Theater der Zeit

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Godard-Geschichte(n)

Zum 90. Geburtstag der Film- und Theaterikone Jean-Luc Godard

von Erik Zielke

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Lieblingsfeind steht links – Über Theater und Polizei (12/2020)

Assoziationen: Akteure Dossier: Bühne & Film

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JLG, wie die Ikone des 20. und 21. Jahrhunderts Jean-Luc ­Godard sich selbst nennt, ist nicht zu fassen. Am 3. Dezember wird der Meister des avantgardistischen Kinos neunzig Jahre alt. Wie soll man sich einem der herausragendsten Intellektuellen ­unserer Zeit annähern, der die assoziations- und zitatreiche Überforderung durch Bild, Ton, Wort auf die Spitze getrieben hat? Wie den Fehler umgehen, in einen Nachrufduktus zu verfallen an­gesichts eines Werks, das höchst lebendig und keineswegs ab­geschlossen ist? Immerhin feierte JLGs jüngster Film „Bildbuch“ 2018 seine Premiere in Cannes. Und wie auf ein Schaffen blicken, das in den fünfziger Jahren begann und 33 Arbeiten für das Kino einschließt – und eine noch weit höhere Anzahl an Fernseh­produktionen und Kurzfilmen?

Die Person JLG ist längst hinter ihrem Werk zurückgetreten, wenn nicht darin verschwunden. JLG kann man nur gerecht werden, wenn einen – wie von ihm selbst etabliert – der Mut zum Fragment nicht verlässt: Geschichte lässt sich nur erzählen über Geschichten. Wo aber soll man beginnen, wenn man über Godard und das Theater nachdenkt?

Film nach Brecht // Sein Langfilmdebüt „Außer Atem“ (1960) ist auch die Geburtsstunde des Jump Cut: Die Unterbrechung des Blicks durch sprunghaften Schnitt – das ist der kinematografische Verfremdungs-Effekt. Die Filmmittel werden von JLG immer wieder offengelegt, nichts scheint dem Zufall überlassen, und auch die Produktionsbedingungen der eigenen Werke werden Thema. Durch sein Œuvre zieht sich Brecht wie ein roter Faden, mal in ­Zitaten, mal in Anspielungen und immer wieder in der Über­tragung einer Brecht’schen Dramaturgie auf die Filmkunst. Mit „Die Geschichte der Nana S.“ (1962), einem Film in zwölf Bildern, unterbrochen durch Zwischentitel, nimmt das epische Erzählen bei JLG seinen Lauf.

Die kommentierende Spielweise, die Szenenbilder, das Zeigen von Situationen – all das ist ausgesprochen brechtisch und letztlich theatral. Ein weiteres Charakteristikum in der Arbeitsweise Brechts, die „Trennung der Elemente“, hat JLG sich zu eigen gemacht und bis zum Äußersten ausgereizt. Vor allem Bild und Ton funktionieren in seinen Filmen seit den siebziger Jahren als unabhängige Größen, die kein Ganzes ergeben, sondern darüber hinaus einen Assoziationsraum öffnen. Zudem ist den beiden Medienrevolutionären etwas anderes gemein: das Vergnügen am Denken.

Episches Theater – Revolutionskino // In dem Film „Die Chinesin“ (1967), in dem JLG, Dostojewskis „Dämonen“ als Scha­blone nutzend, den Pariser Mai und die linken revolutionären Kämpfe im Westeuropa der kommenden ­Dekade vorwegnimmt und den Dimiter Gotscheff 2010 für eine gleichnamige Godard-Studie an der Berliner Volksbühne aufgreift, wird die Figur Guillaume befragt: „Na, du spielst doch Thea­ter hier. Oder kommt mir das nur so vor?“ Der marxistische Schauspieler antwortet: „Pass auf, ich werd dir mal was zeigen. Dann weißt du vielleicht, was Theater ist. Die jungchinesischen Studenten hatten in Moskau vor dem Grab von Stalin demons­triert. Und natürlich haben die russischen Soldaten sie zusammengeschlagen und mit Knüppeln traktiert. Und am nächsten Tag haben sich die Studenten als Zeichen des Protests vor der ­chinesischen Botschaft eingefunden und dazu auch alle Journalisten der westlichen Presse eingeladen. (…) Und dann ist ein junger Chinese gekommen und sein Gesicht war vollkommen mit Verbänden und Pflastern bedeckt. Und der fing an zu schreien: ,(…) Seht, was sie mir angetan haben, diese Revisio­nistenschweine!‘ Da haben sich diese Schmeißfliegen ­natürlich auf ihn gestürzt und angefangen, ihn mit ihren Blitzlichtern unter Beschuss zu nehmen, während er seine Verbände abnahm. Sie haben erwartet, jetzt ein völlig verstümmeltes Gesicht zu sehen (…). Er zeigte sein Gesicht, und auf einmal haben alle gesehen, dass er völlig unverletzt war. Du kannst dir vorstellen, wie sauer die Journalisten da waren. (…) Keiner von ihnen hat begriffen, dass das richtiges Thea­ter war, wahres Theater. Eine Reflexion über die Realität. Es war genau so etwas wie bei Brecht oder bei Shakespeare.“

