Auftritt
Kunstfest Weimar: Geschichten vom Faschismus-Schock
„Das Land, das ich liebe“ nach Jelena Kostjutschenko – Konzept Anna Narinskaya, Regie Polina Solotowizki, Dramaturgie Polina Borodina, Bühne Vanya Bowden, Kostüme Ksenia Sorokina, Choreografie Tanya 4, Sound Design Alina Petrova und Alina Anufrienko, Video Misha Zaikanov
von Michael Helbing
Assoziationen: Theaterkritiken Thüringen Dossier: Festivals Kunstfest Weimar

Mit Liebe zum eigenen Land tun wir Deutschen uns alles in allem sehr schwer. Aus Gründen, die historischer Natur sein mögen, aber inzwischen auch etwas vorgeschoben wirken können. Den Ton dafür setzte, zumindest im Westen, schon vor mehr als einem halben Jahrhundert ein schließlich erfolgreicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten: „Ach was“, wurde Gustav Heinemann seitdem unendlich oft zitiert, „ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!“
Dabei gäbe es Gründe genug, sowas wie Liebe zu diesem Deutschland im Hier und Jetzt zu empfinden, trotz allem. Die treten deutlich im Kontrast hervor, den ein Buch liefert, das beschreibt, „wie es wirklich ist, in Russland zu leben“. Darin tauchen wenig Gründe für dergleichen auf. Und doch nannte es dessen Autorin, Jelena Kostjutschenko, „Das Land, das ich liebe“ („Моя любимая страна“).
Es gibt Leute, die ihr diese Liebe absprechen würden. „Ihr seid Vaterlandsverräter“, skandierten solche vor der Redaktion der 2022 eingestellten Nowaja Gaseta in Moskau, für die Kostjutschenko siebzehn Jahre lang als Reporterin arbeitete. Sie aber begreift ihre Kritik an den Zuständen im Land offenkundig als Ausdruck ihrer Liebe: genau hinschauen und zuhören, ohne rosarote Brille.
Was sich da zwischen den Buchdeckeln auftut, in 13 Reportagen aus jenen Jahren und autobiografischen Notizen, die dann in der Wahlheimat Berlin dazukamen, beglaubigt im Grunde einen Satz, den die Kulturwissenschaftlerin und Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa jetzt in einer Rede als Schirmherrin des Kunstfestes Weimar über Putins Russland sagte, im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg: „Wir finden uns merkwürdigerweise in einer fast Orwell’schen Welt wieder“.
Zweieinhalb Stunden nach dieser Rede gelangte „Das Land, das ich liebe“ in einer alten Weimarer Industriehalle am Stadtrand zur Uraufführung, als „Theaterinstallation“ in der Regie von Polina Solotowizki (Moskau/Heidelberg), die Ende Oktober beim Berliner „Voices Performing Arts Festival“ in der Alten Münze zu sehen sein wird. Darin haben sie die aufgelöste Nowaja Gaseta-Redaktion gleichsam wieder eingerichtet: insgesamt fünf Schreibtische links und rechts, mit jeweils zwei Leuten in Arbeitsanzügen dahinter, vor Laptops, Mikrofonen, Kameras, Zeitungspapier sitzend. In des Raumes Mitte eine Kabine, die konkret „ein kleiner Glascontainer für die Raucher“ sein soll, in der Abstraktion aber auch zum universellen klaustrophobischen Rückzugsort taugt, der, in choreografische Bilder übersetzt, für die ausweglos scheinende Enge stehen mag, die sich in russischen Weiten wohl überall empfinden lässt.
Dies ist das Setting für einen permanenten Perspektivwechsel zwischen Außen- und Innenwelten. „Draußen keimte der Faschismus“, heißt es einmal. „Wir beschrieben ihn, so gut es ging.“ Jelena Kostjutschenko, aufgewachsen mit Patriotismus stiftenden Heldenerzählungen über die ruhmreiche Sowjetarmee, die im Großen Vaterländischen Krieg den deutschen Faschismus zerschlug, muss spätestens nach den ersten russischen Bomben auf Kyjiw schockartig erkennen, dass inzwischen „wir die Faschisten sind. Ich war kein bisschen darauf vorbereitet.“
Nicht nur in dieser Hinsicht spielt hier eine Produktion auf Russisch und Deutsch mit gleichsam dialektisch wechselnden Rollen. Im Zentrum aber, eigensinnig, eigenwillig: Evgenia Borzykh, Schauspielerin sowie Sängerin der Indie-Rock-Band „SBPCh“ aus St. Petersburg, als zierliche und zerbrechliche, mitunter manisch-depressiv wirkende, vor allem beängstigend durchlässig gespielte Reporterin, die jenseits der Hauptstadt, an geografischen und sozialen Rändern, Land und Leute erkundet („Moskau ist nicht Russland“). Sie trifft auf Gewalt und Gleichgültigkeit, harte Arbeit und viel Armut, auf Korruption, Schweigen und Vertuschen, auf Alkoholismus und hohe Selbstmordraten, sie trifft als Journalistin wie auch als LGBTQ-Aktivistin auf Machismo und Homophobie.
Und dann sind da noch die meist aus der Ferne, am Telefon geführten Kämpfe mit der Mutter in Jaroslawl, die der Sowjetunion hinterher trauert, von ihrer Tochter Respekt vor Putin verlangt und ganz in dessen propagandistischem Sinne die Ukraine von Nazis regiert glaubt. Chulpan Khamatova spielt sie, auf der Couch und in der Küche, todtraurig und resignierend in großformatig projizierten Videosequenzen, in denen sie notwendigerweise auf ihre dafür zum kleinen Mädchen schrumpfende Tochter herabschauen muss. Khamatova, ein russischer Star, war 2003 in Wolfgang Beckers Film „Good Bye, Lenin!“ die sowjetische Krankenschwester Lara in Berlin. 2012 unterstütze sie Putin im Wahlkampf, bevor sie ihn zehn Jahre später des Ukraine-Krieges wegen verurteilte. Sie lebt in Riga.
Drei junge deutsche Schauspieler, Leon Wieferich, Antonia Leichtle und Johanna Dähler, bevölkern diverse Reportageskizzen über Straßenprostituierte und deren Freier, über Menschen in abgehängten Gegenden, an den Gleisen des Hochgeschwindigkeitszuges Sapsan, über entrechtete Insassen und herrisches Personal in einem der psychoneurologischen Internate (PNI) für Behinderte.
Sie sind aber auch Behördenmitarbeiter, die Beweisfotos durch den Reißwolf jagen und Redakteure, die die Schnipsel wieder zusammensetzen. Und so funktioniert im Grunde auch dieser 105-minütige Abend, der hier und dort bisweilen etwas ausfranst, sich dann aber doch mit multimedialen Mitteln und einem elektronischen Sound zu Geige und Cello zunehmend verdichtet: Aus vielen Einzelteilen und entsteht ein unvollständiges, lückenhaftes von einem Land ohne große Hoffnung auf Zukunft.
So hat es allerdings an den deutschen Abgründen auch schonmal ausgesehen. Und dass dort draußen der Faschismus gar nicht mehr keimen würde, lässt sich übrigens auch nicht sagen.
Erschienen am 27.8.2025