Theater der Zeit

Auftritt

Theater Bremen: Ästhetisches Manifest des Miteinanders

„Verbundensein“ von Kae Tempest. Ein Visual Poem von Alexander Giesche – Regie Alexander Giesche, Bühne Alexander Giesche, Anka Bernstetter, Kostüme Felix Siwinski, Komposition und Sounddesign Ludwig Abraham, Video und Animation Luis August Krawen, Leonard Schulz

von Jens Fischer

Assoziationen: Bremen Theaterkritiken Dossier: Neue Dramatik Alexander Giesche Kae Tempest Theater Bremen

Nadine Geyersbach in „Verbundensein“ am Theater Bremen.
Nadine Geyersbach in „Verbundensein“ am Theater Bremen. Foto: Eike Walkenhorst

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Die Zeit für Kae Tempests Essay „Verbundensein“ tickt am Theater Bremen nicht monomanisch der Zukunft entgegen. Divers ist der antreibende Puls. Ein klick-klackendes Metronom rotiert gemütlich auf einer Drehscheibe, der live hörbar gemachte Herzschlag von Schauspielerin Nadine Geyersbach wechselt zwischen beschleunigter und besänftigter Raserei. Ein angezeigter Countdown eilt vorwärts und schleicht gleich wieder rückwärts. Freiere Rhythmen extemporiert Schlagzeuger Paul Amereller zu wallenden Electro-Sounds. Und Regisseur Alexander Giesche verbindet all das höchst souverän, indem er sich viel Zeit nimmt. In 160 pausenlosen Aufführungsminuten passiert beruhigend wenig, aber ästhetisch viel Schönes. Wer Taktung, Tempi und Reizdichte des rasend effizienzoptimierten Alltags benötigt, rutscht möglicherweise nervös ins Langweilen, alle anderen können in einen Zustand reflektierender Muße gleiten. Visual Poems nennt Giesche seine performativen Installationen. Das Genre hat er als Artist in Residence am Theater Bremen (2012 bis 2014) für sich erfunden und es anschließend an den Münchner Kammerspielen, am Theater Luzern sowie am Schauspielhaus Zürich weiterentwickelt. Assoziativ in einem – der aufwändigen Technik zum Trotz – lässig improvisiert wirkenden Duktus übersetzt er mit Objekten, Projektionen, Musik und Sprecher:innen mal ein Gefühl, mal eine Atmosphäre oder einen Gedanken in seine Tableaus. Als Bilderdichter deutet er vieles an – nichts aus. Das ist mal kauzig humorvoll, mal schlau abstrahierend, mal stimmungsbebend, manchmal auch hübsch unverständlich. 

Nadine Geyersbach erinnert in ihrem aufgeblasenen Pluderhosenkostüm an Popeye. Auf dem Shirt steht „The ultimate fighter“, was vielleicht als Hinweis auf die kraftstrotzende Einsamkeit des wettbewerbsorientierten Individualismus der Wohlstandsgesellschaften zu verstehen ist. Denn gegen die soll nun mit Tempests Text aus dem Corona-Lockdown eine von Achtsamkeit getragene Alternativkultur behauptet und die Theorie auch gleich in die Praxis erprobt werden, also wie Theater als Empathie ermöglichende und damit Gemeinschaft stiftende Kunst funktionieren kann. Herzlich begrüßt Geyersbach daher das Publikum, es soll sich willkommen und später auch einander fühlen. Zum Locker- und Empfänglichmachen für kommende Botschaften lädt sie dazu ein, schonmal einen Ton zusammen zu singen – und reicht auch eine riesige Schüssel voller Knabberkram durch die Parkettreihen. Sich selbst mit dem Spielort verbindend tigert und schleicht die Schauspielerin derweil die Raumvolumina ab, schwebt auch mal in meditativer Abgehobenheit an einer Traverse herum, während der Bühnenboden unter ihr verschwindet, also konkret wie metaphorisch Untiefen offenbart.  

Immer wieder als Gegenentwurf zur toughen Spoken-Word-Performer:in Kae Tempest liest Geyersbach in einem feinsinnig mitleidigen Ton aus „Verbundensein“ vor. Sie erklärt vor dem rückwandfüllenden Spiegel, der jeder Besucher:in ihre Außenwirkung reflektiert, dass es heute Abend um Selbstbespiegelung gehe. Sich erstmal öffnen, persönlich werden, Fehler eingestehen, Mängel offenbaren, Charakterschwächen outen – wie es in Tempests Buch vorgemacht wird. Deswegen hat Giesche vor allem Passagen ausgewählt, in denen die Autor:in von their falschen Leben erzählt – als they von Auftritt zu Auftritt, von Droge zu Droge hetzte, sich selbstvergessen im irgendwie Klarkommen ausgepowerte und in der Selbstvermarktung abstumpfte, was eine Selbstbefragung zur Folge hatte: die wache Suche nach eigenen und fremden Ichs. Zur Illustration fackelt Geyerbach ein Mikrofon ab, Kae Tempests Handwerkzeug einer einst radikal politischen Poesie.  

Und wie kommen wir nun alle zueinander? An eine eingeblendete Handynummer können SMS-Nachrichten geschickt werden, die dann auf einer LED-Tafel aufblitzen. „Das dauert“ ist zu lesen, „Miethaie enteignen“ oder „Ich muss dringend Pipi“. Gleichzeitig bauen zum Mitmachen animierte Besucher:innen VHS-Cassetten zu einem riesigen, über die ganze Bühne mäandernden Domino-Labyrinth auf. Eine gute halbe Stunde passiert nichts anderes. Viel Zeit, um darüber zu räsonieren, was es bedeuten könnte, wenn schließlich Tausende zu Filmen geronnene und auf Magnetband gespeicherte Träume, Sehnsüchte, Lebensentwürfe – einmal angestupst – einander umschmeißen und für ein fröhliches Chaos auf dem Boden sorgen. Zur Entspannung folgt eine Rockkonzert-Lightshow, deren Strahlen die Bühne und das Parkett verbinden. Und die Menschen?  

Leg dein Handy weg, heißt es gegen Ende, lausche den Vögeln, höre auf deine Empfindungen und öffne dich denen der anderen. Dann kommt auch noch Elton Johns „Love song“ zu Gehör: „You say it′s very hard / To leave behind the life we knew / But there's no other way / And now it's really up to you / Love is the key we must turn”. Lebenshilfe-Kitsch? Nein, nur das theatrale Pathos ist manchmal etwas dick aufgetragen. Aber als fast alle Besucher:innen wieder zusammen singen, klingt der Chor voller, harmonischer als zu Beginn des Abends. Unter der im besten Sinne bedächtigen Moderation Geyersbachs ist das Publikum also wohl ein bisschen warm miteinander geworden – im gemeinsamen Erleben dieser visuell beeindruckenden, reizvoll verspielten, inhaltlich eher schlichten Predigt für eine andere Zeit. 

Erschienen am 17.5.2023

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