CINEMARXISM // Es ist bekannt, in welche Richtung JLG die eigene Arbeit forcierte. Es geht um nicht weniger als: politisch Filme zu machen. Einen subversiven Impetus und ein politisches Bewusstsein weist schon der junge Mann JLG in den fünfziger Jahren auf, als er als Filmkritiker Stellung bezieht. Sein zweiter Kinofilm „Der kleine Soldat“ (1963) legt den Finger in die klaffende französische Wunde: Algerien. Es folgt die Radikalisierung – und das filmische Bekenntnis zu den Kämpfen der Zeit. Frauenfrage, Vietnam, Verabschiedung der bürgerlichen Kleinfamilie, bewaffneter Widerstand, das Ende realsozialistischer Experimente.

All das ersetzt für den Filmemacher nicht den Versuch der Revolte über die inhaltliche Auseinandersetzung hinaus. Sein avanciertes Kino ist immer auch Absage an das kommerzielle Kino. Die schrittweise Aufhebung jeglicher Figurenpsychologie und die zunehmende Zersetzung der Erzählstruktur entziehen sich dem Filmgeschäft. Sein zeitweises Verschwinden Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, also auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, hinter dem Filmkollektiv Groupe Dziga Vertov, beschreibt den Versuch, sich der Markenbildung und einem bürgerlichen Begriff von individuellem Künstlertum zu verweigern. Die Gründung seiner eigenen Produktionsfirma heißt auch: Aneignung der Produktionsmittel, Erkämpfung eines Stücks Freiheit. „CINEMARXISM“ lässt der unermüdliche Parolendichter JLG einen Vertreter der Black Panther Party in „Sympathy for the ­Devil“ (1968) an eine Hauswand schreiben.

A film based on the play by // Shakespeare zum Beispiel. Das dichte Verweisnetz von JLG ist ­unübersichtlich. Malerei und Literatur, Musik, Popkultur und ­Geschichte liefern ihm Referenzen. In „Detektive“ (1985) kommt es zu einem Wiedersehen mit den Figuren aus Shakespeares „Der Sturm“. Allerdings bildet „King Lear“ (1987) als einziges Werk mit dramatischer Vorlage eine Ausnahme. Die wiederkehrenden ­Inserts zeigen den suchenden Ansatz dieses Königsdramas: „King Lear – Fear and Loathing“, „King Lear – A Study“, „An Approach“, „King Lear – A Clearing“.

Auch seinen Shakespeare liest JLG mit Brecht. In apokalyptischer Zukunft muss der Stoff in dieser Verfilmung wiederentdeckt werden. Auf der Suche nach einer Erzählung und ihren Gründen wird William Shakespeare Junior der Fünfte, dargestellt vom Theaterregisseur Peter Sellars, zu Rate gezogen. Das Theaterstück, das zu den meistgespielten weltweit gehört, ist nur noch in Fragmenten und Versatzstücken erfahrbar. JLG lässt seine Film­figuren kreisen um die immergleichen Fragen: Wer ist Lear, wer Cordelia? Was können wir wissen über ihre Geschichte, und wie ist Theater vierhundert Jahr nach der Entstehung dieser Tragödie möglich? Keine Selbstverständlichkeiten nirgends.

Medienarchäologie // „The revolution will not be televised“, hat Gil Scott-Heron 1970 gedichtet. JLG ist angetreten, den Gegenbeweis zu erbringen. Er ist kein Medienstürmer, sondern ein ewiger Experimentator, dem allerdings nie die Technik allein genug ist, der beharrlich fragt nach der Beziehung von Medium, Form und Inhalt. Fernsehen, Videozeitalter, der privatisierte Filmkonsum am Laptop in der Vereinzelung – das sind keine Gründe zur Resignation, sondern ein Anreiz zu einem neuen, noch zu erfindenden Umgang, der ­Sehgewohnheiten und eingefahrene Mechanismen abermals zu unterlaufen weiß. Im Theaterbetrieb mehren sich die Stimmen, man müsse reagieren auf das digitale Zeitalter, so als ließe sich das durch ­bloße Forderungen angehen. TikTok etwa, jenes soziale Video­portal, das für die digital natives wohl schon selbstverständlich ist, solle seinen Weg auf die Bühnen finden. Die Technologie scheint kein großes künstlerisches Thema zu sein, einem Diktat folgt die Kunst ohnehin nicht.

Ästhetisch interessant und reizvoll könnten die neuen Bil­derwelten aber doch sein. Seiner Zeit wie so oft voraus ist JLG, dem schnellen Improvisateur mit der Kamera, ein längst mustergültiger Coup gelungen, indem er in „Bildbuch“ Videosnippets, Netz- und Filmfundstücke arrangiert und durch professionell ­geführte Handy­kameraaufnahmen ergänzt. In dem einzigen­ ­Interview, das er zu diesem Film zu geben bereit war, weiß JLG auch genau, wo er am besten gezeigt werden solle: Nicht etwa in den großen Kinos, sondern eher in Kulturzentren, im Zirkus oder im Theater. Also da, wo Öffentlichkeit und Publikum zu vermuten sind. //

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