Theater der Zeit

ruhrtriennale

Völlig losgelöst

Die Ruhrtriennale beschäftigt sich seltsam kraftlos mit der Schwelle zwischen Leben und Tod

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Barbara Frey Ruhrtriennale

„Haus“ von Sarah Nemtsov in der Regie von Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke in der Turbinenhalle. Foto Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2022
„Haus“ von Sarah Nemtsov in der Regie von Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke in der Turbinenhalle.Foto: Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2022

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Ein Motto? Nein. Barbara Frey verweigert solche Banalitäten. Die Intendantin der Ruhrtriennale will die Wahrnehmung des Publikums nicht lenken. Sie selbst spricht allerdings oft von den Geistern, die sich in den Industrieräumen des Ruhrgebiets bewegen, die irgendwie mitspielen. Das sind nicht nur Wiedergänger der Bergleute, sondern auch von deren Frauen mit ihren unerzählten Geschichten. Aber auch Geister, deren Leben von diesen Orten mitbestimmt wurden, durch das Schmieden des Stahls für Kriege, Kapitalismus, Kolonisation. Ein spannendes Konzept, um drei Jahre die Ruhrtriennale zu leiten. Eigentlich.

Im vergangenen Jahr hat Barbara Frey noch einige dichte, aufregende Aufführungen gezeigt. Ihre Einstandsinszenierung von Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“, mit einem viertelstündigen monoton hämmernden Pianosolo, einem Ritual der Reinigung für das Publikum. Und vor allem die alle Genregrenzen pulverisierende Performance „D. I. E.“, ein unglaubliches Raum- und Klangerlebnis in der riesigen Duisburger Kraftzentrale. Die in diesem Jahr so gut wie gar nicht bespielt wird. Die Kraftzentrale fehlt.

Der Spielplan bietet diesmal überhaupt nur wenige Großprojekte. Dabei sind sie es, die den Reiz der Ruhrtriennale ausmachen. Das Festival wurde geschaffen, um an den überlebensgroßen Orten Visionen zu erkunden und zu entwerfen. Stücke zu spielen, die sonst nicht so umgesetzt werden können wie hier. „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann auf einer langgezogenen Bühne, an deren Seite das Publikum auf Schienen entlangfuhr. Die beweglichen Tribünen bei Willy Deckers Inszenierung von Schönbergs Oper „Moses und Aron“. Die unglaubliche „Wolf“-Choreografie von Alain Platel, viele überwältigend emotionale Aufführungen von Johan Simons. Die Liste ist lang. Bisher gab es immer mindestens ein unvergessliches Erlebnis bei der Ruhrtriennale.

Klar, das Ensemble des Burgtheaters ist toll. Und Barbara Frey eine meisterhafte Regisseurin. Sie lotet „Das weite Land“ von Arthur Schnitzler mit grimmigem Humor und großer Präzision aus. Ein großer Schauspielabend mit großen Schauspielerinnen und Schauspielern. Michael Maertens, Bibiana Beglau, tiefe Verneigung. Im Wiener Akademietheater läuft der Abend seit September. Hier gehört er hin. Aber in die Bochumer Jahrhunderthalle? In der hinteren Ecke ist die Bühne eingerichtet, ganz klassisch, die Aufführung wirkt, als könne man sie gleich einpacken und nach Wien fahren. Eine Preview. Die Proben haben auch weitgehend in Wien stattgefunden Okay, ist erlaubt, man muss auch im Theater nachhaltig denken. Aber „Das weite Land“ ist eine von wenigen größeren Premieren in diesem Jahr. Da wird das Vergnügen am schönen Schauspiel schal.

Auf dem Weg zum Schnitzler sieht man den größeren Teil der Jahrhunderthalle. Er ist von stählernen Stegen durchzogen. Ein faszinierendes Bühnenbild von Hermann Feuchter. Es gehört zur Eröffnungsinszenierung „Ich geh unter lauter Schatten“, eine Kreation, die den Geist des Ruhrtriennale-Gründers Gerard Mortier beschwören könnte. Grandios hat sie begonnen. Während das Dämmerlicht durch die Fenster im Dach und an der Rückseite schimmert, füllen Klänge von Giacinto Scelsi den riesigen Raum. Zentrum des Abends ist der Liederzyklus „Quatre chants pour franchir le seuil – Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten“ von Gérard Grisey. Es geht um die Schwelle zwischen Leben und Tod. Erst stirbt ein Engel, dann die Zivilisation, gefolgt von der Stimme. Schließlich ist die gesamte Menschheit dem Tode geweiht, bevor ein Wiegenlied wieder einen Funken Hoffnung ermöglicht.

