Verkehrungstheatralität im europäischen Mittelalter
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Um Weihnachten, einer Hochzeit des Christentums, der ideologischen Grundlage mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse, fanden Aufführungen statt, die die feierlich todernste Liturgie und die sie normal vollziehende kirchliche Hierarchie in und außerhalb der Kirchen spielerisch verkehrten: im engeren Sinne das Narrenfest Anfang Januar, das Eselreiten und die Vorstellung eines Kinderbischofs. Nicht selten lustvoll irdisch, wohl mitunter in betonter komischer Parodie, realisierten sie ein Verhalten, das nach den Auffassungen und Praktiken eines „authentischen Christentums“, die seit der Reformation herrschen, als unvereinbar mit christlichen Werten und kirchlichem Leben gelten dürfte. Vertreter in den verschiedenen Ebenen der kirchlichen Hierarchie während des Mittelalters sahen das auch so – nicht zuletzt wohl durch das spannende Paradox entrüstet, dass man zu Weihnachten, der Geburt Jesu, Handlungen vollzog, die gerade an diesen Höhepunkten des sakralen Kalenders das Irdische wie ein fundamental Anderes akzentuierten, und das für den weltlichen Vollzug des christlichen Glaubens normative soziale Rollengefüge offen außer Kraft setzte. Narrenfeste gehörten aber in gewisser Hinsicht zu den Normen manifestierenden Feierlichkeiten, erschienen sie doch abgeleitet und begründet in der biblischen Textstelle, dass Christus die Gewaltigen vom Stuhl stoße und die Niedrigen erhebe.
Zwischen Weihnachten und Epiphanie (Dreikönigstag) drehte der niedere Klerus in Klöstern und Kathedralen, selbst in kleinen Dorfkirchen Feste, die...