Theater der Zeit

Wieslaw Dudek

Wieslaw Dudek

von Jan Stanislaw Witkiewicz und Wieslaw Dudek

Erschienen in: Shoko Nakamura & Wieslaw Dudek (06/2015)

Assoziationen: Tanz

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Herr Dudek, warum Tanz?

Das habe ich mich auch schon gefragt. Als kleiner Junge habe ich mich nicht für Tanz interessiert, sondern eher für Fußball, Fahrradfahren, so wie jeder Junge … Meine ältere Schwester Ewa, die lange im Zirkus gearbeitet hat, ist mit sechzehn Jahren zur Zirkusschule gegangen. Als sie uns besuchen kam, fiel ihr auf, dass wir Geschwister gute Körper für das Ballett hatten. So ging zuerst meine zweite Schwester Aneta, die ein Jahr älter ist als ich, zur Ballettschule nach Łódź. Im nächsten Jahr machte auch ich dort die Aufnahmeprüfung. Ich erinnere mich noch gut, dass ich früh morgens mit meiner Mutter nach Łódź zum Vortanzen gefahren bin. Es war dunkel, kalt und regnerisch. Ich war zum ersten Mal in so einer großen Stadt und ich habe zum ersten Mal eine Tram gesehen. In der Schule warteten fünfhundert Kinder darauf an der Aufnahmeprüfung teilzunehmen. Die Prüfung war dreiteilig. Erstens körperliche Voraussetzungen, zweitens musikalische und rhythmische Fähigkeiten und drittens eine orthopädische Untersuchung. Ich habe diese drei Teile mit weiteren neununddreißig Kindern bestanden. Wir mussten dann einen Monat später noch einmal zu einem weiteren Vortanzen kommen. Dieses Mal wurden wir in Jungs und Mädchen unterteilt und mussten ein bisschen Ballett machen, etwas Stretching, kleine Sprünge und so. Eigentlich war unsere Klasse mit fünfunddreißig Kindern sehr groß ... Aber es war nicht so, dass ich unbedingt Tänzer werden wollte. Oder dass ich zu Hause getanzt hätte, wie manche Mädchen.

Haben Sie Ihren Eltern nicht gesagt, dass Sie gar nicht unbedingt tanzen wollten?

Ich denke, ich wusste nicht richtig, was ich machen wollte. Mein Dorf war sehr klein, es gab einen Fußballplatz, zwei Geschäfte, Schule, Spritzenhaus und sonst nichts. Was kann man dort machen?

Eben darum frage ich mich, wie man dort zum Tänzer wird?

Meine Mutter und meine Schwester sagten: Hier ist nichts zu machen, es gibt keine gute Schule und wir haben kein Geld, dass du zum Studium fährst, deshalb müssen wir jetzt investieren, und du musst versuchen, etwas Anderes zu machen, als Fußball zu spielen. Es war ganz spontan und so kam es. Es war weit weg von zuhause und ich konnte nur sehr selten nach Hause fahren – das war sehr traurig. Ich vermisste meine Eltern und Geschwister. Das erste Jahr war schwer, aber mit der Zeit hat es angefangen, mir zu gefallen. Ich habe andere Leute getroffen, der Unterricht hat Spaß gemacht, ich habe jede Woche etwas Neues gelernt und das Ballett hat mir gefallen. Die Lehrer meinten, ich hätte einen schönen Körper für das Ballett – mit langen Beinen, weichen Füßen und einem dünnen und weichen Körper. Ich wusste nicht, was ein guter Ballettkörper ist, aber ich bekam gute Noten und war einer der Besten in der Klasse. Das hat mich motiviert, noch besser zu werden. Ich danke bis heute meiner Mutter und meiner Schwester, dass sie mich zur Ballettschule gebracht haben, denn ich wüsste nicht, wie mein Leben sonst verlaufen wäre.

Haben Sie mehr Gefallen am Volkstanz gefunden als am Ballett?

Nein! Ich hatte natürlich Spaß daran, aber das klassische Ballett hat mir immer besser gefallen.

Aber ich kann mir vorstellen, dass Folklore für junge Leute interessant sein könnte – weil es nicht so streng ist wie das klassische Ballett.

Ja, aber ich war sehr ordnungsliebend und wollte alles perfekt machen. In der Folklore gibt es nicht so genaue Regeln, es ist etwas lockerer. Im klassischen Ballett ist es so: Wenn die fünfte Position gefragt ist, dann muss es die fünfte Position sein. Man kann es nicht irgendwo dazwischen machen. Und es könnte immer noch besser sein.

Für kleine Kinder muss es schwierig sein, sich dieser Ordnung unterzuordnen.

Ja, ich denke, dass es für Jungs schwieriger ist als für Mädchen. Mädchen haben mehr Sinn für Ordnung, Jungs sind lockerer oder vergessen Sachen, kommen nicht zum Unterricht oder arbeiten nicht so viel. Aber ich muss sagen, ich war anders.

Deswegen hat mein Lehrer vom ersten Tag an gesehen, dass dieser Junge eine Zukunft hat. Denn ich war schon immer so, dass, wenn ich etwas mache, dann will ich es besser machen, als ich es kann. Ich war sehr diszipliniert und ich wollte gut sein.

Erinnern Sie sich gerne an diese Zeit?

Ja. Es war eine sehr, sehr wichtige Zeit, das, was ich dort in den ersten Schritten gelernt habe, ist die Basis für meine ganze Ballettkarriere, für mein ganzes Ballettleben. Wenn ich das dort nicht so gut gelernt hätte, wäre meine Karriere nicht erfolgreich verlaufen.

Dieses Bewusstsein hat man aber nicht mit zehn, elf Jahren.

Wichtig war, dass unsere Lehrerin Anna Hankiewicz-Rurak sehr streng war. Man hatte manchmal Angst vor ihr. Deswegen gab es keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, die Sache gut zu machen.

Wenn Sie in den Ferien in Ihr Dorf gefahren sind, haben da Ihre Kollegen über Sie gelacht?

Natürlich haben sie gelacht. Aber mit der Zeit, wenn ich vom Leben in der Stadt erzählt habe, vom Ballett, von der Schule, haben die Jungs aufgehört zu lachen. Sie waren ein bisschen neidisch und das hat mich auch ein wenig stolz gemacht. Vor zwei Jahren hatten wir Schulklassentreffen, das war schön und auch lustig. Manche Freunde hatte ich 25 Jahre nicht gesehen, aber ich wusste noch alle Namen. Das habe ich in der Ballettschule gelernt, weil wir uns täglich erinnern mussten, welche Kombinationen wir am Tag zuvor gelernt hatten, jede einzelne Übung. Und ich war wieder ein bisschen stolz, denn sie haben mich den ganzen Abend über mein Leben ausgefragt. Ich wollte auch wissen, was sie heute machen, aber sie sagten: Es ist wie vor zwanzig Jahren, wir sind hier, wir haben Familie, heute spielen unsere Kinder Fußball, nichts Besonderes.

Wie waren die Schulaufführungen für Sie? Haben Sie gerne daran teilgenommen?

Während der Schulzeit hatten wir zwei Vorstellungen. Eine Choreografie von unserer Direktorin Izabela Gorzkowska-Głowacka. Sie hieß „Unser Leben – unsere Träume“. Es war eine sehr schöne Vorstellung, bei der wir unsere Arbeit an der Schule gezeigt haben. Im ersten Teil ging es um eine Ballettklasse und im zweiten Teil zeigten wir eine Vorstellung. Das war meine erste Vorstellung während der Schulzeit. Und ich hatte zwar keine große Rolle, aber ich stand auf der Bühne, ein bisschen springen, ein bisschen Bewegung – das war interessant. Die zweite Vorstellung war „Cippolino“. Dort habe ich eine große Rolle bekommen. Ich war Prinz Citrus und ich war der Böse. Es war eine schöne Variation auf eine Tango-Musik, aber ich dachte, ich schaffe es nicht. Ich war mehr der romantische Typ, aber in dieser Zeit musste ich einen anderen Charakter zeigen. Ich hatte Angst, dass ich nicht gut genug bin für diese Rolle. Aber es war ein großer Erfolg.

Sie haben erzählt, dass Ihre Schwester auch in der Ballettschule war?

