Bericht
Qu'est-ce que l'homme? Was ist ein Mensch?
Das 20. Festival Mondial des Théâtres de marionnettes zeigt philosophisches, literarisches Theater
Es war – wie immer in Charleville-Mézières – ein Festival der Superlative: 104 Compagnien aus 28 Ländern, 440 Vorstellungen, 18 Koproduktionen – und das nur im offiziellen Programm. Ein mindestens ebenso großes Off-Programm mit eigenen Spielorten überall in der Stadt zeigte im September 2019 die unglaubliche Vielfalt der französischen Figurentheater-Szene. Das Institut français lud nun Veranstalter*innen aus zwölf Ländern ein, einige französische Gruppen in einem kleinen Schwerpunkt kennenzulernen – ein Beweis auch für die Wertschätzung des Genres in Frankreich. Unsere Autorin berichtet über diesen Programmausschnitt.
von Mascha Erbelding
Erschienen in: double 40: Good Vibrations! – Resonanzen im Figurentheater (11/2019)
Assoziationen: Europa Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken
„Wann geht es endlich los?“ „Wie lange dauert das Stück?“ „Ich weiß nicht, aber mit diesen harten Sitzen kann es nicht länger als eine Stunde dauern.“ „Wann kommt der Kasper?“ Da sitzt es nun, das Publikum und wartet: Gegenüber der kleinen Holztribüne mit dem menschlichen „echten“ Publikum sitzen nämlich in „On était une fois“ (grob übersetzt „Man war einmal“) von der Cie. 36 du mois knuffige Stofftiere auf noch kleineren Bänken und warten auf den Beginn der Vorstellung. Zu diesem „Bühnenpublikum“ zählen ein nachdenklicher Affe, ein verirrtes quietschendes Küken, ein distinguierter Wolf und ein Schlappohrhase, der als einziger das Programmheft zum Stück gelesen hat. Computergesteuert und mit ganz unterschiedlichen Stimmen (alle eingesprochen von Emmanuel Audibert, der auch die Bühne und die Figuren ausgetüftelt hat) wechseln die Dialoge vom Banalen zum Philosophischen, verharren nicht in der Satire, sondern erweitern das Bild des Zuschauers auf eine höhere Ebene: Ziehen wir uns nicht oft auch im Leben auf den Standpunkt des Zuschauers zurück, sprechen lieber vom „On“, vom „Man“, der dringend etwas tun, etwas ändern müsste? Auf der kleinen runden eigentlichen „Bühne“ sind unterdessen, ebenfalls computergesteuert und begleitet von Jazz-Musik, Szenen mit winzigen Menschenfiguren zu sehen, spielen sich kleine Begegnungen ab, ein Konzert ... Nicht nur die Stofftiere sind begeistert.
Aber wenn man – oh je, schon wieder! - sich vom „man“ verabschiedet, was ist eigentlich das Ich? Was macht einen Menschen aus?
Die Cie. Trois Six Trente stellt sich in „Alors Carcasse“ anhand des mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichneten Textes von Marie Navarro dieser Frage, nähert sich dem epischen Gedicht und der darin 301 mal genannten Hauptfigur Carcasse (übersetzt in etwa: Gerippe) szenisch an. Fünf Spieler*innen fügen unterschiedliche Holzstäbe zu immer neuen Strukturen zusammen, versuchen, den gestaltlosen „Carcasse“, sein Wesen, abzubilden, um es sogleich wieder auseinanderzunehmen. Doch der Text ist anspruchsvoll und widerständig, er bleibt vielen, auch französischen Muttersprachler*innen im Publikum fremd.
Etwas anders geht die Compagnie Tro-Héol die Frage nach dem Wesen des Menschen in „Le Chita-complexe“ an. In ihrer mit großäugigen Stoffpuppen rund um ein großes drehbares Metallrad rasant und mit viel Musik von Queen für junges Publikum in Szene gesetzten Coming-of-Age-Geschichte muss sich ein kleiner Junge im Spanien der 1980er Jahre mit seinem strengen Vater auseinandersetzen, der ihn auf einem Bauernhof zum „Mann“ erziehen will. Der Junge nimmt allerdings das Wort „Homme“, das im Französischen zugleich Mann und Mensch bedeutet, sehr wörtlich – und muss sich fragen, was er eigentlich ist, wenn denn kein Mann/Mensch? Ein Tier? Der Konflikt mit dem Vater eskaliert, da weder der Junge noch seine Schwester den stereotypen Geschlechterrollen entsprechen wollen. Wie also Mensch bleiben und Mann werden?
