Theater der Zeit

Auftritt

Zürich: Der Kronzeuge

Theater Neumarkt: „Der Fall Meursault. Eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud. Regie und Bühne Ruud Gielens, Kostüme Laila Soliman

von Dorte Lena Eilers

Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Assoziationen: Theater Neumarkt

Spot an. Haroun Ould El-Assasse sitzt auf einem weißen Hocker und starrt düster ins Publikum. Er habe letzte Nacht schlecht geschlafen, murmelt er. Diese Wut, die einen würge. Sie stelle immer wieder dieselbe Frage. „Am Ende fühlst du dich wie nach einem Verhör.“ Der Student, der sich schüchtern an der Wand herumdrückt, stutzt. „Ist es Ihnen lieber, wir treffen uns an einem anderen Tag?“ Haroun: „Nein, wenn sich schon einmal die Gelegenheit bietet, diese Geschichte loszuwerden!“

Mit „Der Fall Meursault“ haben der belgische Regisseur Ruud Gielens und die ägyptische Autorin Laila Soliman am Theater Neumarkt die nunmehr dritte Version dieser Geschichte auf die Bühne gebracht. Haroun, der phlegmatische Protagonist aus dem Roman des Algeriers Kamel Daoud, ist seit Erscheinen des Buches zu einem gefragten Kronzeugen einer komplizierten Debatte geworden, die angesichts von Flucht und Migration um eine klare Haltung ringt, jedoch mit dieser Figur nicht zu haben ist. Als „Der Fall Meursault“ 2014 in Frankreich erschien, wurde diese „Gegendarstellung“ als große postkoloniale Abrechnung gelesen. Daoud nimmt es darin mit dem Literaturnobelpreisträger Albert Camus auf, in dessen Roman „Der Fremde“ die Geschichte des Franzosen Meursault erzählt wird, der im Algerien der Kolonialzeit einen namenlosen Araber erschießt. Das Wort Araber, rechnet Daoud auf, tauche bei Camus 25 Mal auf. Doch niemals ein Vorname, nirgends, während die Franzosen alle Namen tragen. Das Theater Neumarkt nennt diese Konstruktion im Programmzettel ein literarisches Kolonialverbrechen und schießt damit über Daouds Vorhaben hinaus. Sein Buch ist kein politisches Pamphlet, keine wutspritzende Anklageschrift, sondern der Versuch einer diffizilen Auseinandersetzung auf der Ebene der Literatur. Der ermordete Araber erhält bei Daoud einen Namen – er heißt Moussa. Seine Geschichte wird von seinem Bruder Haroun und seiner Mutter erzählt, doch bleiben diese Figuren widersprüchlich und ambivalent.

Ruud Gielens und Laila Soliman indes haben sich eher von der Idee der Anklage inspirieren lassen. Anders als Johan Simons in seinem Musiktheaterabend bei der Ruhrtriennale und Amir Reza Koohestani in seinem grandiosen Ensemblestück an den Münchner Kammerspielen (siehe auch TdZ 11/2016) haben sie aus dem Roman ein Kammerspiel für drei Personen destilliert, geschärft durch die Wut und die Enttäuschung derjenigen, die auf dem Tahir-Platz in Kairo die Euphorie und den Niedergang der ägyptischen Revolution erlebten – sowie die Verklärung dieser Vorgänge aus westlicher Sicht. „Unsere Probleme hier können nicht mit dem gleichen Denken gelöst werden wie damals, als ihr sie kreiert habt“, schimpft Haroun.

Özgür Karadeniz ist als Haroun das Kraftzentrum dieser Inszenierung. Mit zynischer List kontert er die Fragen, mit denen Der Andere (Simon Brusis) ihn und seine Mutter (Mona Hala) löchert. Der Andere stellt sich im Verlauf des Stücks als Albert vor, tritt jedoch nicht als Alter Ego Camus‘ in Erscheinung, sondern mit weißen Reebok-Sneakern und einer zerlesenen Ausgabe vom „Fremden“ in der Hosentasche wie ein Literaturstudent aus besserem Hause. Wahrscheinlich liegt es auch an dieser Figur, dass der bewusst kontextlos gehaltene weiße Raum mit seinem weißen Heizkörper dem Flur einer frisch sanierten Uni gleicht. Die Figur Alberts gibt es bei Daoud nur indirekt: als Leser, den der in einer Bar sitzende Haroun mit seiner Geschichte adressiert. Bei Gielens und Soliman wird er zum Prototypen eines europäischen Studenten, der den „Fremden“ in- und auswendig kann, von Algerien aber keine Ahnung hat. Das einzige Fenster in diesem Uniflur ist vermauert. In diesem Setting müssen die Schauspieler die eher untheatralische Situation lösen, eine einstündige Befragung zu überstehen, die mehr und mehr zu einem Verhör wird. Rückfragen werden unwirsch abgetan: „Tut das was zur Sache?“, motzt Albert.

In solchen Dialogen steckt ein Machtverhältnis: Während der Student aus Europa alles über den „fremden“ Algerier wissen will, lässt er sich selbst nicht in die Karten schauen. Stattdessen schleudert er mit den bekannten Vorurteilen um sich, die Haroun anfangs süffisant zerlegt. Albert: „In eurer Gesellschaft muss es hart sein, als Sohn einer alleinstehenden Mutter.“ Haroun: „Bei euch etwa nicht?“ Doch der Disput spitzt sich zunehmend zu. Gielens und Soliman haben zu diesem Zweck Romanpassagen, in denen Haroun das heutige Algerien kritisiert, Albert zugeschrieben. Statt komplex und widersprüchlich zu bleiben, werden die Figuren so zum Sprachrohr einer Botschaft. „Wann wirst du endlich begreifen, dass deine Welt privilegiert ist, dass es in deiner Welt nichts als Privilegierte gibt?!“, fragt Haroun zum Schluss. „Wir sollten hier aufhören“, windet sich Albert heraus. Aus der literarischen Gegendarstellung ist eine juristische Gegenüberstellung geworden, als stünde der Fall Meursault hier vor Gericht. Spot aus. //

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