Theater der Zeit

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Laudatio für Richard Peduzzi

von Mark Lammert

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Musiktheater Akteure Dossier: Bühne & Film

Penelope Chauvelot, Richard Peduzzi, East River, New York 1986
Penelope Chauvelot, Richard Peduzzi, East River, New York 1986

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1.

Die Theaterräume, Opernräume, Filmräume, Ausstellungsräume und architektonischen Räume, die Richard Peduzzi gebaut hat, leben von der Spannung, welche die architektonische Operation und das poetische Fühlen miteinander erzeugen und verbindet.

2.

Dass diese Räume als Malerei und Richard Peduzzi als Maler bezeichnet werden, hat mit ihrer Wirkung und der Art ihrer Entstehung zu tun. Das Zeichnen und die Zeichnung ist, was die Tätigkeiten Richard Peduzzis trägt und sammelt.
Als sich der vierundzwanzigjährige Maler Richard Peduzzi und der dreiundzwanzigjährige Sohn eines Malerpaares Patrice Chéreau 1967 begegnen, entstand bis zu Chéreaus Tod 2013 eine ununterbrochene Arbeitspartnerschaft, eine einmalig zweisame Kollektivität, in der jeder der beiden das Alter Ego des anderen darstellt. Der Ausgangspunkt war eine Art Komplizenschaft von Wunderkindern auf dem Weg zum Welttheater.
„Ich habe aufgehört“, antwortet 2007 Chéreau auf die Frage, ob er noch zeichne. „Ich habe aufgehört, meine Bühnenbilder selber zu machen, einfach, weil ich einen Besseren gefunden habe. Richard war besser als ich, und ich finde es immer gut, mit dem Besseren zu arbeiten.“1 „Richard ist mein Kompass, der, dem der Instinkt oder der Blick nie fehlt … Die Frage des Blicks: Was sehen die Leute? Wir sind uns nie sicher, ob sie wirklich das Gleiche sehen wie wir. Unsere Arbeit und unsere Forschung basieren auf der Idee eines gleichen Blicks, seines und meines. Ein etwas schärferer Blick, der sich aus beiden zusammensetzt?“2 Peduzzi selbst sagt es in einem Satz: „Wir malen zu zweit an einem Bild.“3 Das ist weniger die Basis einer Legende als die Voraussetzung der Höhe dieser Zusammenarbeit.

3.

Richard Peduzzi und Patrice Chéreau haben sich fast ein halbes Jahrhundert gemeinsam auf den Bühnen als Partner der Wortsprache, bei Opern zusätzlich der Musiksprache, beim Film der von Bewegung gestellt. Aber alles, was sie taten, ordnete sich einer Bildsprache ein und unter, die sich aus Malerei, Zeichnung, Architektur und deren Geschichte herleitet.
Heiner Müller: „Ein Stück hat zwei Zeiten: die Zeit des Materials und die Zeit des Autors […] wenn es auf die Bühne kommt, dann gibt es auch noch eine dritte Zeit: die Zeit der Aufführung […] Um diese drei Zeitebenen geht es […] Dadurch entsteht ein Zeitspiegel, der sehr changiert und verblüfft, dabei aber ganz einfach im Detail ist, ohne daß daraus wieder, im negativen Sinne, eine neue Ästhetik oder ein Design wird. Ich finde überhaupt wichtig bei Chéreau, daß die Anachronismen oder alles, was er an Schichten über das Material baut, nie zu einem Design gerinnt, daß es immer noch Brüche gibt, durch die man durchsehen kann.“4

4.