Meine ältere Schwester war nur bis zur fünften Klasse in der Ballettschule, da sie die letzte Prüfung nicht geschafft hat. Aber später sind noch mein jüngerer Bruder Rafał und meine jüngere Schwester Agnieszka auf die Schule gekommen. Eigentlich sind also wir vier auf diese Schule gegangen, aber nur drei haben die Schule beendet. Mein Bruder tanzt nicht mehr. Nach der Schule hat er in Łódź im Musiktheater getanzt. Meine Schwester hatte einen noch besseren Körper als ich und war sehr talentiert für das Ballett, aber sie wollte nach der Ballettschule, wie meine älteste Schwester, im Zirkus arbeiten. Meine Schwester hatte für sie eine Nummer vorbereitet, aber bei der Generalprobe war die Sicherung nicht richtig zu und sie ist aus acht Metern Höhe heruntergefallen. Nach diesem Unfall wollte sie weder im Zirkus noch im Ballett arbeiten. Das war schade, denn sie hat neun Jahre lang in der Schule hart gearbeitet und es hat unsere Eltern auch viel Geld gekostet. Ich schlug ihr vor, andere Tanzrichtungen auszuprobieren, und sie hat es mit zeitgenössischem Tanz versucht. Mit einer Gruppe ist sie dann nach Japan geflogen für eine kleine Tournee. Dort hat sie ihren Mann kennengelernt. Inzwischen lebt sie seit zwölf Jahren in Japan und hat ein Kind.

Ihre Geschwister sind alle künstlerisch begabt?

Wir sind wirklich eine große Familie, ich habe fünf Schwestern und zwei Brüder. Meine zwei älteren Schwestern und mein Bruder sind vom ersten Mann meiner Mutter, der gestorben ist, und wir fünf sind von unserem Vater, er ist leider letztes Jahr auch verstorben. Der Altersunterschied zwischen der Ältesten und der Jüngsten beträgt zwanzig Jahre. Deshalb waren wir immer ein wenig geschützt. Unsere älteste Schwester hat in dieser Zeit im Zirkus getanzt und war viel unterwegs in ganz Europa und ich erinnere mich bis heute, wie sie aus der Türkei Jeans mitgebracht hat. Auch Bananen oder Wassermelonen, das habe ich dann erstmals in meinem Leben probiert. Das war wirklich schön und etwas Besonderes.

Kommen wir zu Ihrer Zeit in der Ballettschule zurück. Wie war das mit der Prüfungsvorbereitung?

Ich muss sagen, es war schön, dass ich neun Jahre in einem Gebäude, in der gleichen Klasse, mit den gleichen Schülern verbracht habe – das passiert nicht oft. Von zehn bis neunzehn Jahren waren wir täglich zusammen. Dazu kam noch, dass Grażyna Otto-Płatek von der ersten bis zur neunten Klasse unsere Lehrerin war. Sie wusste alles über uns. Wir haben mit der Schule viele Reisen gemacht, nach Budapest, Paris, Rom, Deutschland – wir haben beispielsweise zwei Wochen bei deutschen Familien gewohnt. Die deutsche Familie, bei der ich untergekommen war, hatte drei Kinder und es war so interessant, dass ich innerhalb von zwei Wochen Deutsch sprach – ich wollte nicht zurück nach Polen. Heute lebt fast keiner aus meiner Klasse mehr in Polen, wir haben schon während der Schulzeit das schöne Leben außerhalb Polens kennengelernt. Das war sehr motivierend.

Und die Abschlussprüfung?

Bei dem Abschlussexamen mussten wir alles zeigen, was wir gelernt hatten. Im ersten Teil war es die klassische Ausbildung. Danach musste jeder eine Variation zeigen. Ich weiß, ich bin nicht der Typ Basilio aus „Don Quixote“, aber es war mein Traum, ihn zu tanzen. Auf der Bühne zeigten wir mit meiner Klasse „Les Sylphides“ von Michel Fokine und den dritten Akt aus „Der Nussknacker”, wo ich die Hauptrolle tanzte. Bei diesem Examen habe ich gefühlt, das ist nun mein Leben. Nach der Schulzeit habe ich fünfzehn Theater in Europa angeschrieben. Natürlich bekam ich keinen Job, aber alle Theater haben mir geantwortet. Ich habe bis heute all diese Briefe. Vier Jahre später war ich in Stuttgart. Zunächst bekam ich aber ein Angebot aus Warschau und einen Vertrag im Corps de Ballet. Ich wohnte dort ein Jahr im Theater. Łódź war für mich schon eine große Stadt gewesen, aber Warschau war noch größer. Und irgendwie hat für mich die Stimmung nicht gepasst. Es war nicht das, was ich gesucht hatte. Ich hatte gedacht, meine Karriere würde sich schneller entwickeln.

Das ist typisch für junge Leute, sie wollen immer alles auf einmal haben. Es ist besser, wenn eine Karriere stufenweise vorangeht.

Das verstehe ich, aber irgendwie bekam ich keine richtige Chance. Ich bin aber nicht traurig darüber, sondern froh – denn nach eineinhalb Jahren ging ich zurück nach Łódź. Ich kam dort an und am nächsten Tag gingen die Proben für eine neue Choreografie los. Ich war wirklich froh, denn das, auf das ich seit Ende der Schulzeit gewartet hatte, und was in Warschau nicht passiert war, trat nun ein: Solorollen, getrennte Proben mit Pädagogen.

Was war Ihre erste große Solorolle?

Es war etwas Besonderes, und es war auch etwas, von dem ich schon in der Schulzeit geträumt hatte: Meine erste Solorolle war in dem Ballett „Der verlorene Sohn“ von Kazimierz Wrzosek. Es war keine leichte Rolle, denn er hatte viele Ideen und wir probierten viel. Er wollte eine gute Vorstellung, darum hatten wir viele Bühnenproben, anders als in Warschau.

Sind Ihre Eltern und Geschwister zu dieser Premiere gekommen?

Nein. Es kamen zwar viele Lehrer und Pädagogen, weil ich dort vor zwei Jahren das Abitur gemacht hatte. Aber es war keine große Party mit Familie und Kollegen. Ich war damals mit meiner Freundin Monika zusammen und natürlich haben wir es ein bisschen zelebriert, aber es war nicht so ein besonderes Fest. Ich war mehr auf die Bühne fokussiert.

In Warschau hatten Sie sich nicht für Mädchen interessiert und jetzt hatten Sie eine Freundin?

Es war meine erste Liebe. Wir hatten zusammen im Internat gewohnt und kannten uns, seitdem wir zehn Jahre alt waren. Deshalb hat mich in Warschau das Nachtleben nicht interessiert – weil meine Liebe in Łódź war.

Was haben Sie in Łódź noch getanzt?

Ich erinnere mich an eine schöne Vorstellung des ungarischen Choreografen Antal Fodor, „Die Probe“. Es war ein großer Erfolg. Die Premiere war Anfang der 1990er Jahre. Ich erinnere mich, dass wir während meiner Schulzeit zweibis dreimal pro Woche eine Vorstellung im Theater gesehen haben. Wir waren sehr daran interessiert, denn das war unsere Zukunft. Und wir kannten alle Tänzer namentlich, die Solisten, Ersten Solisten, und so mancher Solist wurde später unser Pädagoge in der Schule. Wir hatten so viel Kontakt mit dem Theater. Dann tanzte ich als Jesus in „Die Probe“ eine Rolle aus einem dieser Stücke, die ich als Schüler gesehen hatte. Später auch „Requiem“ und „Carmina Burana“, alle waren von Antal Fodor. An klassischen Vorstellungen gab es nur die „Bajadere“. Und natürlich mein Lieblingsstück, eine meiner besten Vorstellungen in Polen, „Das versprochene Land“ von Gray Veredon. Ich tanzte die Rolle von Karol Borowiecki und alles spielte in Łódź. Veredon hat das Stück eigentlich für mich gemacht. Es war eine sehr schwere Vorstellung, es gab unglaublich viel zu tanzen und am Schluss hatte das Stück eine sehr schöne, aber sehr schwierige Variation – ein sehr langsames Adagio. Aber es war wirklich eine meiner Lieblingsvorstellungen. Ich habe sehr gute Kritiken für diese Rolle bekommen. Es ist das Schönste im Ballettleben, direkt mit einem Choreografen zusammenzuarbeiten. Nicht eine Rolle zu lernen, die es bereits gibt, sondern eine neue Kreation mit jemandem zusammen zu erarbeiten, das ist wirklich etwas Besonderes.

Sind klassische Stücke für eine Kompanie wichtig?

Ja, ich denke, sie sind für jede Kompanie sehr wichtig! Vor allem auch, um die Kondition zu halten – dann kann man alles tanzen. Aber wenn man lange nicht klassisch tanzt, geht die Kondition weg. Sie ist das Fundament des Tanzes, wenn es keine Kondition gibt, wird die Kompanie nicht stark.

Wenn man sich Ihr Repertoire in Łódź anschaut, dann sieht man, dass Sie absolut alles getanzt haben.