Die Cie. La Main d'Œuvres sucht in „La rêve d'une ombre“ (Der Traum eines Schattens) auf der Folie von Hans Christian Andersens Kunstmärchen „Der Schatten“ nach dem Wesen des Menschen. In traumhaften Bildern, die Projektionen, Körperschatten und Film kombinieren, löst sich auch hier, wie im Märchen, der Schatten (ein leerer Anzug, geführt von einem Puppenspieler) vom Körper, lässt seinen Menschen zurück, versucht ihn schließlich zum Schatten seiner selbst zu machen und die Rollen zu tauschen. Aber was unterscheidet einen „echten“ Menschen von seinem Schatten, von diesem Doppelgänger im Unbewussten? Im Gegensatz zum Märchen muss der Mensch in dieser Inszenierung nicht sterben, alles war am Ende nur Albtraum.
Albtraumhaft ist auch das Szenario von „L'enfant“ (Das Kind) des Théâtre de l'Entrouvert nach „Der Tod des Tintagiles“, einem Werk des belgischen Dramatikers Maurice Maeterlinck. Die symbolische Bildästhetik von Elise Vigneron passt gut zu der symbolistischen Vorlage und macht das Stück zum Erlebnis für alle Sinne. Das Publikum nimmt mitten in der eindrucksvollen Bühneninstallation Platz: Räume eines verfallenen, dunklen Schlosses im Tal, ununterbrochen fällt Putz und Staub von der Decke. Das junge Mädchen Ygraine, die große Schwester des kleinen Prinzen Tintagiles, steht hier fast noch mehr als in der literarischen Vorlage im Zentrum. Ihr Kampf gegen die nie tatsächlich sichtbare dunkle Königin, um das Leben des kleinen Bruders, einer in ihrer Einfachheit berührenden, ganz weißen Marionette, steht in Vignerons Bühnenversion nicht nur für die Auflehnung gegen den Tod, sondern wird gleichzeitig zu einem Ablösungsprozess von der Kindheit, den Ygraine durchläuft.
Noch albtraumhafter und bedrückender ist „Gimme shelter“ der Cie. Yôkaï. In ihrer distopischen Mischung aus Bunker und verrottendem Jahrmarkt ist der Mensch an seinem Ende angelangt, sind kleine Roboterpuppen die einzigen Gefährten, ohne Empathie und Mitgefühl. Einen Ausweg gibt es nicht.
Aber was ist das nun, ein Mensch? Die schönsten Antworten auf diese Frage geben nicht die genannten großen Produktionen. Die poetische kleine Schattentheaterinstallation „Millefeuilles“ (ein schönes Wortspiel, Millefeuilles bezeichnet zugleich ein Blätterteiggebäck mit vielen Schichten, aber auch ganz wörtlich 1000 Blätter) der Cie. Areski, folgt mit ihren Pop-up-Papier-Geschichten einem kleinen einsamen Mann mit Hut. Die sich langsam verändernden Papierkunstwerke, die die Zuschauer*innen selbst mit ihren Handytaschenlampen beleuchten dürfen, sowie fantasie- und humorvolle Spielszenen stellen sich und uns immer wieder die Frage: Was treibt uns eigentlich an? Die Liebe? Oder allgemeiner, die Begegnung mit anderen? Gar die Kunst? Der kleine Jedermann zumindest schafft sich unermüdlich neue Gegenüber – um dann an der Beziehung zu scheitern.
Noch schlichter wirkt das Stück „La Vida“ des Spaniers Javier Aranda. Mit einigen kleinen Accessoires werden seine Hände zu einem Mann, einer Frau, deren Kind (das erwachsen wird und fliegen lernt). Auf einem Tisch folgt Aranda dem Lauf eines Menschenlebens. Und trotz leichter Anflüge von Kitsch: sein behutsames, zärtliches Spiel, die Interaktion mit seinen Geschöpfen gehen nah. Am Ende steht der Tod, unspektakulär und herzzerreißend – so ist „La vida“, das Leben eben. Unser Menschenleben.
– www.festival-marionnette.com