Protagonisten
Die mit dem Wolf spielt
Für die Schauspielerin Lilith Stangenberg ist Kunst auch Bekenntnis
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Lilith Stangenberg: Kunst ist Bekenntnis (12/2019)
Assoziationen: Sprechtheater Akteure Lilith Stangenberg Volksbühne Berlin Schauspielhaus Hamburg
Heimat ist überall. Als Lilith Stangenberg den Theaterbuchladen Einar & Bert in der Berliner Winsstraße betritt, geht ihr Blick sofort zur Wanddekoration: Teile von Frank Castorfs „Der Geizige“, gebaut vom früh verstorbenen Volksbühnen-Bühnenbildner Bert Neumann. Ist das von 2012? Natürlich war sie dabei gewesen, wie in fast allen späten Castorf-Inszenierungen. Sie blickt so irritiert auf die Wand wie auf ein modernes Pompeji.
Als Neumann im Juli 2015 plötzlich starb, sammelte die Redaktion von Theater der Zeit Stimmen von Weggefährten. Lilith Stangenberg, die gerade auf Sardinien war, quasi im ständigen Funkloch, schickte einige Zeilen, darin war zu lesen, was sie an Neumann so gemocht hatte: sein Talent, den Schauspielern etwas wie eine zweite Haut zu schaffen, in der sie möglichst frei spielen können. Kein Korsett, keinen Käfig. Es war die ideale Verkörperung des Volksbühnengeistes.
Es ist noch nicht lange her, da hat sie für das Buch „Alles Theater“ (2015) mit den schönen Fotos von Margarita Broich, gesagt, sie habe gar kein Leben neben der Bühne: „Das ist so der Pendelverkehr zwischen Proben und Spielen und Schlafen. Dann werde ich traurig, sehe mich um: Die Jugend, das normale Leben mit Freunden – das ist seit ein paar Jahren an mir vorbeigeweht.“ Und dann war es vorbei mit der Volksbühne. Eine Wunde, die schwer heilt. Obwohl – oder gerade weil? – sie jetzt wieder an der Volksbühne spielt, die Lulu in Stefan Puchers Inszenierung von Wedekinds Stück samt einiger zeitgeistiger Zusatztexte. Aber eine echte Rückkehr an die Volksbühne war es für sie nicht, obwohl im Technikbereich fast alle noch da sind, man sich kannte, es einerseits so vertraut war. Aber dafür andererseits umso fremder. Etwas fehlt. Der Geist, der hier herrschte, ist weg. So beginnt Vertrautes, das sich plötzlich in Luft aufgelöst hat, auf unheimliche Weise umherzugespenstern.
Nach einer „Lulu“-Vorstellung ging sie in die Kantine. Früher saßen oft noch am nächsten Morgen vom Vorabend Sitzengebliebene da, schliefen den Rausch der Nacht aus oder tranken schon den neuen Tag ein – aber jetzt, um halb ein Uhr nachts, also sehr früh nach alter Volksbühnenzeitrechnung, bekam sie kein Bier mehr. Die Kantine hatte schon geschlossen. Daran erkennt man eine neue Zeit. Überall ist Fremde.
Lilith Stangenberg muss an diesem Morgen bei Einar & Bert viel Tee trinken. Denn letzte Nacht hat sie eine Punk-Platte aufgenommen. Schlecht für die Stimme, aber gut für die Stimmung. Das ist Teil eines Projekts mit Khavn de al Cruz, dem Dichter und Regisseur, der als Erfinder des philippinischen Digitalfilms gilt. Ein Guerilla-Filmer in Manilas Slums. Mit ihm dreht sie gerade „Love Is a Dog from Hell“. Dazu kommt ein zweites Projekt mit ihm, zusammen mit Alexander Kluge: „Orphea“. Die mythische Geschichte des ersten Sängers, den es in die Unterwelt verschlägt. Aber mit veränderten Geschlechterrollen. Klingt anstrengend – aber lohnt sich, findet Lilith Stangenberg. Zudem ist es ein Stück wiedergefundener Volksbühnenüberanstrengung.
