, Selbstekel und affektiver Ambivalenz paart und auf widersprüchliche Weise an den Allmachtsphantasien festhält“. Das genau aber wäre es gewesen. Euphorie, Traurigkeit, Ambivalenz, Widersprüchliches. Dafür gibt es die Kunst. Wem Lulu zu heiß ist, der sollte die Finger von ihr lassen.
Die Domestizierungsoffensive erfasst mittlerweile auch die Kritik. Im Spiegel berichtet Wolfgang Höbel, wie die Jury des Berliner Theatertreffens, der er angehört, vorsorglich einer Fortbildungsmaßnahme unterzogen wird, damit sie sich in Fragen des Rassismus sensibilisiere. „Um konkrete soziale Benachteiligung oder institutionellen Ausschluss in der Kulturwelt geht es erstaunlich wenig. Eine zentrale Frage der antirassistischen Sensibilisierung ist: Wer nennt wen wie?“ Dazu geben die Trainerinnen klare Anweisungen, weil alles andere verwirrend und womöglich noch Kunst wäre. Höbel gesteht eine verstörende Erfahrung ein, die darin liegt, dass er für ein paar Stunden die Kontrolle über die Bedeutung seiner Worte abgeben muss.
Das trifft es ganz gut, das trifft die neue moralische Besserwisserei, die den eigenen Standpunkt gern zum Maß aller Dinge erklärt. Bitte jetzt alles auf Linie. Da stören die Künste nur. Wenn wer etwas besser weiß, dann lass ich mich gerne belehren. Aber wenn er oder sie es so gut zu wissen vorgibt, dass alle Komplexität verblasst, weil er oder sie dazu nicht fähig ist und allein den Vorteil genießt, auf der gerade mal richtigen Seite zu stehen, nein danke, dann ohne mich.
Die gerade mal richtige Seite versteigt sich in ans Theater gerichtete Gebote und Verbote, um einer unübersichtlichen Welt Herr zu werden. Darum sollen Vietnamesen in einem Stück nur noch von Vietnamesen auf der Bühne gespielt werden dürfen, wie der Vorwurf an Philipp Preuss und seine „rein weiße“ Inszenierung von Thomas Köcks „Atlas“ heißt, letzten Sommer im Schauspiel Leipzig. Dass ein solcher Quatsch überhaupt diskutiert wird, entlockt mir ein krampfiges Joker-Lachen. Dieser Vorwurf kann nur von Leuten kommen, die kein Theater mehr haben wollen, die es ablehnen, dass die einen sich in die anderen hineinversetzen, alles, was die Welt zusammenhält, noch dazu die Freiheit des Spiels, die Essenz der Bühnenkunst.
In den Vereinigten Staaten sind sie wie immer schon weiter, in diesem Fall auf dem Feld der Einfältigkeit. In Universitäten und Colleges erhalten Studierende trigger warnings, Alarmzettelchen, die sie vor der Lektüre von Shakespeares oder Dostojewskis Werken warnen, vor dem Blutrünstigen zumal. „Die Stelle, die Sie gleich lesen werden, enthält verstörende Inhalte und kann eine Angstreaktion auslösen, besonders bei Personen mit einer Vorgeschichte an Traumata.“ Verständlich ist, dass sie Menschen vor Verletzungen schützen wollen. Aber ohne Schmerz ist Kunst nicht zu haben, weil sie vom Leben da draußen und von der Welt erzählt. Das ist die verdammte Wahrheit. Inzwischen hat eine Studie herausgefunden, dass jene trigger warnings selbst Ängste auslösen, angeblich größere Ängste als die beargwöhnten Stellen im Lektürekanon.
Generell spricht die Soziologin Cornelia Koppetsch von schwindender Ambiguitätstoleranz, von dem Bedürfnis nach Vereindeutigung und affektiver Entmischung. Beinahe zwanghaft sei unsere Gesellschaft auf das Saubere und Reine fixiert – eine große Zeit für Eiferer. Doch der gute Mensch, sagt der Philosoph Martin Seel und nennt es sein Humphrey-Bogart-Theorem, ist nicht ganz so gut wie der nicht ganz so gute Mensch. //