Es war nicht so viel, aber ich habe alles getanzt. Kazimierz Wrzosek hatte mir gesagt: Wenn du nach Łódź kommst, übernimmst du alle Solorollen. Er wollte eine neue Kompanie aufbauen und suchte so einen Tänzer wie mich. Ich war sehr froh, auch für meine Zukunft, denn ich lernte viel.

Ist es schwierig, so ein breites Repertoire zu tanzen?

Am Anfang hatte ich Angst, denn ich hatte noch keine Erfahrung. Aber auf der anderen Seite war es auch eine gute Motivation, zeigen zu wollen, dass ich das gut machen kann. Denn es waren wieder sechzig Tänzer da, die zuschauten. Alle sechzig Tänzer kontrollierten, ob das gut war, was man machte, denn auch die anderen Tänzer wollten tanzen. Es war wie ein kleiner, freundlicher Wettbewerb. Und dieser Wettbewerb findet jeden Tag statt, jeden Tag musst du zeigen, dass du wirklich gut bist. Alle möchten besser sein als die anderen.

Wie bereiten Sie sich auf eine Rolle vor?

Am Anfang lerne ich die Schritte. Dein Körper muss sich an alle Schritte erinnern und dann musst du dir überlegen, was das Wichtigste für die Rolle ist. Wenn du einen Prinzen tanzt, tanzt du anders, als wenn du einen Jungen beispielsweise aus „Carmina Burana“ tanzt. In Stuttgart war dann alles anders. Ein anderes Denken, ein anderes Arbeiten, nicht Schritt für Schritt, sondern du hast gleich alles auf einmal gelernt. Wenn du lernst, lernst du alle Schritte mit Gefühl. Es gab dort nicht zwei Monate Zeit, um alles zu lernen, manchmal musste man innerhalb von zwei Wochen eine Rolle lernen und dann auf der Bühnen zeigen: Das ist nicht Wieslaw Dudek, sondern zum Beispiel Tybalt. Und auch die Arbeitszeit war eine ganz andere als in Polen.

Endlich tanzen Sie sehr viele Solorollen, nehmen an Choreografien teil, die teilweise extra für Sie entstehen, und plötzlich beschließen Sie, auch aus Łódź wegzugehen.

Nein, das war nicht plötzlich, denn dieses Ziel ins Ausland zu gehen war immer da. Mein Traum war die Opéra National de Paris, wofür die Chance ganz klein war, aber das war mein Traum. Ich war sehr fasziniert von Rudolf Nurejews Choreografien. Ich hatte alle seine Choreografien gesehen. Ich war froh über die Zeit in Łódź, weil ich viele erste Rollen getanzt hatte, aber ich verstand, dass das nur der erste Schritt war, und dass ich weiter wollte. Während ich in Łódź gewesen war, hatte ich an vielen Auditions teilgenommen. Und dann hat mich einer meiner Kollegen aus dem Internat angerufen, mit dem ich fast neun Jahre im gleichen Zimmer gelebt hatte – er, mein Bruder und ich wohnten zu dritt in einem Zimmer. Er hatte zwei Jahre lang in Stuttgart die Ballettschule besucht, weil seine Eltern in Stuttgart wohnten, und hatte nach der Ballettschule in Stuttgart einen Vertrag im Corps de Ballet bekommen. Er sagte immer: „Diese Company ist unglaublich, die besten Tänzer sind hier. Ich bin nur im Corps de Ballet, aber ich bin wirklich froh, denn ich kann hier die besten Tänzer der Welt sehen. Vladimir Malakhov ist hier.“ Da habe ich meine Ohren gespitzt und ihn gefragt, ob er nicht den Direktor fragen könne, ob ich dort vortanzen dürfe. Ein paar Tage später rief mein Freund an und sagte, dass ich kommen sollte. Einen Monat später war ich schon in Stuttgart. Ich erinnere mich wie heute: Es war Sonntag, ich hatte „Carmina Burana“ getanzt, eine schwere Vorstellung, und danach fuhr ich die ganze Nacht mit dem Auto nach Stuttgart und absolvierte dort morgens das Vortanzen. Dann fuhr ich wieder zurück nach Łódź, denn dort hatte ich am Mittwoch wieder eine Vorstellung. Niemand wusste, dass ich in Stuttgart gewesen war. In Stuttgart hatte ich ein Training gemacht. Nach drei, vier Übungen an der Stange kam der Direktor Reid Anderson und sagte: „Wenn du willst, kannst du ab morgen hier anfangen.“ Ich war so überrascht! Kein richtiges Vortanzen und nach zehn Minuten sagen sie, ich könne bleiben. Aber so einfach war es nicht, denn ich brauchte ein Visum und Reid sagte: „Wir schicken dir alle Papiere und dann können wir das in Ruhe vorbereiten.“

Sie haben wieder mitten in der Saison die Kompanie gewechselt?

Ich sprach mit meinem Direktor und sagte ihm, es ist zwar mitten in der Spielzeit, aber ich möchte zu einer guten Kompanie gehen. Er erwiderte: „Wenn es eine gute Kompanie ist, kannst du gehen – wenn nicht, musst du bis zum Ende der Saison bleiben.“ Als ich sagte, es ist Stuttgart, meinte er: „Geh, sofort!“

Wie hat Ihre Familie auf den Umzug reagiert?

Alle waren begeistert. Es war im März 2000 und alle waren froh, denn in Polen konnte ich nicht so viel verdienen. Als ich den Vertrag in Stuttgart unterzeichnete, habe ich nicht nach dem Geld gefragt. Aber ich war sicher, dass ich schon gutes Geld verdienen würde. In Łódź war ich schon Erster Solist gewesen, aber in Stuttgart bekam ich einen Vertrag im Corps de Ballet. Ich musste wieder von vorne anfangen und überlegte einen Moment lang, ob das das Richtige war. Aber dann habe ich die Tänzer gesehen, ihr Repertoire, und ich dachte, das ist eine andere Welt. Es war die goldene Zeit des Stuttgarter Balletts: von 1999 bis 2004.

Aber es war für Sie auf vielen Ebenen schwer. Zum ersten Mal im Ausland, in so einer Kompanie, ohne Sprachkenntnisse. Wenn man sich das überlegt, waren Sie sehr mutig.

Zum Glück, sonst hätte ich es nicht geschafft. Wenn ich jetzt die Aufnahmen von der Stuttgarter Zeit anschaue, sehe ich, dass alle sehr jung waren und das Level des Corps de Ballet unglaublich hoch war. Und man muss auch sagen, diese Corps-de-Ballet-Tänzer sind heute alle Erste Solisten.

Wie waren Ihre ersten Wochen in Stuttgart?

Nach Stuttgart fuhr ich mit einem Koffer und einem Karton. Am Anfang war es schwierig, eine Wohnung zu finden, denn Wohnungen waren teuer. Aber ich konnte bei der Familie von meinem Freund Tomek wohnen. Das Problem war, dass sie nicht direkt in Stuttgart wohnten, sondern in Sindelfingen – das ist etwa vierzig Minuten von Stuttgart entfernt. Für mich war es schwer, denn ich musste immer mit dem Autor fahren, und oft gab es Stau oder ich verfuhr mich oder mein Auto wurde abgeschleppt. Es war also eine stressige Zeit und ich konnte die Sprache nicht. Zum Glück gab es in der Kompanie zwei polnische Mädchen sowie Tomek und Filip Barankiewicz, die ein bisschen helfen konnten. Die ersten Monate konnte ich es gar nicht glauben, dass ich wirklich in Stuttgart tanzen durfte. Alles war so neu, und ich war begeistert, dass ich es geschafft hatte. Nun hatte ich Geld und ich war in einer guten Kompanie. Leider konnte ich die Verbindung mit meiner ersten Liebe Monika nicht halten – denn Stuttgart war über tausend Kilometer von Łódź entfernt. In weniger als einem Jahr war die Beziehung zu Ende.

War es schwer, sich im Repertoire in Stuttgart zurechtzufinden?

Sehr schwer. Es war ein anderes Repertoire als in Polen. Es gab viele Stücke von John Cranko. Ich hatte in Polen ein wenig über Cranko gehört, aber nur ganz wenig. Meine Kollegen in Stuttgart erzählten mir, wer John Cranko ist, was er gemacht hatte. Aber nachdem ich die erste Vorstellung von „Onegin“ gesehen hatte, war ich völlig fertig, denn die Vorstellung war so gut! Und es war eine Vorstellung, in der man als Publikum Kontakt mit den Tänzern auf der Bühne hatte, die Tänzer posierten nicht oder waren wie tanzende Puppen, sondern du konntest ihren Atem spüren und jede Bewegung war wie Sprechen, aber ohne Worte. Natürlich konnte ich nicht sofort tanzen, weil ich erstmal das ganze Repertoire lernen musste. Aber ich war von Anfang an begeistert und arbeitete doppelt so viel wie in Polen. In Polen hatte ich schon viel gearbeitet, aber für Stuttgart reichte das nicht.

