Theater der Zeit

Gespräch

Realität des Absurden

Aleksandar Denić über seine Bühnen für Inszenierungen von Frank Castorf

von Aleksandar Denić und Ute Müller-Tischler

Erschienen in: Arbeitsbuch: Bild der Bühne, Vol. 2 / Setting the Stage, Vol. 2 – 17 Bühnenbildner:innen im Porträt (06/2015)

Assoziationen: Kostüm und Bühne Akteure

REISE ANS ENDE DER NACHT (nach Louis-Ferdinand Céline) Residenztheater München, 2013. Regie Frank Castorf, Kostüme Adriana Braga Peretzki, Live-Kamera Marius Winterstein, Jaromir Zezula. Foto Aleksandar Denić
REISE ANS ENDE DER NACHT (nach Louis-Ferdinand Céline) Residenztheater München, 2013. Regie Frank Castorf, Kostüme Adriana Braga Peretzki, Live-Kamera Marius Winterstein, Jaromir ZezulaFoto: Aleksandar Denić

Anzeige

Anzeige

Aleksandar Denić, Ihr Werkverzeichnis ist umfangreich und ausgesprochen vielseitig. Sie arbeiten für Film und Fernsehen, als Architekt und Bühnenbildner und treten auch als bildender Künstler und Regisseur in Erscheinung. Wenn Sie wählen könnten, wo läge der Mittelpunkt Ihrer Arbeit?

Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung. Das kann ich eigentlich gar nicht sagen. Ich habe überhaupt keinen Fokus und arbeite in verschiedenen Medien immer gleichzeitig und nebeneinander, egal ob das ein Bühnenbild, ein Film oder Eventdesign ist. Mich interessieren die Entgrenzung, das grundsätzliche Cross-over in allen meinen Arbeiten.

Da war ein Zusammentreffen mit Frank Castorf irgendwann nahe­liegend. Sie arbeiten nun schon länger mit ihm zusammen. Haben Sie Erinnerungen daran, wie Sie sich kennengelernt haben?

Wir sind uns vor ein paar Jahren in Belgrad mehr oder weniger zufällig begegnet. Es war mitten in den Verhandlungen über irgendeine Koproduktion des serbischen Nationaltheaters mit der Berliner Volksbühne. Eine Freundin von mir rief nachts an und lud mich auf einen Drink ein. Und nebenbei erwähnte sie, dass Frank Castorf auch dabei wäre. Also dachte ich mir: Wieso eigentlich nicht? Als wir uns dann in der Bar trafen, hat sich herausgestellt, dass wir uns bestens verstanden und viel gemeinsamen Gesprächsstoff hatten.

Castorf liebt den Spaß am Denken und die wilden Perspektiven auf seine Theaterstoffe. Das Publikum überrascht er immer wieder mit schrägen Textkombinationen und Assoziationsketten. Angst vor Konfliktzonen und aufgeladenen Emotionen hat er jedenfalls nicht. Ich kann mir vorstellen, dass das Ihrer serbischen Herkunft entgegenkommt.

Unbedingt. Nie war für mich eine Zusammenarbeit so selbstverständlich. Was Frank Castorf und ich gemeinsam haben, ist der postsozialistische Erfahrungshorizont. Das Leben in den Ländern des so­genannten Ex-Jugoslawiens war mehr oder weniger dasselbe wie damals hier nach der Wende am Rosa-Luxemburg-Platz. Dieser Hintergrund wirkt immer noch sehr stark auf uns. Ich glaube, das kann man auch nicht übersehen. Eigentlich gibt es keine großen Unterschiede zwischen uns außer den paar Hundert Kilometern Abstand. Die Widersprüche und absurde Paranoia, um die es Frank Castorf immer wieder geht, sind in den Teilen Europas, aus denen wir beide stammen, absolut alltäglich und eben überhaupt nicht erfunden. In gewisser Weise leben wir beide schon seit Jahrzehnten in einer Realität des Absurden. Als Bühnenbauer und Künstler hat meine Herkunft wahrscheinlich unterbewusst einen Einfluss, aber andererseits gab es nie geografische Grenzziehungen für mich, ob ich nun in Afrika, in Asien oder auch bei uns in Europa gearbeitet habe. In einer bestimmten Hinsicht versuche ich wie ein Wissenschaftler vorzugehen – ich will entdecken und definieren. Deshalb hatte ich auch nie ein Problem mit dem Kontrast. Und außerdem: Schwarz und Weiß, Tag und Nacht, der Unterschied ist für mich immer attraktiver als das Gleichförmige, das verbindet mich auch mit Castorf. Schwere Aufgaben fordern mich eher heraus und geben mir immer ein Gefühl von Stärke und Macht. Wahrscheinlich bin ich schon durch meine Herkunft an das Turbulente und Krasse gewöhnt. Klar, dass ich das auch in meine Arbeiten einfließen lasse.

