Essay
Schauspiel und Gesellschaft
Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)
Assoziationen: Debatte
Die Gefahr ist, dass Theater sich nur noch simuliert. Wie eine Putzfrau, die den Boden schrubbt, plötzlich in einem dunklen Fenster entdeckt: Mein Gott, mein Arsch sieht ja geil aus, wenn ich den Boden schrubbe. Jetzt fängt die Putzfrau auf einmal an, auf die irrsinnig geile Bewegung zu achten. Ob der Boden dabei sauber wird, kann man in der Scheibe nicht sehen. Aber eigentlich war es so, dass die geile Bewegung entstand, weil sie den Boden schrubbte. So kommt mir im Moment das Theater vor: Eine Putzfrau, die nur noch diese geile Arschbewegung macht und sich nicht mehr um den Boden kümmert.
Martin Wuttke
Hat das Schauspielen eine gesellschaftliche Funktion? Was ist Spiel im Theater und was ist Spiel im Alltag? Was macht eigentlich der Schauspieler, wenn wir doch alle Theater spielen? Kann uns der Schauspieler in Zeiten, in denen wir alle zu Darstellern unserer selbst geworden sind, noch etwas über unsere Realität mitteilen?
Der Schauspieler ist zum blinden Fleck im Nachdenken über das Theater geworden. Die Kunst der Inszenierung gilt nicht als Ergebnis eines kollektiven Prozesses, sondern als Leistung des Regisseurs, für den der Schauspieler ein Mittel ist. Die Virtuosität des Schauspielers im Umgang mit Performativität und Selbstreferenz steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Doch was ist aus den mimetischen Anteilen seines Spiels und damit der Referenz auf gesellschaftliche Verhältnisse geworden?
Wir haben Theoretiker von Kunst und Gesellschaft eingeladen, über das Verhältnis von Wirklichkeit und Spiel nachzudenken. Die Antworten von Dirk Baecker, Wolfgang Engler, Bernd Stegemann und Juliane Rebentisch sind in den folgenden Ausgaben zu lesen. Den Anfang macht der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker. Auf seine Auseinandersetzung mit Erving Goffmans Klassiker „Wir alle spielen Theater“ werden in den nächsten Ausgaben der Soziologe Wolfgang Engler und der Dramaturg Bernd Stegemann antworten, die an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ die zukünftigen „Meister des Als-ob“ ausbilden. Darauf folgt Juliane Rebentisch, die an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main Philosophie und Ästhetik lehrt und die Autonomie des Ästhetischen ins Spiel bringen wird. Die Reihe wird fortgesetzt. //