Auftritt
Theater Hagen: Verdi trotzt der Armut
„La Traviata“ von Giuseppe Verdi und Francesco Maria Piave – Musikalische Leitung Sebastian Lang-Lessing, Inszenierung Søren Schuhmacher, Bühne Norbert Bellen, Kostüme Jeannine Clemen, Lichtgestaltung und Video Hans-Joachim Köster, Chor Julian Wolf, Choreographie Noemi Emanuela Martone
von Stefan Keim
Assoziationen: Theaterkritiken Musiktheater Søren Schuhmacher Theater Hagen

„Hagen im Ruhrgebiet – wo gar nichts in Ordnung ist“. So lautet der Titel eines Artikels im Spiegel vor einigen Wochen. Darin geht es um Armutsmigration, um Tausende Menschen aus Rumänien und Bulgarien, die vom Bürgergeld in Bruchbuden leben und die ohnehin vorhandene Finanznot Hagens noch verstärken. Bei der Stichwahl sind die beiden Kandidaten von CDU und AfD übrig geblieben, einst war Hagen eine sozialdemokratische Hochburg. Die Stadt setzt weiter auf ein eigenes Musiktheaterensemble, obwohl die Auslastung des Theaters zuletzt immer weiter in den Keller rutschte. Dem entgegen stehen allerdings neun Nennungen in der letzten Kritikerumfrage der Opernwelt. Überregionaler Ruhm und lokale Tristesse – das passt auf Dauer nicht zusammen. Der neue Intendant Søren Schuhmacher hat nun als erstes Premiere im großen Haus Verdis „La Traviata“ inszeniert.
Es geht aber nicht nur darum, mit einer der meistgespielten Opern die Häupter der verbliebenen Fans um sich zu scharen. Schuhmacher und sein Team haben eine große Kommunikationsoffensive gestartet, haben mit vielen Menschen gesprochen, waren in Cafés auch in Stadtteilen mit hohem Migrationsanteil.
Er spielt – wie sein Vorgänger Francis Hüsers – viele Rockshows und Musicals, hat aber mit zeitgenössischer Oper angefangen. In „Der goldene Drache“ von Peter Eötvös nach dem Theaterstück von Roland Schimmelpfennig sitzt das Publikum auf der Bühne, nah dran am Geschehen. Möglichst wenig Distanz – das ist auch bei der ersten Produktion für den großen Saal Konzept. Ein Steg führt über den Orchestergraben ins Publikum, es gibt einige Auftritte aus dem Parkett.
Die Geschichte der Kurtisane Violetta, die an Tuberkulose erkrankt ist, ihrem Geliebten entsagt und sich einsam dem Tode entgegen hustet, inszeniert Søren Schuhmacher ohne Kitsch. Ein glitzerndes Schaukelpferd steht auf der Bühne, als stumme Rolle hat die Regie ein Kind hinzuerfunden, das für Violettas Erinnerungen steht. Am Ende tritt sie aus ihrer Rolle heraus und verlässt zusammen mit dem Kind über den Steg die Bühne. Sich am Klischee der leidenden, vom Weg abgekommenen (das heißt Traviata wörtlich übersetzt) Frau zu ergötzen, überlässt sie den zurück bleibenden Männern. Auch wenn die Inszenierung immer mal wieder in Opernbanalitäten rutscht – die dekadenten Feiern mit Burlesquetänzerin hätten so auch vor 40 Jahren gezeigt werden können – gelingt es dem neuen Intendanten, die Geschichte klar und nachvollziehbar zu erzählen. Und dabei eine aktuelle Perspektive zu entwickeln.
Das Philharmonische Orchester folgt dieser Konzeption hundertprozentig. Der neue Generalmusikdirektor Sebastian Lang-Lessing dirigiert ungewöhnlich rau und ruppig. Gerade mal den Anfang der Ouvertüre und die sehr berührende Sterbeszene gestaltet er mit emotionalem Atem. Sonst liegt etwas Fiebriges und Aggressives in den Chören wie in den Liebesschwüren. Serenad Uyar hat als Violetta auch keine glitzernd-verführerische Sopranstimme, keine Italianitá, wie sie viele Opernfans so lieben. Sie singt die Rolle eher hart, eine Frau, die sich ihren Liebestraum erarbeiten muss und schon viele Macken davongetragen hat.
Klassisch italienisch klingt hingegen Tenor Giuseppe Infantino als ihr Geliebter Alfredo. Mit modischer Brille und Samtanzug wirkt er wie ein junger reicher Erbe, der noch nie selbst etwas geleistet hat. Das Gegenbild ist sein dunkel gekleideter Vater Giorgio Germont, der Violetta auffordert, seinen Sohn in Ruhe zu lassen. Bariton Insu Hwang verzieht keine Miene, bewegt sich wie ein Roboter, kaum einmal verlassen die Hände die Hosennaht. Obwohl er schon einige Gefühle in den Gesang packt, wirkt er körperlich völlig kalt.
Es war ausverkauft. Das ist schon eine großartige Nachricht für das Theater Hagen, denn das war – auch in den Premieren – lange nicht mehr der Fall. Und das Publikum jubelte im Stehen, ließ sich mitreißen, begrüßte das neue Leitungsteam mit viel Sympathie und Wohlwollen. „Hier ist echt was in Bewegung.“ Den Satz habe ich vor der Premiere und in der Pause oft gehört. Und zumindest an diesem Abend scheint am Theater Hagen einiges in Ordnung zu sein.
Erschienen am 7.10.2025