Kolumne
Den Kopf abgeben
von Jenny Erpenbeck
Erschienen in: Theater der Zeit: Queeres Theater – Romeo Castellucci — Die Mysterien von Eleusis (09/2023)
Assoziationen: Musiktheater Martin Kušej Hans Neuenfels Staatsoper Berlin
Wie schön ist die Prinzessin Salome! Da sitzen sie, zwei junge Studentinnen der Theaterwissenschaft, anno 1988, und tippen wilde Variationen auf Oscar Wildes „Salome“ in ihre Schreibmaschinen. Variationen nicht auf das Theaterstück, sondern auf die kongeniale Oper, die Richard Strauß auf Grundlage des Theaterstücks 1905 komponiert hat. In jugendlichem Leichtsinn machen die beiden den Rausch der blutrünstigen Prinzessin zu ihrem eigenen. Jedenfalls auf dem Papier. Macht gewinnen über das, was man liebt. Und wenn es um den Preis ist, dass man das Spielzeug durch die Inbesitznahme zerstört. Privileg der Jugend, sich dem Rausch bedenkenlos hinzugeben. Und danach die Texte vergleichen. Welche kommt dem unerreichbaren Propheten näher? Ich will den Kopf des Jocha-a-naan! Geht es um Salomes Selbstermächtigung? Oder ist sie doch nur das Werkzeug ihrer Mutter? In einer Silberschüssel!
Ein paar Jahre später sah ich „Salome“ in der unheimlichen, unheimlich bestürzenden Inszenierung von Martin Kušej an der Grazer Oper. Zu den flirrenden, chromatisch absteigenden Sequenzen legte Sylvie Valayre da keine sieben Schleier ab, sondern zerpflückte eine Babypuppe. Den Missbrauch, den ihr Stiefvater an ihr begehen will, wiederholt sie, als der Preis für ihren Tanz fällig wird, ihrerseits an Jochanaan. An dem Propheten, dessen Sendungsbewusstsein sie reizt, ohne dass sie sich...