Auftritt
Theater Ulm: Mit doppeltem Boden?
„Taxi nach drüben“ von Philipp Löhle (UA) – Regie Philipp Löhle, Ausstattung Ulrich Leitner
Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Dossier: Uraufführungen

Der Taxifahrer Helmut nagt mit seiner Familie am Existenzminimum. Mit den Fahrten hält sich die Familie aus Ulm gerade mal so über Wasser. Dann fährt der Kleinunternehmer eine Kundin in die DDR. Da wird er als Agent angeworben. Wieder zurück in Deutschland macht ihm der Bundesnachrichtendienst dasselbe verlockende Angebot. In „Taxi nach drüben“ erzählt Philipp Löhle die Geschichte eines Doppelagenten, der zwischen die Fronten des Kalten Kriegs gerät.
Auf den Fall des Familienvaters Hermann Reisch aus Westerstetten bei Ulm stieß Löhle, der zu den viel gespielten Autoren im deutschsprachigen Theater gehört, vor einigen Jahren, in einer Zeitschrift. Dieses Schicksal ließ Löhle nicht los. Aus langen Gesprächen mit dem Mann, der die rohe Gewalt beider deutscher Staaten gnadenlos zu spüren bekam, hat der 47-jährige Autor und Regisseur das rasante Geschichts-Briefing entwickelt.
Auf Drehstühlen folgt das Publikum im Podium des Ulmer Stadttheaters der sich überschlagenden Handlung. Die Bühne umschließt den Zuschauerraum. Da folgt das Publikum den Stationen, die den Protagonisten Helmut an den Rand der eigenen Existenz führen. Wenn sich die Zuschauer:innen im Raum drehen, öffnen sich Perspektiven und Spielsituationen. Ulrich Leitner hat die Ausstattung auf wenige, griffige Requisiten reduziert. Das Taxi, ein nostalgisches Mercedes-Modell, rollt per Video-Projektion durch den Raum.
Mit Tiefgang entwickelt Maurizio Micksch das Porträt des Mannes, den ein riesiger Schuldenberg erdrückt. Verführt von den falschen Versprechungen der Wirtschaftswunderjahre, ist er auf dem besten Weg, seine Familie an die Wand zu fahren. Ende 1979 wirbt ihn die Stasi an. Darüber informiert er den Verfassungsschutz der BRD, der ihn in die Rolle eines Doppelagenten drängt. Miksch legt das Porträt seiner Figur klug an. Hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu seinem Staat, der BRD, und den Bedürfnissen seiner Frau und der zwei Kinder, lässt er sich auf die gefährliche Reise ein, die im Staatsgefängnis der DDR in Hohenschönhausen endet. Hermann Reisch hat das Ensemble bei den Probenarbeiten begleitet, von seinen Erfahrungen als Doppelagent berichtet. Das macht die Geschichte so authentisch.
Mit dem ihm eigenen Humor betrachtet Löhle ein Kapitel der deutschen Geschichte, das viel zu wenig aufgearbeitet ist. Mit Deutschländer-Würstchen und Bautz’ner Senf rekapituliert das vierköpfige Ulmer Ensemble ein Stück deutscher Vergangenheit. Diese Assoziation sitzt: In Bautzen war auch ein berüchtigtes Stasi-Gefängnis. Und obwohl Löhle den Protagonisten so bemerkenswert ehrlich porträtiert, verrutschen die Stasi-Funktionäre und BRD-Verfassungsschützer zu stark in die Karikatur. Frank Röder als Friedensbewegter und Stasi-Spitzel hat zwar die Lacher auf seiner Seite. Die perfiden Mechanismen des Systems vermag er nur bedingt zu entlarven. Stefanie Schwab, die als Mutter ihre Motivationen sehr überzeugend offenlegt, verheddert sich als Generalmajor in Klischees. Als Tochter des Doppelagenten skizziert Emma Lotta Wegner das Leiden, das die Agentenrolle ihres Vaters über die Familie bringt. Gemieden von den Menschen im Dorf Westerstetten, geriet ihr Leben aus den Fugen.
Klug verortet Philipp Löhle das Stück im politischen Kontext. Die Bedrohung der Menschen im Kalten Krieg bringt „Taxi nach drüben“ klar zur Sprache. So arbeitet er mit dem Text ein Stück Regionalgeschichte auf. Durch die Pershing-Raketen der USA, die nahe Ulm stationiert waren, lebten die Menschen in der latenten Gefahr, im Kriegsfall von den Atomsprengköpfen ausgelöscht zu werden. Diesen historischen Kontext vermittelt Löhle im Stück überzeugend.
Graubraun zeichnet Löhle als Regisseur die Vergangenheit der DDR nach. Dabei zitiert er lustvoll die steife Ästhetik von DDR-Serien der 1970er- und 80er-Jahre. Seine Versatzstücke aus dem Staat, den es schon lange nicht mehr gibt, sind aber so viel mehr als eine Geschichtsstunde im Schnelldurchlauf. Sein politisches Theater legt Abhängigkeiten offen, die mehr denn je an Aktualität gewinnen. Zwar lässt sich das Gefühl der permanenten Bespitzelung, wie sie die Menschen im Stück erleben, heute nicht mehr so leicht greifen, doch ist das Problem gravierender denn je. Die sozialen Medien bieten Staaten heute weit mehr Möglichkeiten, als dies in der Hochphase des Kalten Kriegs möglich war. In den USA etwa werden kritische Posts auf Facebook und Co. herangezogen, um über die Einreise zu entscheiden. Wegen vermeintlich „antiamerikanischer Kommentare“ landen Menschen sogar in Gefängnissen. In diesem aktuellen Kontext liest sich die Geschichte aktueller denn je.
Erschienen am 17.11.2025