Wenn Ihnen damals jemand gesagt hätte, dass Sie einmal die Titelrolle in „Onegin“ tanzen würden, hätten Sie das geglaubt?

Nein! Besonders für diese Rolle gab es die Tradition, dass man mindestens um die dreißig Jahre alt sein musste und es darum für jüngere Tänzer unmöglich war, die Rolle zu tanzen. Lenski ja, aber Onegin – nein. Ich finde auch, dass diese Rolle etwas Besonderes ist, die kann man nicht so jung tanzen – und nicht wegen technischer Schwierigkeiten.

Technik ist bei dieser Rolle nicht das Wichtigste.

Genau, wenn du die Geschichte von „Onegin“ nicht vom ersten bis zum dritten Akt erzählst, dann ist das Stück auch für das Publikum nicht interessant. Und Gott sei Dank konnte ich in Stuttgart tolle „Onegin“-Vorstellungen sehen. Dort waren es Roland Vogel, Tamas Detrich oder Ivan Cavallari, die Onegin tanzten, und Vladimir Malakhov als Lenski – das war ein Traum. Ich werde nie vergessen, wie er Lenski tanzte! Ich kannte ihn vom Video aus der Schulzeit. Er hat uns gezeigt, dass Ballett und die Tänzer auch etwas Anderes sein können. Die Linien, der Körper, die unglaubliche Technik – ich habe von Vladimir sehr viel gelernt. Eines Tages kam ich in Stuttgart von meiner Garderobe die Treppe herunter und da saß Vladimir und rauchte eine Zigarette. Oh Gott, dachte ich, er ist ... wasn’t in Stuttgart, but rather in Ludwigshafen. It was a wirklich hier! Er war ganz normal und sagte: „Hallo, ich habe gehört, dass du hier neu bist, ich bin Vladimir.“ Ich hatte so einen großen Respekt, aber er war ganz normal.

Ihre erste Vorstellung in Stuttgart ...

... war nicht in Stuttgart, sondern in Ludwigshafen. Es war ein Gastspiel und wir zeigten „Giselle“. Es war nicht so schwer, ich habe im Corps de Ballet getanzt, aber es war zwei oder drei Wochen, nachdem ich angekommen war. Deshalb war ich sofort damit beschäftigt, das Stück zu lernen. Meine Premiere mit dem Stuttgarter Ballett war also in Ludwigshafen. Es war keine große Rolle, aber ich wollte es gut machen. Danach sind wir nach Stuttgart gefahren und haben sofort mit den Proben von „La Fille mal gardée“ von Frederick Ashton begonnen. Das wurde damals zum ersten Mal in Stuttgart gezeigt und deshalb hat die ganze Kompanie die Schritte von dem Choreografen gelernt. In der ersten Probe konnte ich jedoch sehen, dass ich viel würde arbeiten müssen, denn es musste alles perfekt sein. Das Level der Kompanie war wirklich hoch.

Warum gibt so große Unterschiede?Eigentlich ist die Ausbildung in Polen ja sehr gut?

In Polen wurden wir nicht auf das Leben in der Kompanie vorbereitet. In Deutschland werden sie in den letzten Jahren schon an die Kompanie herangeführt. Sie tanzen Repertoire und Moderne und teilweise dürfen sie schon bei Vorstellungen mittanzen. Das polnische Schulsystem ist alt und muss sich ändern. In der ganzen Welt hat sich die Technik verändert, aber in Polen ist es noch wie vor zwanzig Jahren. Es gibt zu wenig Verbindung zwischen dem letzten Schuljahr und der Kompanie. Die Schule muss mehr tanzen und den Schülern mehr Repertoire zeigen. Ich habe viele polnische Schüler beim Vortanzen in Stuttgart oder Berlin gesehen und sie schaffen es nicht. Sie haben gutes Material, aber wenn sie ein bisschen aus dem Repertoire tanzen sollen, dann schaffen sie es nicht.

In der Schule lernen sie das Alphabet – aber nicht, es umzusetzen.

So kann man das sagen. Ich hatte das Glück, dass ich, bevor ich nach Stuttgart zum Vortanzen ging, schon vier Jahre im Theater getanzt hatte. Ohne diese Erfahrung hätte ich es in Stuttgart nicht geschafft. In der Kompanie brauchen sie Tänzer, die sie sofort einsetzen können. In Stuttgart hatten wir immer am Ende der Saison ein Gespräch mit dem Direktor, in dem das Jahr reflektiert wurde und es einen Ausblick für die nächste Saison gab.

Wie war Ihr erstes Gespräch?

Es war im Juni, ich war gerade vier Monate da. Ich konnte schon ein bisschen Englisch. Deutsch habe ich erst nach eineinhalb Jahren angefangen zu lernen, denn die Kompanie war so international, dass Englisch erstmal wichtiger war. Reid hat zum Glück nicht so viel gefragt, sondern ganz langsam gesagt, er sei froh, dass ich da bin. „Ich sehe, du hast gutes Material. Ich habe viele Pläne mit dir in der Zukunft. Aber zuerst musst du die Sprache lernen, damit ich mit dir sprechen kann.“

Hatten Sie da schon eine Wohnung?

Ja, nach zwei Monaten fand ich eine kleine Wohnung, ein langes Zimmer in einem Dachgeschoss mit einer kleinen Küche und einer kleinen Dusche. Davor hatte ich immer mit Kollegen zusammengewohnt und als ich meine erste Wohnung alleine hatte, war ich sehr traurig. Ich fühlte mich alleine und war nicht zufrieden. Trotzdem dachte ich nicht eine Minute daran, nach Polen zurückzugehen. Ich dachte immer: Es wird eine bessere Zeit kommen. Aber ich muss auch für diese bessere Zeit arbeiten.

Wann haben Sie sich in Stuttgart zuhause gefühlt?

Ich denke, das war nach zwei Jahren. In der Kompanie ging es schneller, es gab viele junge Leute und wir waren gute Kollegen, aber in der Stadt dauerte es. Trotzdem habe ich auch dort viele gute Leute getroffen. Die meisten waren große Ballettfans, die alle Tänzer vom Corps de Ballet über die Solisten bis hin zu den Ersten Solisten kannten. Sie wussten, was sie getanzt hatten und mit wem. Das war schön, und später, als ich Deutsch sprechen konnte, war es interessant, mit ihnen zu sprechen und zu hören, was die Leute über die anderen Tänzer oder mich dachten und welche Rollen ihnen gefielen.

Mit dem Stuttgarter Ballett haben Sie viele Tourneen gemacht.

Sehr viele. Und ich denke, das ist auch ein wichtiger Punkt für eine Kompanie. Weil man dann sehen kann, ob sie wirklich wie eine Familie ist, oder ob es Probleme gibt.

Es gibt keine andere deutsche Kompanie, die so viel reist.

Das stimmt! Das hängt damit zusammen, dass Stuttgart weltweit die einzige Kompanie ist, die Stücke von John Cranko im Ausland tanzen darf. Aus diesem Grund sind alle daran interessiert, das Stuttgarter Ballett einzuladen. Sie tanzen dann nicht nur Cranko, sondern auch andere Stücke, aber Cranko ist immer dabei. Die Kompanie ist Spitzenklasse in diesen Stücken.

Wie war das mit den modernen Stücken in Stuttgart?

Das war sehr schwer für mich, weil ich das in Polen nicht gelernt hatte. In Warschau und Łódź hatten wir keine richtig modernen Stücke und das war mein schwächster Punkt in Stuttgart. Aber mit der Zeit habe ich auch das Moderne gelernt und mit jungen Choreografen zusammengearbeitet. Ich habe viel Neoklassik getanzt, beispielsweise von Uwe Scholz, oder von John Neumeier die „Kameliendame“, und es war nie langweilig. Häufig hat man morgens neoklassisch gearbeitet und abends klassisch getanzt oder umgekehrt.

Und vor allem war die Qualität der Choreografien sehr hoch, das Beste vom Besten.

Ja, egal ob man im Corps de Ballet oder als Solist tanzte. Jedes kleinste Stück war von bester Qualität. Dazu gibt es in Stuttgart noch die Tradition, jungen Choreografen eine Chance zu gegeben. Das war eine sehr interessante Arbeit mit meinen Kollegen.