Deutschland, zum Beispiel, verdankt Richard Peduzzi Rahmen und Raum von Patrice Chéreaus „Ring“-Inszenierung von 1976 in Bayreuth. Für Michel Foucault galt „für Peduzzis Bühnenbild: große unbewegliche Bauten, wie uralte Ruinen steil aufragende Felsen, riesige Räder, die sich durch nichts in Bewegung versetzen ließen. Aber die Räder befinden sich mitten im Wald, zwei Puttenköpfe sind in den Fels gehauen, und ein unerschütterlich dorisches Kapitell findet sich an den Wänden dieses Walhalla, über dem Feuerbett der Walküre oder im Schloss der Gibichungen, das er bald wie einen von Claude Lorrain gemalten Hafen in der Abenddämmerung, bald im Stil der neoklassizistischen Palais der wilhelminischen Bourgeoisie erscheinen lässt“. Foucault benennt die Brüche, von denen Müller spricht, als eine Tour de Force in der es Chéreau gelang, alle diese Bruchstücke, diese „Elemente vollständig in das Beziehungsgeflecht zwischen den Personen und in die gewaltigen Bildvisionen […] die Peduzzi ihm vorschlägt“, eingefügt zu haben.5

5.

Die Tetralogie und die Inszenierung und Erstaufführung in Frankreich von Heiner Müllers „Quartett“ 1984/85 in Chéreaus/Peduzzis „Trilogie des 18. Jahrhunderts“ mit Marivaux’ „Die falsche Zofe“ und Mozarts „Lucio Silla“, einzig im und mit dem Bühnenraum ihrer Inszenierung von „Lucio Silla“, sind zwei der großen Momente an Berührung deutscher und französischer (Theater-)Kunst im letzten halben Jahrhundert. Es sind bei Weitem nicht die einzigen Arbeiten Chéreaus und Peduzzis, die eine Verbindung aufweisen: Gerade die Anfänge sind ohne die Theaterarbeit Bertolt Brechts und seiner Bühnenbildner und von Brechts favorisiertem Nachkriegsregisseur Giorgio Strehler und dessen Bühnenbildner Luciano Damiani schwer denkbar.
„Bühnenbilder zu machen, ist für mich eine Möglichkeit“, sagt Peduzzi, „dem Eingesperrtsein zu entfliehen.“ „Es bedeutet, mit der Zeit zu jonglieren, im begrenzten Raum eines Bühnenkäfigs mit der Welt zu spielen, einen Kontinent in einen anderen gleiten zu lassen, Wände umzudrehen und auf noch leeren Blättern Papierarchitekturen mit marmorähnlichem Aussehen entstehen zu sehen, die sich über die Bühne bewegen. Ohne Schule und ohne Lehrer wusste ich immer nur das, was ich um mich herum gesehen und gehört habe, was mich geprägt und verletzt hat, was ich im Flug aufgefangen oder der Zeit entwendet habe. Mit diesem Beruf habe ich einen Weg gefunden, das Dasein zu verstehen und gegen die Unruhe anzukämpfen.“6

6.

Motivisch hinterlassen diese Räume, beleuchtet in einer Art Clair-obscur, oft als niemals zur Ruhe kommende Hell-Dunkel-Malerei, den Eindruck, als ob sie zusätzlich auch mit den Möglichkeiten der Gewalt von Palästen, Gefängnissen, Labyrinthen und Fabriken arbeiten. Immer aber ist es die Kombination, das Kombinieren auch von sich Widersprechendem, die Differenz Bild werden lässt. Nur in dieser Differenz erscheint die Überhöhung des Konkreten, und nur deshalb wendet sich jede Deutung gegen eine symbolische Erhöhung, gleichermaßen sich davor schützend.
Man kann sich der Suggestion dieser im doppelten Sinn hohen Räume Peduzzis nicht entziehen, auch deshalb, weil sie einem hohen Respekt vor dem Handwerk ihrer Herstellung geschuldet sind. Das erdet sie: Sie sind auch die Arbeit der besten Handwerker. „Imagination ist nicht die Fähigkeit, Bilder zu schaffen, es ist die Fähigkeit, Bilder zu schaffen, die die Realität hinter sich lassen.“7
Der Definition von Flaubert im „Wörterbuch der Gemeinplätze“ „BÜHNENBILD: Ist keine Malerei. Man braucht bloß einen Eimer Farbe auf die Leinwand zu schütten; dann verteilt man sie mit einem Besen; und Entfernung und Beleuchtung erzeugen die Illusion“8 steht immer und immer wieder neu die schlichte Frage gegenüber, wer sich denn nun hier die Farbe ausdenkt? Und: Wer je eine der von Peduzzi gestalteten Malerei-Ausstellungen gesehen hat, weiß, wie weit der Begriff von Farbe und Inszenierung gehen kann.