Der Abend fasziniert, bis die Zivilisation stirbt, eine Dame im blauen Kostüm. Denn hier haben die Regisseurin und Dirigent Peter Rundel ein weiteres Stück Gérard Griseys eingebaut, „Tempus ex Machina“ für sechs Schlagzeuge. Die Zeit gerät aus den Fugen, immer wieder entladen sich neue Salven aus dem Schlagwerk. Die Musiker sind ganz weit hinten, kaum zu sehen. Hier kommt der Abend aus dem Tritt. Nach dem quälend langen Dahinsiechen der Zivilisation findet Elisabeth Stöppler nicht mehr zu packenden und konzentrierten Bildern.

Natürlich haben sich die Macher:innen sehr viel dabei ­gedacht. Sie teilen es auch mit. In sperrigen Texten auf den Programmblättern, die vorgelesen als Audioeinführung noch abge­hobener wirken. Selbst erfahrene Theaterbesucher:innen grübeln, was mit diesen Emanationen elitärer Ekstasen gemeint sein ­könnte. Ist das Fundamentalopposition gegen den Trend, Schwellenängste zu nehmen und auch komplexe Kultur mit der Ahnung einer Verständlichkeit zu versehen?

Eine weitere, kleinere Musiktheaterproduktion scheitert an dieser Art der Kommunikation. In der Turbinenhalle hinter der Jahrhunderthalle hat das Regie- und Videoteam Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke den Kammermusikzyklus „Haus“ von Sarah Nemtsov inszeniert. Zunächst bewegt sich das Publikum frei im Raum, von einer Klangperformance zur anderen. Der Blick fällt auf kaputte Wände, in einen von Flackerlicht beleuchteten Keller, man kann die Turbinen anfassen. Die Sitze sind von einem Tuch bedeckt, auf das ein Video projiziert wird, streichende Hände. Faszinierend, die Halle lebt. Vielleicht auch durch die Geister, die heraufbeschworen werden, ungreifbar, ohne konkrete Geschichten. Der zweite, konventionellere Teil mit sitzendem Publikum ist schwächer. Doch das kann man ertragen, wenn die Ruhrtriennale diesem Abend seine Rätselhaftigkeit belassen würde.

Doch in Programmzettel und Audioeinführung wirft die Dramaturgie wiederum die Schwurbelkurbel an. Wie in einem völlig verkopften Universitätsseminar wird rauf und runter zitiert und die Sinnlichkeit frittiert. Plötzlich soll man alles Mögliche in die Bilder und Klänge hineinlesen und hat doch nichts davon gesehen. Nein, Vermittlung kann diese Ruhrtriennale wirklich nicht. Gar nicht.

Weitere Belege? Gern. Gleich am Eröffnungsabend gab es anstelle einer Eröffnungsrede ein Kammerkonzert, die „Mysteriensonaten“ von Heinrich Ignaz Franz Biber. Der Komponist war einer der größten Violinvirtuosen seiner Zeit und hat die Geige immer wieder anders gestimmt, um neue Töne und Stimmungen zu erzielen. Deshalb liegen vier Violinen auf der Bühne, und die Geigerin stimmt sie immer wieder neu. Dem Publikum wird das allerdings nicht erklärt. Und wer nicht das Programmheft gelesen oder sich selbst informiert hat, fragt sich, was das alles soll. Und vor der Jahrhunderthalle stehen während des gesamten Festivals drei Bagger und klappern mit den Schaufeln. Das soll eine Art Dialog sein, „THE HUDDLE“ nennt die Künstlerin Katja Aufleger ihre Installation. Viel Geklapper, kein Sinn, keine Faszination.

Natürlich gab es auch bei dieser Ruhrtriennale schöne ­Momente. Das Gastspiel des enorm vitalen Stücks „Hillbrowfication“ von Constanza Macras zum Beispiel, 2018 im Berliner ­Gorki-Theater entstanden. Ein paar tolle Konzerte außerdem. Doch das reicht nicht. Barbara Frey und ihr Team haben die Ruhrtriennale nicht verstanden. Der Geist des Festivals besteht in einer Mischung aus Herausforderung und Zugänglichkeit, von Hochkultur und Bodenständigkeit. Barbara Frey ist auf den Schwingen anderer Geister ins Irgendwo geflattert. Im Ruhrgebiet ist sie nie angekommen. //

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