Wie war es für Sie, mit Ihren Idolen wie Malakhov zusammenzuarbeiten?

Ich erinnere mich noch wie gestern daran, wie ich mit ihm „Romeo und Julia“ getanzt habe. Ich war Paris und am Ende der Choreografie versuche ich, ihn zu töten. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals mit meinem Idol auf einer Bühne stehen würde, aber wenn du auf der Bühne stehst, ist es anders. Du bist dann eine Rolle und die musst du zeigen. Du bist dann nicht Wieslaw und das ist nicht Vladimir Malakhov, sondern du bist Paris und er ist Romeo.

Wie ist das als Corps-de-Ballet-Tänzer, lernt man dann etwas von den Solisten?

Natürlich! Zumindest ging es mir so. Die Augen sind immer auf dein Idol gerichtet. Wenn Vladimir tanzte, sagten alle: Oh, ich will auch, so, so schön! Ich möchte auch so tanzen! Wenn du es auf dem Video anschaust, hast du immer eine Scheibe, aber wenn du auf der Bühne bist, hörst du seine Stimme, du kannst die Atmung hören – es war unglaublich. Ich erinnere mich an „Dornröschen“ von Marcia Haydée mit Vladimir. Wunderbar! Er hatte so einen leisen Sprung, wie eine Katze, du hast nichts gehört. Ruhe, als ob nichts passiert sei. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, denn die Bühne knackte an manchen Stellen, aber von ihm hast du nie Geräusche gehört. Dann habe ich auch in „Kameliendame“ getanzt – Armands Vater. Ich war sehr jung für diese Rolle, aber John Neumeier sagte zu mir: „Ich sehe dich in dieser Rolle und du wirst es machen, aber du musst lernen zu laufen.“ Ich musste einen Mann spielen, der sechzig Jahre alt war und es war recht schwer, aber es war ein großer Erfolg. Alle sagten: Du hast diese Rolle so gut gespielt! Und in dieser Vorstellung tanzte auch Vladimir. Am Ende des Pas de deux gibt es eine Szene in einer Bar. Er kommt und ich sehe, dass er großen Durst hat. In der Szene muss ich ihm eine Flasche reichen und ich füllte richtiges Wasser ein. Er kam danach zu mir und sagte: „Danke, danke – ich war so durstig!“ Oder einmal, in einer „Don Quixote“-Vorstellung, brachte ich richtige Früchte auf die Bühne, und alle haben davon gegessen und waren froh. In Stuttgart war so etwas möglich: „Oh, gute Idee, warum nicht!“ Ich denke, wenn jemand mal in Stuttgart war, kennt er das Gefühl einer Kompanie, das Cranko dort hinterlassen hat. Du wirst es nie vergessen.

Stuttgart hat aus Ihnen einen Solisten gemacht?

Dort habe ich eine Entwicklung zum Solisten gemacht. Diese drei Jahre fühlen sich an wie sieben oder acht Jahre, so viele neue Rollen, so viele Premieren, so viele Tourneen. In einer Spielzeit haben wir oft drei, vier verschiedene Tourneen gemacht. Amerika, Hongkong, Japan, Korea, Italien und dazu noch fast hundert Vorstellungen mit der Kompanie.

Als Gruppentänzer waren Sie in jeder Vorstellung?

Ja, und wenn nicht in der Gruppe, dann als Solo. Heute Solo und morgen Gruppe.

Hat man genug Geld bekommen, um gut davon leben zu können?

Für ein normales Leben hat es gereicht. Man konnte die Wohnung bezahlen, Kleider kaufen, ins Restaurant gehen und auch ein bisschen sparen. Und wenn wir als Gruppentänzer ein Solo getanzt haben, haben wir zusätzliches Geld bekommen.

Wie war Ihr Privatleben? Hatten Sie dafür überhaupt Zeit?

Am Anfang war dafür keine Zeit, denn ich war zu müde, mein Körper war zu erschöpft und ich war auch zu schüchtern, denn ich konnte die Sprache nicht. Manchmal habe ich ein bisschen Alkohol getrunken und konnte die Hemmungen ablegen. Dann habe ich polnische, englische und deutsche Worte in einem Satz benutzt und die Leute haben mich verstanden. So habe ich angefangen zu sprechen. Manchmal hilft ein bisschen Alkohol, um den Stress zu überwinden, der Körper ist entspannt und ich war selbst überrascht, wie viele Worte ich kannte.

Wie ist es bei Ihnen mit der Angst vor der Vorstellung? Kennen Sie die?

Jeder kennt sie, mehr oder weniger. Ich denke, das kommt automatisch, bei verschiedenen Rollen ist es auch ein unterschiedliches Thema. Wenn du zum Bespiel eine Premiere tanzt, ist die Angst am größten. Du gehst auf die Bühne und zeigst deine neue Rolle und möchtest das Beste zeigen, aber alles ist neu. Bei einer Vorstellung, die du schon häufig getanzt hast, ist sie geringer. Aber die Angst ist immer dabei. Ich kenne niemanden, der sie nicht hat.

Ist sie stark bei Ihnen?

Bei Vorstellungen, die ich gerne tanze und bei denen ich weiß, dass ich sie gut tanzen kann, ist wenig davon da, so wie in „Tschaikowsky“, „Onegin“ oder „Ring um den Ring“, und ich genieße diese Vorstellungen. Stärker ist es bei klassischen Vorstellungen, denn dort sieht man alles. Jede Bewegung muss sauber und korrekt sein.

Haben Sie Rituale vor der Vorstellung?

Natürlich. Morgens stehe ich auf wie immer, leichtes Frühstück und Kaffee, und gehe arbeiten. Dann komme ich zurück nach Hause und esse wieder etwas, zum Beispiel leichte Pasta mit Tomatensauce oder Zwiebel, und dann gehe ich schlafen für mindestens eine Stunde. Danach stehe ich wieder auf wie morgens. Eine Tasse Kaffee und ein kleiner Kuchen und ich packe zwei Bananen ein und gehe zur Vorstellung – so ist mein Tag. Am Tag vor der Vorstellung esse ich gutes Fleisch. So ein großes Steak mit Salat, damit ich Energie bekomme, aber am Tag der Vorstellung esse ich wenig. Besser ist es, dass du Hunger hast, als dass du voll bist. Wenn du dir vorstellst, was um neunzehn Uhr passiert, dass du alleine auf die Bühne gehst und dort zweitausend Leute sitzen und nur auf dich schauen ... Wenn du dir das vorstellst, hast du keinen Hunger mehr.

Spürt man die Leute im Saal?

Wenn das Theater etwas kleiner ist, wie die Staatsoper Unter den Linden oder das Schiller Theater, dann spüre ich sie. In der Deutschen Oper, die größer ist, spüre ich sie nicht. Manchmal ist das auch besser. Manchmal hilft es, wenn du sie nicht siehst. Bei manchen Vorstellungen hast du so ein starkes Licht von vorne, dass du nichts siehst.

Was gibt Ihnen der Applaus nach der Vorstellung?

Das ist der Preis! Wenn du weißt, es war eine gute Vorstellung und du kommst für die letzte Verbeugung auf die Bühne, dann ist das der beste Preis, den du bekommen kannst. Kein Geld kann dich glücklicher machen. Wir arbeiten Hunderte von Stunden im Studio für eine Vorstellung und im Studio sagt niemand: „Das ist gut.“ Die Ballettmeister geben dir nur Korrekturen. Du hörst immer nur Kritik und dann ist der Applaus der Preis. Manchmal ist man komplett kaputt nach einer Vorstellung, insbesondere wenn man mehr Ausdruck als Technik geben muss. Wenn es nur um Technik geht, ist es wie Sport, aber wenn du eine Rolle über mehrere Akte entwickeln und erzählen musst, bist du danach total kaputt. Nach der Vorstellung ist es noch gut, aber dann kannst du wegen des Adrenalins bis drei oder vier Uhr morgens nicht schlafen und am nächsten Tag bist du total tot. Dann musst du wieder ins Theater und du fühlst dich wie ein Zombie. Eigentlich brauchst du ein, zwei Tage totale Ruhe, aber manchmal hast du zwei Tage später schon wieder Vorstellung. Das ist schwer, das ist wirklich schwer!

Ihr ganzes berufliches Leben lang sagt man Ihnen, was Sie schlecht machen, es wird Ihnen immer gesagt, was Sie machen müssen. Hat man nicht irgendwann genug?

