Theater der Zeit

Auftritt

Ruhrfestspiele/Complicité: Die Grenzen des Aktivismus?

„Drive your plow over the bones of the dead“ nach dem Roman von Olga Tokarczuk (DE) – Konzept und Regie Simon McBurney

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Complicité Simon McBurney Ruhrfestspiele Recklinghausen

Drive Your Plow Over the Bones of the Dead von Complicité nach dem Roman von Olga Tokarczuk unter der Regie von Simon McBurney Marc Brenner
Drive Your Plow Over the Bones of the Dead von Complicité nach dem Roman von Olga Tokarczuk unter der Regie von Simon McBurneyFoto: Marc Brenner

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Eine Frau an einem Mikrofon. Sie begrüßt das Publikum im Stile der Standup-Comedy. Geht es allen gut? Ja? Ihr nicht. Sie sei gerade positiv getestet. Kleiner Scherz. Dann plaudert die überragende Schauspielerin Kathryn Hunter hinüber in den Roman von Olga Tokarczuk. Der beginnt ebenfalls mit ein paar Gags über Krankheiten und das Älterwerden. Die Erzählerin berichtet, dass sie sich jedes Mal die Füße wäscht, bevor sie ins Bett geht. Es könnte ja immer sein, dass sie von einem Krankenwagen abgeholt werden muss. Und dann will man ja einigermaßen anständig aussehen.  

Janina Duszejko ist eine Einzelkämpferin, und sie übernimmt Verantwortung. Sie ist die Heldin des Romans „Gesang der Fledermäuse“ der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Auf Englisch heißt er „Drive your plow over the bones of the dead“ – Fahre deinen Pflug über die Knochen der Toten. Ein Zitat aus einem Gedicht von William Blake. Janina übersetzt diese Poesie ins Polnische. Sie lebt in einem abgelegenen Dorf an der polnisch-tschechischen Grenze. Die Winter sind kalt, die meisten Menschen auch. Jäger schießen nach Lust und Laune Tiere tot – und plötzlich dreht jemand den Spieß um. Ein Mann nach dem anderen wird tot aufgefunden, der erste ist am Bein eines Rehs erstickt, das er vorher erschossen und zerlegt hat. Die Polizei kommt nicht weiter, Janina hat ihre eigene Theorie. Die Tiere des Waldes wehren sich und schlagen zurück. 

Der britische Theatermacher Simon McBurney erzählt den philosophischen Öko-Thriller Olga Tokarczuks voller Respekt von vorne bis hinten – natürlich mit Kürzungen. Neben Kathryn Hunter übernimmt das Ensemble „Complicité“ alle anderen Rollen, spielt Jäger und Tiere, den Pfarrer und den schrägen Nachbarn, einen Insektenforscher, mit dem Janina eine Liebesgeschichte beginnt. Aus einem choreographierten Körpertheater treten sie hinaus und werden in Sekunden zu einer psychologisch klar definierten Person. Das ist Schauspieltechnik par excellence, eingesetzt im Sinne einer stringenten Erzählung, die aus einer dichten, vielschichtigen Atmosphäre heraus entsteht. Ebenso virtuos und präzise setzt Regisseur Simon McBurney die Videos ein, starke Bilder, die sich dennoch niemals in den Vordergrund drängen sondern den Fluss der Geschichte unterstützen. 

Janina ist eine Heldin mit scharfen Kanten und skurrilen Zügen. Sie glaubt an die Astrologie und kämpft für die Tiere, eine Spinnerin und Visionärin, auf jeden Fall eine Aktivistin in ständiger Auseinandersetzung mit den Jägern. Zu dieser Gruppe gehören alle mächtigen Männer des Ortes, vom Bürgermeister bis zum Pfarrer. Simon McBurney zeigt ein Horrorkabinett der toxischen Männlichkeit, eine Gesellschaft, die dringend entfernt werden muss. Doch mit welchen Mitteln? 

„Drive your Plow over the Bones of the Dead“ ist ein ästhetisches Ereignis und zugleich nah dran an einer der meistdiskutierten Fragen unserer Zeit. Wie weit darf Aktivismus gehen? Welche Handlungen sind erlaubt, wenn man sich moralisch im Recht fühlt? Die Ruhrfestspiele starten überzeugend in eine Spielzeit, die sich noch häufig mit dem Gleichgewicht von Rage und Respekt beschäftigen wird.  

Erschienen am 11.5.2023

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