7.

Von den 1980er Jahren an öffnet sich der Wirkungsradius der Tätigkeiten Richard Peduzzis ungemein weit. Sie gehen von dem Bedürfnis zu lehren zur Leitung einer Kunsthochschule und reichen bis zur Übernahme 2002 der Leitung der Académie de France in Rom mit Sitz in der Villa Medici, Frankreichs Stipendiaten-Ort in Rom – gewissermaßen ein Direktorat in Nachfolge der Maler Ingres und Balthus.

8.

Berlin, zum Beispiel, verdankt Richard Peduzzi die Zusammenarbeit seit 1988 mit einem weiteren Regisseur: Luc Bondy. „Mit ihm, wie auch mit Chéreau, spreche ich mehr über Malerei als über seine Vorstellung von Theater.“9
Was Peduzzi über seine Arbeit an Bondys Inszenierung von Botho Strauß „Die Zeit und das Zimmer“ 1989 beschreibt, ergänzt sich mit einer späteren Äußerung: „Das Bühnenbild stellte ein Zimmer mit drei großen, auf die Straße gehenden Fenstern dar. Der Ort, den ich mir vorgestellt hatte, sollte den Eindruck vermitteln, die Zeiten durchquert zu haben, am Durchgang mehrerer Generationen von Männern und Frauen beteiligt gewesen zu sein. Es war ein von Türen und Fenstern durchbrochener Kasten.
Auf dem Boden verteilt stand bunt zusammengewürfeltes, banales Mobiliar ohne bestimmten Stil. Das Ganze wurde von zwei Pfeilern und einer Säule gestützt, unbeweglichen Zeugen der Zeitspirale. Plötzlich geschieht das Unmögliche:
Die seit Jahrhunderten versteinerte Säule tritt aus ihrem Schweigen, ihrer Isoliertheit heraus und beginnt zu sprechen. Die Alten sagten, dass die drei Teile einer Säule, das Kapitell, der Schaft und die Basis, den Proportionen des menschlichen Körpers entsprechen und dass die Säulen uns auf eine Kraft verweisen, die wir als die unsere erkennen. Die Objekte und die Dinge, die wir betrachten, erhalten ihre ganze Bedeutung, wenn wir uns mit ihnen identifizieren. Dann kehren sie zu uns zurück, wir kehren zu ihnen zurück, wir lassen sie das Leben wiedergewinnen, das unsere betrachten. Die Inszenierung rief diesen Moment in Erinnerung, als es den Bewohnern von Berlin, die vom Schwindel ergriffen waren, nicht mehr gelang, sich im Raum und in der Zeit zu verorten. Bei der Arbeit an diesem Text entdeckte ich die Stadt unmittelbar vor dem Mauerfall, mit ihren Selbstzweifeln, ihrem staunenswerten kalten Licht voller Sorgen und Hoffnungen.
Nachdem er der ersten Aufführung beigewohnt hatte, sagte mir Patrice Chéreau mit einem etwas eifersüchtigen Unterton, der mich lächeln ließ, wie sehr ihm das Stück, die Schauspieler, die Inszenierung und das Bühnenbild gefallen hätten, dass er gründlich nachgedacht habe und dass er das Stück seinerseits mit mir in Paris inszenieren wolle.
Die beiden Vorstellungen, diejenige Patrice Chéreaus und diejenige Luc Bondys, waren einander völlig entgegengesetzt. Im Odéon, in der Inszenierung von Patrice, befanden wir uns in einem Theater im italienischen Stil, abgeschirmt vom Lärm der Außenwelt. Man spürte den Willen, eine universelle Geschichte zu erzählen, die sich in jeder beliebigen Stadt der Welt hätte zutragen können, Beziehungen zu beobachten, die auf dem Treibsand zwischen den Lebewesen basierten, zu versuchen, die Gefühle, die Indifferenz und das Vergessen zu durchdringen […] In West-Berlin, in dem veränderbaren schwarz-grauen Saal der Schaubühne glaubte man, durch die zugemauerten Fenster die Geschichte zu sehen, die sich in den Straßen abspielte. Das zeitgenössische, von einem deutschen Schriftsteller verfasste, von deutschen Schauspielern interpretierte Stück nahm eine andere Dimension an. Das ganze Bühnenbild sah aus, als habe man es an das Fenster gelehnt. Der direkt auf dem Boden abgestellte Kasten wirkte da, als habe ihn jemand auf dem Zement dieses Theaters vergessen, als sei er bereit, über der Stadt, ihren hohen, feuchten, von der Mauer überwachten Häusern davonzufliegen.“10