Unsere Arbeit ist nie perfekt, nie gut genug und immer kann man es besser machen. In der Vorstellung geben wir immer hundert Prozent. Manchmal ist die Vorstellung gut und manchmal ist sie weniger gut. Nach der Vorstellung sagen uns die Ballettmeister immer: Es war gut. Aber am nächsten Tag hören wir dann die Kritik und besprechen, was gut und was nicht so gut war. Manchmal kommt es in einer Probe jede zweite Minute zum Stopp, zur Wiederholung, zur Korrektur, und wenn du am nächsten Tag in den Probensaal kommst, musst du die Korrekturen von gestern in deinem Kopf löschen und du bekommst wieder neue Korrekturen. Aber wir hören das von der ersten Minute in der Ballettschule an bis zur letzten Vorstellung.

Interessiert es Sie, Ihr Wissen weiterzugeben?

Pädagoge zu sein ist eine schwere Entscheidung, denn nicht jeder gute Tänzer ist ein guter Pädagoge. Man braucht eine Begabung dafür. Aber für mich war die pädagogische Seite immer sehr interessant. In unserem Beruf ist es sehr wichtig, einen

sehr guten Pädagogen zu haben. Er muss wissen, was wir am Freitag und was wir am Montag arbeiten. Und es ist wichtig, darauf aufzupassen, dass alles von Kopf bis Fuß stimmt, insbesondere wenn du mit Kindern arbeitest. Natürlich gibt es viele Pädagogen, aber nur ganz wenige, die ganzheitlich sehen, Rollen vermitteln und Erfahrungen weitergeben können.

Sie haben eine pädagogische Ausbildung.

Ja, ich habe in Stuttgart ein Diplom gemacht, weil ich nach meiner Tanzkarriere ein Pädagoge sein möchte. Es ist nicht so, dass ich das Diplom gemacht habe und schon alles weiß. Sondern je mehr Erfahrung man hat, desto mehr kann man geben.

Das ist eine große Verantwortung. Wenn Sie auf die Bühne gehen und schlecht tanzen, dann buht das Publikum, aber Sie schaden niemandem. Wenn Sie es den Kindern hingegen falsch beibringen ...

Das ist eine riesige Verantwortung, aber ich mag es. Ich habe gesagt, ich lerne jeden Tag noch dazu. Und ich frage die besten Pädagogen: Was denkst du, was soll ich noch machen und wie?

Du kannst so etwas nicht aus einem Buch lernen, sondern vor allem aus der Erfahrung der anderen.

Seitdem Sie im Ausland arbeiten, sind Sie immer wieder in Polen aufgetreten.

Nicht so viel. Nicht, weil ich keine Einladung bekommen hätte, sondern weil ich oft keine Zeit hatte. Wenn du hundert Vorstellungen in der Saison tanzt, sind das circa zehn Vorstellungen pro Monat und du musst sie alle vorbereiten. Da ist keine Zeit, um länger als zwei Tage zu gastieren. Und auch das ist riskant, denn dann hast du vielleicht keine Zeit für die Proben. Und ich mag das nicht, weil das Risiko, dass die Vorstellung nicht gut wird, hoch ist. Wenn du eine Gala mit einer Partnerin aus der Kompanie tanzt, dann kannst du es zuhause vorbereiten und zur Vorstellung oder Gala fahren. Aber wenn du eine ganze Vorstellung mit einer unbekannten Partnerin tanzt, kannst du nicht die beste Qualität geben.

In Stuttgart haben Sie auch angefangen zu choreografieren.

Das war auch eine interessante Erfahrung. Eigentlich spüre ich mehr Leidenschaft für Pädagogik als für Choreografie. Als Choreograf kannst du nicht als Pädagoge denken. Du musst frei sein, improvisieren. Viele haben mich gesehen und gesagt, Wieslaw, du hast ein choreografisches Talent. Aber ich habe Angst zu versagen. Bei der Choreografie weiß ich nicht, ob es dem Publikum gefallen wird. Damals war ich mit meinen Gedanken schon in Berlin. Ich war zu dieser Zeit viel mit dem Auto auf der Autobahn unterwegs. Dort siehst du nur die Autobahnverkehrszeichen, und ich dachte, vielleicht kann ich das für meine Choreografie nutzen. Ich habe angefangen, mit meiner Kamera die Verkehrszeichen zu fotografieren, und danach habe ich sie in meiner Choreografie benutzt. Es hat allen gefallen, das Publikum hat gelacht. Es war kein großer Erfolg, aber es hat mir Spaß gemacht.

Wann war das?

Es war in 2003 in Stuttgart im Kleinen Haus. Ich habe auf dieser Bühne getanzt und es gab noch zwei, drei weitere Vorstellungen.

Neben Ihnen haben andere ihre Stücke aufgeführt?

Ja, es waren Bridget Breiner und Marco Goecke, heute ein sehr berühmter Choreograf. Das war die Idee des Stuttgarter Balletts. Alle berühmten Choreografen wie John Neumeier, Jiří Kylián oder William Forsythe sind in Stuttgart „geboren“, weil sie sich dort ausprobieren konnten. Ich bin froh, dass ich das machen konnte.

Warum danach Berlin?

In Stuttgart habe ich bereits mit Vladimir zusammengearbeitet und ihn als sehr guten Tänzer und Menschen kennengelernt. Und als ich hörte, dass er nach Berlin geht, war ich von Anfang an sehr interessiert. Ich bin nicht sofort mit ihm mitgegangen, sondern ich habe ein Jahr gewartet. Aber er sagte mir: „Wenn du in Stuttgart unzufrieden bist, komm nach Berlin. Du wirst sofort viel tanzen.“ Trotzdem bin ich noch ein Jahr in Stuttgart geblieben. Ich fragte Reid Anderson, ob er die Möglichkeit sieht, dass ich mehr tanzen kann. Er sagte: „Ich habe Pläne für dich, aber ich kann dir nicht sagen, dass du heute das und dastanzen  kannst. Ich verstehe deine Situation, aber du musst auch meine Situation verstehen.“ Es war schön, dass ich mit meinem Direktor darüber sprechen konnte. Es war ein ehrliches Gespräch und er gab mir das Gefühl, frei zu sein. Ich habe die Chance ergriffen und bin nach Berlin gegangen. Weil Vladimir dort war, hatte ich das Gefühl, das wird eine gute Kompanie. Er hatte mir gesagt, dass er viele Pläne für mich hätte.

Und Sie haben in der Staatsoper Unter den Linden mit einem Vertrag als Solist angefangen und hatten gleich viel zu tanzen?

Ich hatte riesige Angst vor dieser großen Stadt. Davor war ich in Berlin nur auf der Durchreise nach Polen gewesen. Ich musste zu einem privaten Vortanzen anreisen. Vladimir sagte, du kannst dann und dann kommen. In Berlin habe ich dann das Training mitgemacht und alles ist gut gelaufen. Nach dem Training ging ich zu ihm und fragte ihn, was ich für einen Vertrag bekommen würde. Und er sagte: einen Solovertrag. Ich habe nicht weiter nachgefragt, ich war so glücklich! Dann bin ich noch einen Tag in Berlin geblieben und habe mir die Stadt angeschaut und fand es schön. Es gab eine gute Energie in der Stadt. Aber ich bin nicht wegen der Stadt nach Berlin gezogen, sondern für meine Laufbahn. Ich war nicht mehr neunzehn Jahre alt, sondern schon fast dreißig, und ich habe mir gesagt: Entweder jetzt oder nie.

Ein Solovertrag auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite eine riesige Verantwortung, eine Fülle neuer Rollen, wichtiger, schwerer Rollen. Hatten Sie Angst davor?

In Stuttgart hatte ich auch schon große Rollen getanzt und ich hatte keine Angst. Wenn ich in Stuttgart keine Angst vor großen Rollen hatte, warum sollte ich es in Berlin haben? Klar, es war wieder eine neue Kompanie und ich musste mich wieder unter Beweis stellen. Aber ich hatte weniger Angst als in Stuttgart. Mein erster Auftritt war in Uwe Scholz’ „Ein Lindentraum“. Ich tanzte mit Nadja Saidakova und bei der Probe haben wir von der Kompanie viel Applaus bekommen – mehr als nach der Vorstellung. Wenn die Kompanie dir so viel Applaus gibt, so von Herzen, dachte ich, bin ich froh in Berlin zusein. Und die Vorstellung war auch gut. Vladimir hat die Kompanie neu aufgebaut und viele Tänzer nach Berlin geholt, die Vorstellungen waren ausverkauft. Ich war froh, dass ich dabei sein konnte.

Haben Sie viel getanzt in der ersten Saison?