Den Volksbühnenalltag kannte sie seit 2007, da war sie neunzehn und spielte in „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“ bei Martin Wuttke in Schloss Neuhardenberg und in „Macht und Rebel“ bei Robert Lehniger an der Volksbühne, eine „skandinavische Misanthropie“. Danach bekam sie sofort Angebote von fünf großen Häusern und ging erst einmal ans Schauspielhaus Zürich, wo sie dann bereits mit Frank Castorf arbeitete, bis sie 2012 fest zum Volksbühnen-Ensemble kam.
Der Theaterbetrieb – ein Vampir
Eben noch hatte sie Anlass zu klagen, der Theaterbetrieb sei ein Vampir, der ihr die vitalen jugendlichen Kräfte aussaugt. Inzwischen kennt sie sich mit Vampiren aus, drehte mit Julian Radlmaier „Blutsauger“ und den Tatort „Blut“. Im vergangenen Jahr arbeitete sie auch wieder mit Frank Castorf zusammen, bei den Salzburger Festspielen in Knut Hamsuns „Hunger“ und am Schauspielhaus Hamburg in Eugene O’Neills „Der haarige Affe“. Und es gibt weitere Projekte, etwa Carl Sternheims „Ein bürgerliches Heldenleben“ in der Regie von Frank Castorf im Januar in Köln. Dennoch ist da ein Vakuum, anders gesagt: Die Hermetik ist weg. Das ist schon seltsam für sie, die im Jugendclub der Volksbühne, P14, zu spielen anfing, und dann – ohne je eine Schauspielschule von innen gesehen zu haben – so viele Jahre im hochtourigen Castorf-Zirkus mit dabei war. Nun hat sie plötzlich eine Vergangenheit, mit einunddreißig Jahren.
Seit zwei Jahren dreht sie so viel, wie sie früher Rollen am Theater hatte. Heute ist ein freier Tag, so was ist aber auch schon eine Seltenheit. Sie pendelt zwischen Manila und New York und wirkt dabei immer noch wie das Mädchen aus Kreuzberg. Irgendwie aus der Zeit gefallen, eine von ihrem rabiaten Flugverhalten ramponierte Fee, vom Winde verweht, gleichzeitig naiv und auf bedächtige Weise klug. Ein eher nächtliches Wesen, das sich in den Tag verirrt hat. Welch irritierende Mischung, in der vielleicht das Geheimnis ihres Erfolgs verborgen liegt. Erst übersieht man sie fast, dann aber fasziniert sie.
Schnell kommt man mit ihr auf wesentliche Dinge zu sprechen, zwischen dem ersten und dem zweiten Tee, auf halber Strecke zwischen destruktivem Trieb, Seele und Vernunft, Gott und den Fesseln der Moral, die die Kunst neuerdings immer mehr zu spüren bekommt. Bei Frank Castorf hat sie die große Freiheit des Spiels erfahren. Auch als Last, die es zu tragen gilt, nicht leicht, aber lohnend. Die großen Dostojewski-Stoffe, von „Der Spieler“ bis zu „Die Brüder Karamasow“, das waren Welterkundungen auf dem Grunde der eigenen Seele. Wie viel Religion steckt in der Kunst? Das ist eine Frage, die sie beschäftigt. Häufig tauchte sie in den letzten Jahren in ihrer Arbeit in die dunkle Seite unserer Existenz ein. Das war einerseits eine großartige Erfahrung, aber andererseits eine Bürde. Sie hatte das Gefühl, dagegen die humane Substanz in sich stärken zu müssen. Beten hilft bei sich zu sein! Das ist für sie eine relativ neue Erfahrung, Selbsttherapie mit metaphysischen Weiterungen. Man spricht etwas still für sich, aber es ist mehr als bloß ein Monolog. Wenn man so viele Jahre auf der Bühne und vor der Kamera sich gleichsam verströmt, immer zuerst für andere, dann muss man auch wieder einmal etwas nur für sich tun.