9.

Eine persönliche Bemerkung: Im neunten Bezirk von Paris befindet sich der Arbeitsraum Richard Peduzzis zu ebener Erde an der Ecke eines Hauses, das wie ein Ladenlokal vollständig einsehbar ist.
Ich stelle es mir so vor: Der unweit entfernte, halbrunde Wohnraum ist so etwas wie der dazugehörige eckenhalbierte Denk-Raum Peduzzis, in dem sowohl die Erinnerungen als auch die Pläne kreisen. Das Atelier hingegen, immer auf der Suche nach einer neuen, einer anderen Farbe, einer noch nicht erfundenen Möglichkeit, gleicht fast einem öffentlichen Arbeiten.
Einmal, zum Ende seines Lebens, hat Heiner Müller eine Formulierung, ein Bild benutzt, Zukünftiges, einen „Ausweg“ betreffend, nämlich der vom „Weg in Richtung eines karnevalistischen Klassizismus, wo mit Säulen jongliert wird.“11
Wer möchte gänzlich ausschließen, dass diese Formulierung nicht für einen Moment einen Raum Richard Peduzzis streifte? Merci. Danke

Laudatio auf Richard Peduzzi anlässlich der Auszeichnung mit dem Großen Kunstpreis Berlin am 18.3.2022 in der Berliner Akademie der Künste.

1 Ivan Nagel, Michel Bataillon und Gerhard R. Koch im Gespräch mit Patrice Chéreau, Akademie der Künste, Pariser Platz, 11. März 2007, Transkription des Audiomitschnitts.
2 Patrice Chéreau, Les visages et les corps, Musée du Louvre Editions, Paris 2010.
3 Zit. nach Anna Mohal, Magischer Realist. Ein Portrait des französischen Bühnenbildners Richard Peduzzi, in: Theater heute, Jahrbuch 1989.
4 Zit. nach Olivier Ortolani, Gespräch mit Heiner Müller, in: Theaterwege, De l’Allemagne à la France, Von Frankreich nach Deutschland, hrsg. von Colette Godard und Francesca Spinazzi, Berlin 1996.
5 Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Berlin 2002.
6 Richard Peduzzi, Là-bas, c’est dehors, Arles 2014.
7 Gaston Bachelard, Das Wasser und die Träume, München 1994.
8 Gustave Flaubert, Das Wörterbuch der Gemeinplätze, München 2000.
9 Luc Bondy, Das Fest des Augenblicks. Gespräche mit Georges Banu, Wien 1997.
10 In die Luft schreiben, Luc Bondy und sein Theater, hrsg. von Geoffrey Layton im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin 2017.
11 Heiner Müller, Werke 12: Gespräche 3. 1991–1995, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main 2008.

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