Nicht so viel, weil ich, seitdem ich den Solovertrag hatte, nicht mehr im Corps de Ballet tanzte, sondern nur noch Solorollen. Ich war weniger auf der Bühne als in Stuttgart, aber nur noch mit Solorollen und so hatte ich mehr Zeit die Rollen vorzubereiten. Ich musste mein Repertoire aufbauen.

War es nicht schwierig für Sie, in eine Truppe zu kommen, wo Vladimir Malakhov der Star war?

Nein, deshalb bin ich ja nach Berlin gekommen. Als ich jung war, war Vladimir mein Idol. Er war schon damals ein Superstar. Ich erinnere mich, als ich noch in der Ballettschule war, dass ich von Vladimirs Videos die Pas de deux und die Variationen gelernt habe. Deswegen wollte ich noch mehr von ihm lernen und mit Vladimir zusammenarbeiten, denn ich finde, er ist etwas Besonderes. Das kann nicht jeder haben – wie damals mit Nurejew. Die Tänzer, die mit ihm gearbeitet haben, waren superglücklich und haben danach gesagt, dass sie froh sind, dass sie von so einem besonderen Tänzer lernen konnten. Für mich war es dasselbe mit Vladimir.

Haben Sie gewusst, welche Revolution in Berlin stattfinden würde?

Nein, davon hatte ich nichts gehört. Erst als ich da war, kamen die Gerüchte auf, dass aus den drei Kompanien vielleicht eine große gemacht wird. Vom Staatsballett als Name war damals noch keine Rede, sondern nur davon, dass man eine große Kompanie schaffen wolle. Das war etwas chaotisch, weil man nicht wusste, was passiert – wer geht und wer bleibt oder wer kommt. Aber Gott sei Dank war alles unter Vladimirs Namen und dem der Staatsoper. Es sind dann eigentlich nur einige Tänzer und Pädagogen von den anderen Ensembles zu uns gekommen. Dann, 2004, kam der Name Staatsballett Berlin. So hat das Staatsballett angefangen und für uns hieß das mehr

Arbeit. In der Staatsoper Unter den Linden hatten wir etwa fünfzig Vorstellungen pro Saison, nicht mehr. Das Staatsballett hatte drei Bühnen zu betanzen, deswegen gab es jetzt viel mehr Vorstellungen. Es waren weit über hundert Vorstellungen pro Spielzeit. Für die künstlerische Seite war das schön, weil wir dadurch auch mehr verschiedene Stücke und Choreografen und damit unterschiedliche Stile im Programm hatten. Nicht nur Klassik und Neoklassik, sondern auch Modernes.

Ich glaube, die Kompanie hat die große Chance für sich erkannt und jeder hat alles gegeben.

Natürlich! Die Idee von Vladimir war es, die beste deutsche Kompanie aufzubauen. Natürlich ging das auch mit Verlusten einher, einige Tänzer haben damals ihren Job verloren. Aber viele von der Staatsoper Unter den Linden wurden übernommen und dann, als das Staatsballett Berlin anfing, haben wir mit der Kompanie der Deutschen Oper auf der Bühne von der Deutschen Oper getanzt. Ich erinnere mich, dass ich in „Schneekönigin“ von Ray Barra tanzte. Dort hatte sich ein Tänzer verletzt und sie haben die Betriebsdirektorin Christiane Theobald gefragt, ob jemand vom Staatsballett Berlin einspringen könnte. Ich bin dann eingesprungen und ich erinnere mich, dass in diesem riesigen Haus mit zweitausend Plätzen nur dreihundert verkauft worden waren. Ich tanzte diese Vorstellung mit Christine Camillo, es war ihre letzte Vorstellung. Danach ist sie meine Ballettmeisterin beim Staatsballett geworden – heute erinnern wir uns manchmal an diese Vorstellung. Wir wurden eine Kompanie mit achtzig Tänzern. Dann kam die große Produktion „Ring um den Ring“ von Maurice Béjart. Es ist eine fantastische Produktion und die Zusammen-So arbeit mit Béjart war unvergesslich. Er war nur für zwei Wochen da, aber es kam mir vor wie zwei Monate. Manchmal hatte ich nur eine halbe Stunde mit ihm, aber er sprach unglaublich interessant über die Rolle und deren Charakter. In Proben schaut er dich an, und du hast das Gefühl, er kennt deinen Körper von A bis Z. Wir hatten sehr gute Tänzer in Berlin und wir wurden sehr stark. Tolle Solotänzer, tolle Erste Solisten und ein gutes Corps de Ballet. Die Stimmung erinnerte mich an Stuttgart, und dazu dieses gute Repertoire. Wir tanzten in Berlin auch „Onegin“ und mein alter Direktor Reid Anderson kam, um es mit uns einzustudieren. Er sagte zu mir: „Gut, dass du nach Berlin gegangen bist, das war eine gute Entscheidung für dich.“

Ich glaube, für Künstler ist es wichtig, dass es neben ihnen gute Konkurrenten gibt, dann kann man sich noch besser entwickeln. Es gibt einem den Antrieb, noch besser zu sein und sich zu behaupten.

Ja, in unserem Beruf sind wir jeden Tag im Wettbewerb. Wenn es den nicht gibt, ist es langweilig und dann entwickelt sich die Kompanie nicht nach vorne. Wenn sich eine Kompanie weiterentwickelt, steigt die Stimmung, auch im Publikum. So sollte eine Kompanie sein. Sie sollte sich immer weiter entwickeln und immer mehr zusammenwachsen. Wenn dein Direktor ein Weltstar ist, dann ist er im Ballettsaal trotzdem ein Tänzer. Vladimir hat so viel Erfahrung und er ist ein sehr guter Mensch. Und wenn die Probe fertig ist, lachen wir zusammen, gehen Essen. Das hebt auch die Stimmung in der Kompanie. Arbeit ist Arbeit, aber private Zeit ist private Zeit. Das war fantastisch mit Vladimir, weil man so viel von ihm lernen konnte. Auch wenn ich die Besetzung hinter Vladimir war, war ich froh, dass ich in der gleichen Probe sein und von ihm lernen konnte. Er war mein Idol gewesen und nun stand ich mit ihm im Ballettsaal. Ich tanzte die gleiche Rolle wie er!

Ihre Karriere hat in Berlin ihren Höhepunkt erreicht.

Was ich in Stuttgart vermisst hatte, konnte ich in Berlin finden. Jetzt kann ich sagen, dass für meine Karriere jede Entscheidung richtig war. Ich bin zum richtigen Zeitpunkt nach Berlin gekommen. Ich war glücklich, dass ich Solo- und später Erste Solorollen bekommen konnte. Vielleicht hätte ich sie auch in Stuttgart irgendwann bekommen. Vladimir hatte zu mir gesagt: „Komm, und du wirst viel zu tun haben.“ In Berlin ist dann alles passiert. Zwei Jahre später wurde ich Erster Solist und ich tanzte viele tolle Rollen, traf fantastische Choreografen, machte gute Arbeit – und habe später auch noch meine Frau gefunden.

Sie haben ein riesiges Repertoire in Berlin getanzt. Was war Ihre liebste Rolle?

Ich war sehr begeistert, den Prinz im „Schwanensee“ zu tanzen. Ich war froh, dass ich diese Rolle in Patrice Barts Choreografie bekam. Es war eine schwere Choreografie. Ich hatte schon früher andere „Schwanensee“-Choreografien getanzt, ganz traditionelle. Dort ist der Prinz weniger anspruchsvoll. Aber bei Patrice Bart ist die Rolle extrem anspruchsvoll. Nach dem ersten Akt bist du so tot – und das ist erst der Anfang des Balletts. Wenn du siehst, dass der Schwan auf die Bühne kommt, bist du froh, dass du einen Moment ausruhen kannst. Denn sonst, sobald der Vorhang aufgeht, tanzt und springst du von einer Seite der Bühne zur anderen. Und wenn dein wichtigstes Pas de deux im dritten Akt mit dem Schwarzen Schwan kommt, bist du sehr müde, musst aber die beste Qualität zeigen. Ich hatte viel Stress bei dieser Vorstellung und ich hatte große Angst, dass ich es nicht schaffe. Ich habe auch viele andere Rollen getanzt, wie den Hagen in „Ring um den Ring“ – im „Ring“ tanzte ich viele Rollen, aber der Hagen ist mir am wichtigsten. Ich habe viel dafür geübt. Es ist keine so gute Rolle, weil der Auftritt erst im letzten Teil der „Götterdämmerung“ kommt und man nur die letzten vierzig Minuten auf der Bühne ist. Trotzdem war es eine unglaubliche Rolle. Es hat mir großen Spaß gemacht, diese Rolle zu zeigen. Ich konnte auf der Bühne nicht Wieslaw sein, sondern musste dieser verrückte, schreckliche Hagen sein. Am Anfang dachte ich, das ist nichts für mich. Aber Béjart hat gesehen, dass ich diese Rolle gut zeigen und tanzen kann. Danach kommt Onegin, das war meine Traumrolle in Stuttgart. Es war die erste Vorstellung, die ich in Stuttgart gesehen hatte, und ich wollte Onegin tanzen, aber ich wusste nicht, dass ich es in Berlin tanzen würde. Als mein ehemaliger Direktor Reid Anderson nach Berlin kam, um es mit uns einzustudieren, sagte er: „Wieslaw, du bist ein guter Onegin.“ Ich war so froh, das von ihm zu hören! Und ich war glücklich, von ihm alle diese Kleinigkeiten zu lernen. Bei Cranko gibt es viele Tricks, um die komplizierten Pas de deux und schweren Hebungen zu meistern. Wenn dir niemand richtig erklären kann, wie man das macht, wirst du es nicht gut machen können.