Wenn in unserem kurzen Leben ein Moment Ewigkeit aufleuchtet, dann hat das für sie mit Kunst zu tun. Gewiss, sage ich, in Kunst ereignet sich Transzendenz. Die Fähigkeit, immer wieder anzufangen, hat zweifellos etwas Weltschöpfendes. Wer spielt, hält seine Kindheit gegenwärtig – aber im Unterschied zur Religion bedarf es dabei keines ausgesprochenen Bekenntnisses. Das sehe sie anders, erwidert Lilith Stangenberg, für sie habe das sehr wohl etwas Bekenntnishaftes! Und schon ist man in einem religionsphilosophischen Diskurs gefangen. Lilith Stangenberg hat keine Schwierigkeiten, etwas so zu sagen, dass es auch bekenntnishaft ist. Kein „vielleicht“, kein „einerseits so, andererseits aber auch anders“ – keine dialektischen Spielchen, mit Fluchtwegen nach allen Seiten. Ich ahne, was sie mit der bekenntnishaften Dimension von Kunst meint. Keineswegs bloße Meinungen, erst recht nicht Abstrakta wie Prinzipien oder Dogmen, sondern etwas zutiefst Persönliches, das eine existenzielle Wucht entfaltet. Darum sind ihr auch Andrej Tarkowskis Filme so wichtig. „Das sind Exerzitien“, sagt Lilith Stangenberg, da drehe sich alles um unsere Art, in der Welt zu sein. Darum, Zeit ganz sinnlich zu erfassen, in ihrem grausamen Gang, unsere flüchtige Existenz unaufhaltsam dem Ende entgegenzutreiben.
Castorf ist ein Aktionist der Zeitverlängerung. Es geht immer noch ein bisschen mehr. Spielen bedeutet hier, der eigenen Ermüdung zu widerstehen, auch als Zuschauer muss man kämpfen. Christoph Marthaler dagegen hat eine andere Art Zeitverständnis. Er spielt ebenso mit der Zeit, aber indem er auf Zeit spielt, bis hin zur punktuellen Zeitstillstellung. In Marthalers „Hallelujah (Ein Reservat)“ von 2016, einer Welt als furchterregendem Freizeitpark, sah ich Lilith Stangenberg ganz anders als bei Castorf agieren. Gelöster, weniger forciert, geradezu lässig in Beiläufigkeiten versenkt. Da bekommt die Apokalypse etwas von einem schlechten Witz.
Welch eine Gespensterbahn, auf der die Untoten der Freizeitindustrie immer im Kreis fahren! Der Programmzettel listete lauter Ehemalige auf, von der „ehemaligen Mitarbeiterin des Kassenwesens“ bis zum „ehemaligen Dean-Reed-Darsteller“. Und Lilith Stangenberg war die Prinzessin dieses bizarren Totenreigens, die „ehemalige Dauerkartenbesitzerin“, die zehn Jahre Freizeitpark in einer Tombola gewonnen hatte und nun noch 3501 Tage hier auszuharren hat. Denn eine Dauerkarte ist eine Dauerkarte. Lilith Stangenberg zelebrierte das Erschrecken über die Permanenz von Spaß, der von Horror nicht mehr zu unterscheiden ist. Wir begegnen uns selbst als Zombies unserer ehemaligen Leben. Hat unsere wachsende Apathie vielleicht etwas mit dem Appetit von Maschinen zu tun, die immer unsere Träume wegfressen, die zu erfüllen sie angeblich erfunden wurden? Mit Lilith Stangenberg kann man übergangslos in diese absurden (Unter-)Welten unseres Alltags eintauchen, unbekümmert darüber, wo auch immer man wieder auftauchen wird. Das ist fast schon Optimismus.
