Magazin
Unsortierte Materialschlacht
Der Regisseur Christopher Rüping bekommt ein umfangreiches Fanboybuch
von Stefan Keim
Erschienen in: Theater der Zeit: Konflikt Kunstfreiheit – Politische Antike „Die Orestie“ in Epidauros (09/2024)
Assoziationen: Buchrezensionen Christopher Rüping
Die meisten bedeutenden Regisseure haben eine wiedererkennbare Handschrift. Sie schreiben ihren eigenen Kosmos fort, was im Glücksfall zu immer weiteren Vertiefungen und Verfeinerungen führt. Es kann aber auch langweilig werden. Wenn der kreative Quell gerade mal nicht so sprudelt, gerät dieses Theater schnell zur Konfektionsware. Bei Christopher Rüping gibt es das bisher nicht. Die Inszenierungen des 38-Jährigen überraschen immer wieder mit neuen ästhetischen Ideen, radikalen Bildsetzungen und großer Emotionalität. Dabei spricht das Ensemble das Publikum zu Beginn oft direkt an, holt es hinein in die Auseinandersetzung mit dem Thema. Und dann stößt es sich ab und fliegt, es entsteht Theaterzauber.
Ein Buch über einen Theatermacher, der noch nicht mal 40 ist, scheint auf den ersten Blick recht früh. Doch diesen Rüping-Stil zu ergründen und seine Arbeitsweise zu reflektieren lohnt sich sehr. Denn der Mut, der dahintersteht, auch die enge Zusammenarbeit mit den Schauspielenden, könnte inspirierend wirken. Vasco Boenisch – der neue Hannoveraner Intendant – und Malte Ubenauf arbeiten seit vielen Jahren eng mit Rüping zusammen und haben nun ein Buch in der Reihe „Nahaufnahme“ des Alexander Verlags herausgegeben. Der Untertitel stapelt eher tief: „Gespräche, Begegnungen, Materialien“. Zu Recht, denn es fehlen Analysen, Beschreibungen, Einordnungen.
Das Buch beginnt mit einer Inszenierungsliste, normalerweise etwas, das in den Anhang gehört. Bilder aus diesen Inszenierungen folgen erst viel später. Das macht schon deutlich, dass hier nicht das breitere Publikum gemeint ist, sondern die Rüping-Jünger. Auch in den folgenden Gesprächen wird die Kenntnis der Inszenierungen vorausgesetzt, ebenso das brennende Interesse, alle möglichen Details und Hintergründe erfahren zu wollen. Im Zentrum des Buches steht „Der Zoom“, das Protokoll einer Videokonferenz von 35 künstlerischen Weggefährt:innen, die in Form eines „digitalen Daydrinkings“ ihre Erinnerungen austauschen. Ein Gedanken-Durcheinander.
Hier wird die große Schwäche des Buches deutlich. Niemand will sich zu einer Deutung aufschwingen, es geht um die Vielfalt, das Nebeneinander, die Multiperspektivität. Das Buch ist keine Inszenierung, sondern wirkt wie eine Konzeptbesprechung, eine Materialsammlung zu Probenbeginn, aus der im Theater dann im besten Fall etwas entsteht, das man einem Publikum präsentieren kann. Doch diese Mühe hat sich niemand gemacht.
Wer sich auf den Wulst an Informationen einlässt, findet durchaus interessante Momente. Rüping ist ein sehr reflektierter Regisseur. In einem langen Gespräch mit den Herausgebern geht es z. B. um die Fetischisierung der künstlerischen Handschrift im Theaterbetrieb. „Spätestens“, sagt Rüping, „wenn ich Fragen zu Konzept und Ästhetik letztlich nur mit meinem persönlichen Geschmack beantworten kann, muss ich mir ernsthaft Gedanken machen.“
Ein Höhepunkt ist ein Gespräch mit Andrea Breth, die in vieler Hinsicht einen künstlerischen Gegenpol zu Rüpings Arbeit darstellt. Er hat sich die Begegnung gewünscht, und die beiden stellen überraschende Parallelen fest. Sie denken über ihre jeweiligen Blasen hinaus. „Wenn wir alle das Gleiche machen würden“, sagt Andrea Breth „bräuchte es uns nicht. Man kann auch fragen, wenn man etwas nicht gleich versteht.“
Es wäre sehr lohnend, die Materialsammlung zu konzentrieren und eine Darstellung zu gewinnen, die dem Schaffen von Christopher Rüping gerecht wird. Diese „Nahaufnahme“ jedenfalls kommt über den Status eines Fanboybuchs nicht hinaus.
Nahaufnahme Christopher Rüping. Gespräche, Begegnungen, Material. Herausgegeben von Vasco Boenisch und Malte Ubenauf. Alexander Verlag, Berlin 2024, 284 S., 28 Euro, hier bestellen.