Mein erster Onegin war vor zehn Jahren und ich hatte viel gearbeitet für diese Rolle, denn ich wollte das Beste zeigen. Ich weiß nicht, wie oft ich Onegin in meiner Karriere getanzt habe, aber jede Vorstellung ist anders. Es ist eine besondere Rolle, ich könnte sie bis ans Ende meines Lebens tanzen. Es wird nie langweilig. Wenn du die Choreografie kannst, ist es vielleicht nicht so besonders von den Schritten her, aber wenn du wirklich diese Rolle von Anfang bis Ende zeigen willst, ist es unglaublich.

Onegin ist Ihr Markenzeichen geworden.

Ich bin offenbar nicht so schlecht in dieser Rolle. Vor zwei Jahren rief mich Reid Anderson an, er brauche meine Hilfe: „Im Bolschoi Theater ist ein Onegin verletzt und sie brauchen einen Onegin, aber ich kann niemanden aus Stuttgart schicken, weil dort alle Tänzer eingespannt sind.“ Und er fragte mich, ob ich gehen könne. Ich flog nach Moskau. Als ich auf dieser riesigen Bühne stand, dachte ich, ich träume.

Am Anfang der Saison 2006/2007 kamen neue Tänzer zum Staatsballett Berlin. Auch Shoko Nakamura. Haben Sie sie sofort bemerkt?

Ich bemerkte sie schon am Ende der Spielzeit 2006 im Juni, weil ich damals gehört hatte, dass eine Ballerina aus Wien zum Vortanzen kommt. Ich hatte noch eine Probe und sah sie beim Vortanzen. Ich erinnere mich genau. Es war noch im Großen Saal in der Staatsoper Unter den Linden – dort gibt es eine Galerie oben und eine Treppe von unten in den Ballettsaal. Ich war nach der Probe in Gedanken versunken und dann saß da plötzlich eine schöne japanische Frau und ich dachte, ah, das ist diese Shoko aus Wien. Und ich realisierte, das ist die gleiche Shoko, die auch in Stuttgart gewesen war. Jetzt war sie hier und fünf Minuten später war sie schon weg. Aber in der nächsten Spielzeit kam sie nach Berlin. Vladimir sagte: „Sie war früher in Wien und jetzt ist sie Solistin bei uns.“ Dann choreografierte Vladimir ein neues Ballett: „Cinderella“. Ich war in der Besetzung als Prinz dabei, mit Shoko als Prinzessin. Das war unsere erste Begegnung, in einer Probe von „Cinderella“. Während der Probe sprachen wir über die Rolle, lernten uns als Tänzer kennen. Aber nach der Probe sind wir manchmal länger im Ballettsaal geblieben und haben privat miteinander gesprochen: „Du warst in Stuttgart, ich auch.“ Ich spürte eine gute Energie, aber ich habe nie gedacht, dass sie meine Frau werden würde.

Sie hatten damals eine Freundin.

Ich hatte eine Freundin, Nadja Yanowsky, aber wenn man eine Rolle einstudiert, ist es ganz normal, dass man länger im Ballettsaal bleibt und über das Ballett, aber auch über private Sachen spricht. Mit Shoko war es wirklich schwer, weil sie so verschlossen war.

Das ist typisch für Japaner.

Ja, aber ich wusste das nicht. Am ersten Tag sprechen wir normal miteinander und am nächsten Tag grüßt sie dich nicht auf dem Flur. Als ob wir uns nicht kennen würden. Ich dachte, sie ist wirklich komisch. Dann dachte ich, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht oder ich habe etwas Falsches gesagt. Ich habe es dabei belassen. Aber immer wenn wir Probe hatten, war es schön und gut und angenehm. Und nach der Probe war da wieder diese Wand. Es war fast unmöglich, durchzudringen. Eines Tages gastierte ich in Japan, und sie auch. Sie hatte einen Gala-Auftritt in Taipeh und ihr Partner war verletzt. Ich habe immer dieses Glück, dass ich für jemanden ohne viel Probe einspringen muss. Ich hasse das! Aber es war wieder die Entscheidung: Ja oder nein. Dieses Mal ruft mich plötzlich Shokos Manager an und sagt: „Sie tanzt diese Gala mit Startänzern und ihr Partner ist verletzt.“ Ich hatte auch eine Vorstellung in Tokio, aber Gott sei Dank nicht am selben Tag. Ich hatte mit Shoko fast nichts getanzt, nur „Cinderella“ und „Ein Lindentraum“. Der Plan war es, den Schwarzen Schwan aus „Schwanensee“ und das Pas de deux aus „Ein Lindentraum“ zu tanzen. Nur wo sollten wir trainieren? Der Manager sagte: „Die einzige Möglichkeit für euch ist, sich in Tokio für eine Probe zu treffen und dann in Taipeh noch einmal zu üben. Dann ist schon die Aufführung.“ Ich rief dann Shoko an, und wir haben probiert. Die zweite Probe machten wir in Taipeh und dann war schon die Vorstellung. In dieser Zeit hatte ich das Gefühl, es gäbe nur uns zwei auf der Welt. Ich hatte gedacht, es würde wie immer werden. Aber irgendwie war Shoko total anders, sie war offen, hat Witze gemacht und gelacht. Sie war interessiert und fragte mich nach meiner Familie, und ich dachte, das ist eine ganz andere Person als die, die ich aus Berlin kenne. Aber wenn ich eine Freundin habe, flirte ich nicht mit anderen Frauen. Nach der Gala war Shoko in Japan und ich tanzte mit meiner Kompanie. Zu dieser Zeit hat sich meine damalige Freundin in Berlin nicht mehr wohlgefühlt und entschied sich, nach Amsterdam zu gehen, wo sie einen guten Vertrag bekommen hatte. Und so haben wir uns getrennt. Ich war nicht mehr so jung und ich wollte eine Frau, Familie und Kinder. Wir entschieden uns, Freunde zu bleiben.

Wann war das?

2007 ging sie nach Amsterdam, und wir haben es noch ein halbes Jahr lang versucht. Aber es hat nicht geklappt. Es ist schwer, wenn du immer mit jemandem zusammen warst und plötzlich bist du alleine. Wenn ich nach Hause kam von der Oper, war ich froh, dass ich meinen Hund hatte. Ich erinnerte mich an Shoko und an unsere Zeit in Taipeh. Und ich fragte sie viele Male, ob wir zusammen essen gehen, aber sie sagte immer ab, zu müde, zu viel Arbeit, keine Zeit ...

Hatten Sie nicht bemerkt, dass sie mit ihrem Beruf verheiratet war?

Das haben alle gesagt. Manche sagten als Witz: Sie ist mit Petipa verheiratet. Ich dachte, vielleicht weiß sie nicht, dass man sowohl mit Petipa, dem Vater des klassischen Balletts, verheiratet sein und trotzdem ein schönes Leben haben kann. Ich hatte gehört, dass sie nie einen Freund gehabt hatte, immer alleine wohnte und fast immer im Ballettsaal war. Deswegen könnte es sein, dass sie vielleicht nicht versteht, dass man sowohl ein Privat- als auch ein Arbeitsleben haben kann, dachte ich. Ich zog mich ein bisschen zurück. Aber dann tanzten wir wieder und fingen an, zusammen zu gastieren. In Miami oder in Japan. Da gab es wieder die Möglichkeit alleine zu sein und ein wenig zu sprechen. Ich wollte wissen, ob es eine Chance gab, mit ihr zusammen zu sein, oder es zumindest probieren. Und ich war so überrascht, als sie sich positiv entschied! Da dachte ich, vielleicht passiert ja doch noch etwas zwischen uns.

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