Woher hat sie eigentlich den Namen Lilith, das war doch Adams erste Frau? „Ja, und auch ein Dämon! Mein Vater war von der Stärke dieser Figur fasziniert, sah darin vor allem den starken emanzipatorischen Willen.“ Und wie das so ist – nomen est omen –, immer wieder stößt sie nun auf dieses Thema. Wie kann man aus dem Käfig von Regeln und Normen, der einen gefangen setzt, ausbrechen? Nicolette Krebitz’ „Wild“ war eine Art Initiation. Kunst als gefährliche Expedition zu sich selbst. Natürlich ist der Wolf gefährlich und wild, aber auch schön und frei – eben die Verkörperung des archaischen Prinzips. Jemand, der sich nicht zähmen lässt. „Lilith ist selbst ein Wolf“, hat die Regisseurin über ihre Schauspielerin gesagt. Der Wolf zeigt uns, wie man die Kraft in sich weckt, aus einem falschen Leben auszubrechen. Wenn man aufhört, wie gewohnt bloß zu funktionieren, beginnt ein neues Leben. Und die Sexualität ist dabei eine Urkraft. So erfährt es Anja, die junge Frau, die im Büro vom Chef so gleichgültig wie ein Ding behandelt wird, gerade gut genug, um Kaffee zu holen.
„Der Wolf ist nicht böse“, sagt Lilith Stangenberg. Nelson, so heißt der Wolf, kam mit seinem Rudel aus Ungarn, denn ohne ihr Rudel, so Lilith Stangenberg, werden die Wölfe ganz traurig. Man kann dann nicht mit ihnen arbeiten. Nelson wusste immer genau, wie es um sie stand. Jede Verstimmung, jede Ablenkung registrierte er. „Wölfe sind Berührungstiere, so verständigen sie sich auch untereinander.“ Die Szenen, die sie zusammen drehten, waren nur möglich, weil der Wolf die ihm entgegengebrachte Liebe spürte. Der Tiertrainer selbst habe nicht geglaubt, dass so intime Szenen überhaupt möglich seien. Außerdem war Nelson ein Filmprofi mit über hundert Drehtagen. Er hatte auch schon mit Gérard Depardieu gedreht, der furchtbare Angst vor dem Wolf hatte und zur eigenen Ermutigung vorher immer etwas trank. Angst und dazu Alkohol: Wenn Wölfe etwas nicht mögen, dann das.
Einen Wolf kann man nicht zähmen, aber vielleicht verzaubern? Nur wenn man sich gleichzeitig auch von ihm verzaubern lässt. An diese Magie glaubt Lilith Stangenberg. Die ist auch der Boden, aus dem jene Kunst wächst, die das Leben verändert. In diesem Jahr kam „Idioten der Familie“ von Michael Klier ins Kino, ein bisschen so wie „Idioten“ des von ihr bewunderten Lars von Trier, aber eben nur ein bisschen. Lilith Stangenberg war Ginnie, die geistig behinderte junge Frau, die bei ihrer Schwester lebt, aber nun soll sie ins Heim. Sie kann nur lallen, schreien, beißen, kratzen, spucken oder treten. Aber auch sich still anlehnen, oder heftig anklammern. Eine radikale Rolle für Lilith Stangenberg in einem Film, der dann doch wieder zu viele Kompromisse machte.
Das ist das Großartige an der Arbeit mit Frank Castorf. In O’Neills „Der haarige Affe“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg reißt sich Lilith Stangenberg als Milliardärin, die auf einem Schiff unterwegs ist, plötzlich die Sachen herunter, wirft ihre Diamanten weg und beginnt, nackt Kohlen zu schaufeln, 25 Minuten lang. Ein bezwingendes Symbol, das nicht wenige Zuschauer verstörte. Nach einem derart kompromisslosen Ausdruck sehnt sie sich. //