Theater der Zeit

Report

Neue Beziehungsweisen des Kollektiven

Wie das Festival IMPLANTIEREN in Hessen neue Formen des Zusammenkommens findet

von Theresa Schütz

Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)

Assoziationen: Performance Freie Szene Hessen

„Praktiken“ statt Inszenierungen beim IMPLANTIEREN Festival in Frankfurt, Wiesbaden und Offenbach
„Praktiken“ statt Inszenierungen beim IMPLANTIEREN Festival in Frankfurt, Wiesbaden und OffenbachFoto: Lara-Marie Weine

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Was bedeutet Co-Habitation, wie geht der Tanz „5-5-5-5-5“, warum sind die Gebäude auf dem Universitätscampus Frankfurt-Bockenheim alle leer und welcher Bewegungsablauf verbindet die Körper der chilenischen Protestierenden beim Skandieren ihres Songs „El violador eres tú“? Antworten auf diese Fragen lassen sich bei einem Besuch des diesjährigen Festivals IMPLANTIEREN in Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden auftun.

Das biennal stattfindende Festival, das 2013 vom Verein ID Frankfurt mit einem Fokus auf ortsspezifische Kunst und Performances im öffentlichen Raum initiiert wurde, wagt 2022/23 unter der vierköpfigen künstlerischen Teamleitung von Tilman Aumüller, Chiara Marcassa, Svenja Polonji und Nora Schneider einen radikalen Bruch mit den Produktions- und Präsentationsweisen von Theaterfestivals. Unter dem von Bini Adamczak entlehnten Motto „Beziehungsweisen“ gibt es keinerlei Inszenierungen oder Performances zu sehen, dafür aber die Möglichkeit, für die Dauer von fast sechs Monaten an wiederkehrend angebotenen „Praktiken“ teilzunehmen. Die insgesamt zehn Praktiken, von denen die meisten aus einem Open Call hervorgingen, reichen von Workshops zu Klangkomposition oder Körperarbeit über einen Spieleclub oder ein Gruppentanzformat bis zu thematischen Zusammenkünften und Angeboten zum Thema Protest oder Namensfindung bei trans*-Personen.

Ein Grund für diese hierzulande (noch) einzigartige ­kuratorische Setzung ist Schneider und Polonji zufolge ein rassistischer Übergriff, der sich in der Festivalausgabe 2020 ereignete und aufzeigte, dass der öffentliche Raum nicht für alle Menschen ein sicherer Raum zur Produktion und Rezeption von Kunst ist. Weitere Gründe sind das Infragestellen der Zeitlichkeit von Festivals, die mit ihrer eng getakteten Programmdichte nicht nur kurzfristig, sondern in der Regel auch immens erschöpfend sind. Sowie die Sehnsucht nach einer nachhaltigeren Verknüpfung von künstlerischen und alltagsbezogenen Tätigkeiten, die das Leitungsteam mit den zahlreichen sie unterstützenden Kompliz:innen aus der Freien Szene verbindet.

Die angebotenen Praktiken adressieren sehr unterschiedliche Teilöffentlichkeiten der Stadtgesellschaft – vor allem auch Menschen jenseits der Kunst-Bubble –, damit im Idealfall über das wiederkehrende Beisammensein neue Communities entstehen; Communities, die zukünftig auch ohne die Festivalrahmung gemeinsam in Aktion treten könnten. IMPLANTIEREN lädt dort, wo öffentliche Räume – wie der leergezogene Campus Bockenheim – nicht mehr belebt sind, ein, verschiedene Formen des barrierearmen, kollektiven Miteinanders auszuprobieren. Auch um dabei die eigene (Nicht-)Zugehörigkeit zu erspüren und entsprechend auszuhandeln: sei es beim angeleiteten Streunen als mobile Wohngruppe in „Pendeln“, als potenzielle Bezugsgruppe für eine anstehende Klimademonstration oder Teil einer körperpraktischen Übung zu Schwarmbewegungen in „The Art of Protest“, sei es im Moment des gemeinsamen Erlernens einer Kreistanz-Choreografie bei „Local Dancing“.

Entzieht sich IMPLANTIEREN mit seinem Programm damit gewissermaßen auch etablierten Formen der Theater- bzw. Kunstkritik? Dass man seit September vergeblich im Feuilleton nach Festivalberichten sucht, weist sicher auch auf eine Unbeholfenheit im schreibenden Umgang mit soziokünstlerischen Interventionen wie den angebotenen hin. Nicht nur, dass Theaterkritiker:innen gegebenenfalls nicht diejenige intrinsische Motivation für die jeweilige Sache mitbringen, von denen die Praktiken leben; auch die eigene Positionalität wird hier erfahrbar – und das ist sicher nicht für jede:n was. Ich empfand die Anregung, auf Basis meiner auch ambivalenten Besuchserfahrung grundsätzlicher über die Beziehungsweise Kritik nachzudenken, sehr bereichernd. Wer sich dafür ebenfalls interessiert: Bis Ende Februar gibt es noch die Gelegenheit!

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