„Das Duell“ an der Berliner Volksbühne spielt an der Küste des Schwarzen Meeres in einem kaukasischen Dorf mit Zwiebeltürmchen und allerlei Kleinkram vom Balkan. Umgeben war es von haufenweise schwarzer Steinkohle, der modernen Energiequelle vor dem Erdöl, das in Bayreuth später der Leitfaden beim „Ring“ war. Für „Reise ans Ende der Nacht“ haben Sie die Bühnen vollgestellt mit Bretterbuden und Gerümpel, das von allen Müllhalden dieser Welt stammen könnte. Drüber stand „Liberté, Égalité, Fraternité“ in der Typografie des Nazi-Spruchs „Arbeit macht frei“, der über dem Eingangstor von Auschwitz angebracht war. Einen Schriftzug gab es beim „Duell“ auch zu lesen. Soll man sich da einen Zusammenhang denken?

Ja, darauf lege ich auch immer großen Wert. Ich hinterlasse Geschichten an allen Orten. Ebenso wie Frank Castorf, der immer alles im Zusammenhang sieht. Als ich noch beim Film gearbeitet habe, wollte ich in jedem kleinsten ­Frame die Geschichte der vorangegangenen Momente sichtbar werden lassen. Auf diese Weise erzeugt man eine Kontinuität, die es dem Zuschauer ermöglicht, meine Arbeiten besser nachzuvollziehen und zu verstehen. Ich denke, dass mein gesamtes künstlerisches Werk dieser Nähe mit dem Publikum zu folgen versucht.

Kann man dieses Vorgehen von Ihnen mit dem etwas aus der Mode gekommenen Begriff des Realismus in Verbindung bringen?

Mag sein, aber auf den zweiten Blick verbinden meine Arbeiten etwas Unvereinbares. Die Strukturen, die ich vorfinde, kann ich nur in einer Art hyperrealistischem Stil wiedergeben. Andererseits, wenn der Zuschauer mir erst einmal in diese hyperrealistische Welt gefolgt ist, muss er feststellen, dass dies irreale, unmögliche Orte sind. Das ist meine stilistische Zielsetzung der letzten Jahre. So war das auch bei „Reise ans Ende der Nacht“ oder in Bayreuth, wo wir den Alexanderplatz mit der Wall Street als Spielorte verbunden haben, weil auf bestimmte Weise beide Welten einander sehr ähnlich sind. Mich interessieren unmögliche Strukturen in einem Gewand des Realismus.

Man kann das auch andersherum lesen, gerade wenn man an „Baal“, eine Ihrer jüngsten gemeinsamen Produktionen mit Castorf, denkt. Je irrer der Bühnenvorgang, je monströser die Figuren, umso wirklicher werden sie irgendwie. Ist das nicht auch eine Form von Realismus?

Wir denken dauernd über die Dimensionen von Realität nach. Als wir das erste Mal über „Baal“ sprachen, waren wir mit „Reise ans Ende der Nacht“ beim Theatertreffen. In diesem Augenblick bekam ich eine Vorstellung davon, wie wir den „Baal“ inszenieren wollten, in welche Richtung unsere Reise als Nächstes gehen könnte. Dass wir Coppolas Kriegsdrama „Apocalypse Now“ zu unserem Ausgangspunkt machten, lag sofort auf der Hand. Uns faszinierte die Idee, dass sich im Krieg jedermann in „Baal“ verwandeln kann. Aber ich fand auch, dass man „Baal“ als Rebellen deuten kann, als Tabubrecher aller bürgerlichen Werte. Er hatte also auch eine revolutionäre Seite. Während des Vietnamkrieges waren die echten Kriegsgegner Rebellen, so was wie Rocker, die ihre Gesellschaft ernsthaft umkrempeln wollten. Nur waren damals die Animositäten zwischen Popkultur und politischem Establishment noch extrem. Das hat sich heute verändert. Mittlerweile kommt es einem doch wie eine Camouflage vor, wenn sich Rockmusiker auf die Bühnen stellen und Protestlieder singen. Schon deshalb wollten wir noch einmal nach Vietnam schauen, in die Zeit, in der all diese Songs entstanden. Außerdem war „Baal“ für uns auch eine Art Fortführung von „Reise ans Ende der Nacht“. Wir sind vom Kongo aus Afrika heraus nach Saigon und in den vietnamesischen Dschungel gegangen, weil wir das ­Gefühl hatten, noch keinen Schlussstrich gezogen zu haben.

Aber Sie haben die geografischen und ethnologischen Bezüge verdichtet zu, wie Sie sagen, einem allegorischen Environment von Einzelteilen. Gehört dazu, dass Sie die Erinnerungen einer ganzen Generation im Bühnenbild unterbringen?

Wie gesagt, ich versuche immer das Publikum an die Angel zu kriegen. Da passiert es manchmal, dass sich unsere Generation in der Geschichte wiederfindet. Aber mir geht es mehr um allgemeingültige Anhaltspunkte. Bei „Reise ans Ende der Nacht“ hat mich ein junger Mann angesprochen und gefragt: „Oh, ich mag dieses Muhammad-Ali-Poster, aber wer ist nur dieser andere Typ?“ Ich war verblüfft, aber okay, das scheint wichtig zu sein. Denn Muhammad Ali war ja Cassius Clay. Er hat seinen Namen aus dem Grund geändert, weil er gegen den Vietnamkrieg war. Der berühmte Boxkampf fand in Afrika statt und war dann das wichtigste kulturelle und soziale Ereignis für alle Afroamerikaner in dieser Zeit. So kam eine Geschichte zur anderen, die ich mit den Dingen erzähle. Das Gleiche mache ich in „Baal“, indem ich wahnsinnig viele Details benutze. In den Zelten hängen zum Beispiel Poster, die vietnamesische Künstler gemalt haben und die zur vietnamesischen Propaganda gehörten. Und im Wassertank habe ich Comics angebracht, die wiederum von den Amerikanern als Kriegspropa­ganda verwendet wurden. Deshalb war es von Vorteil, dass wir immer die Kamera dabeihatten und die Zuschauer das sehen konnten.
Es ist großartig, bei Frank Castorf als Filmset- und Bühnendesigner zu arbeiten. Auf diese Weise kann ich beides gut miteinander verbinden. Und wenn mich immer alle fragen: Wieso rückst du die Details so sehr in den Vordergrund?, sage ich: Weil die Kamera gefährlich werden kann. Denn wenn das Detail nicht stimmt, sieht man das in der Vergrößerung auf der Leinwand. Jedes Einzelteil bekommt dort eine neue Dimension und Bedeutung für die Insze­nier­ung. Durch die Kamera erweitere ich mein szenisches Vokabular, und es gefällt mir, mit der Zeitgeschichte zu spielen.

Urheberrechtlich aber ging die „Baal“-Inszenierung in die Hose. Sie wurde vom Suhrkamp Verlag im Auftrag der Brecht-Erben nach der Premiere in München verboten. Es war klar, dass das in der Theaterwelt einen Sturm auslösen würde, weil ­diese Entscheidung mitten ins Herz der künstlerischen Freiheit stieß. Wie geht es Ihnen damit?

Es ist eine Schande. Ich finde das sehr schade, besonders für die Schauspieler. Aber ich kann Ihnen sagen, dass es in dieser Spielzeit bereits meine zweite Produktion ist, die verboten wurde. Zuerst „Baal“ und vor einiger Zeit, bei einem Sommerfestival in Dubrovnik, Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“, das ich mit dem Regisseur Ivica Buljan insze­nieren wollte. Von der kroatischen Regierung kam der Beschluss, dass dieses Stück Probleme machen könnte, weil es Muslime gibt, die in diesem Teil von Kroatien leben. Das war verwirrend, weil ich immer dachte, dass dieses Stück von Liebe handelt. Aber es ist offensichtlich, dass es keine Rolle spielt, welche Gründe die Zensur hat und ob du in Kroatien oder England oder sonst wo bist. Irgendwie hat diese Politik der Angst inzwischen die Oberhand gewonnen. Man muss sich das mal vorstellen – wir leben in einer Demokratie!

Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, was mit dem „Baal“- Bühnenbild geschehen wird?

Ich weiß es noch nicht. Ich habe mit dem Resi­denz­theater gesprochen, ob sie die Bühne noch ein paar Monate länger aufbewahren können, und sie haben zugestimmt. Wir bereiten fürs Resi gerade „Der brave Soldat Schwejk“ vor. Vielleicht flechten wir da eine Art Kommentar zu „Baal“ ein. Gut vorstellen kann ich es mir.

Wer weiß, vielleicht ­interessiert sich auch bald das Haus der Kunst in München für das Bühnenbild … //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"