Theater der Zeit

Thema: Festivals

Der dritte Raum

von Dorte Lena Eilers und Sodja Zupanc Lotker

Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)

Assoziationen: Europa Akteure

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Sodja Lotker, künstlerische Leiterin der Prag Quadriennale, über Bühnenbilder, die in Zeiten der Abschottung gemeinsame Orte schaffen, im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

Sodja Lotker, Franz Kafka, der berühmte Sohn Prags, beschrieb in seiner unvollendeten Kurzgeschichte „Der Bau“ eine ganz besondere Art von Architektur: Ein Dachs arbeitet paranoid daran, seine Höhle von der Außenwelt abzuschotten, da er glaubt, dass bald Feinde eindringen werden. Das Motto der Prag Quadriennale (PQ) 2015 besagt das genaue Gegenteil: „Shared Spaces“. Bühnenarchitektur als Kunst, Orte zu entwerfen, an denen Menschen Räume teilen können. Das ist angesichts der derzeitigen Flüchtlingsdiskussion natürlich ein hochaktuelles politisches Statement.

Ja, ganz genau. Unsere Welten schotten sich immer mehr ab. Schauen Sie auf die Neunziger, da war die Situation noch völlig anders, da gab es Freiheit, Erregung, nicht nur Geld, sondern auch die Lust am Experimentieren, am Austausch … Die Welt, in der wir heute leben, ist da extrem anders. All die bürokratischen Einschränkungen im Namen der Sicherheit. Die Leute werden nicht nur individuell eingeschränkt, sie werden „gegeneinander“ eingeschränkt, getrennt durch künstlich induzierte Angst. Das ist wirklich sehr unheimlich.

Auf der PQ kamen Künstler aus aller Welt zusammen. Ist diese Abschottung ein Thema, das verbindet?

Ja. Die PQ ist ein internationales Event und diese Offenheit, die das Motto bietet, ist für uns die einzige Möglichkeit, eine Quadriennale dieser Größe zu organisieren. Ich weiß nicht, wie und was die Kollegen aus China denken. Ich weiß nicht, wie und was die Taiwanesen denken. Man kann eine solche Veranstaltung nicht komplett durchkuratieren. Man muss die Kontrolle ein Stück weit abgeben und schauen, was die anderen sagen. Also wortwörtlich: geteilte Räume schaffen. Viele Beiträge haben sich exakt mit diesem Thema auseinandergesetzt: die Beziehung von Leuten im Raum. Das war schön zu sehen, weil es für mich einer der politischsten Aspekte des Theaters ist.

Während der PQ hörte ich in den Nachrichten den US-Verteidigungsminister sagen: Wir werden nicht zulassen, dass Putin uns in einen neuen Kalten Krieg führt. Aber wenn nötig, werden wir unsere Verbündeten verteidigen. – Also schickten sie schwere Waffen nach Polen. Ich hatte das Gefühl, dass diese ganze Kreativität um mich herum und der Druck aufgrund der politischen Weltlage sehr stark interagieren.

Als künstlerische Leiterin waren Sie während der PQ Chefin von über 500 Veranstaltungen an 25 Orten, über tausend Künstler aus mehr als 85 Ländern nahmen teil. Es gibt viele Bezeichnungen dafür: Festival, Kunstmesse, Performance Space, internationale Konferenz … Mit welchen Worten würden Sie beschreiben, was sich zwischen dem 18. und dem 28. Juni in Prag abgespielt hat?

Nun, es ist ein Event. Ursprünglich war es schlicht eine Ausstellung. Aber wir haben über die Jahre festgestellt, dass wir uns nicht mit Bühnenbild beschäftigen können ohne Live-Veranstaltungen. Andererseits wollten wir nicht, dass es zu einem weiteren Festival wird. Wir sind eine Quadriennale, weder eine Ausstellung noch ein Festival. „Live Exhibition“ kommt dem am nächsten.

Wir wollen Szenografie nicht als Produkt präsentieren. Szenografie ist lebendig, nie abgeschlossen, wie Theater generell. Daher versuchen wir, diese Lebendigkeit zu zeigen, den Prozess, die Herstellung, sowie zu lehren wie man Szenografie rezipiert …

Weil die PQ so groß ist, stellen wir dafür einfach ein paar Regeln auf, so dass viele verschiedene Leute damit etwas anfangen können. Wir sagen: Lass uns Szenografie als Basis erkunden, lass uns die Geschichte hinter Objekten erkunden, hinter Requisiten. Es ist also auf viele verschiedene Arten ein kultiviertes Chaos. Es hat bestimmte Bereiche, die definiert sind, und viel Freiraum drum herum.

Die PQ wurde in den sechziger Jahren gegründet. Die São Paolo Biennale suchte nach einem Partner in Europa, und da die tschechischen Bühnenbildner damals sehr erfolgreich waren, kamen sie auf Prag. So war die PQ bis 1989 auch immer ein Treffen von Künstlern aus Ost und West. Zudem war es immer eine Fachmesse. Was ist die Idee der PQ heute?

Nun, das Konzept hat sich stark geändert. Für viele Künstler/-innen aus dem Osten war es wirklich inspirierend, die Freiheit zu sehen, die aus dem Westen kam. In den Neunzigern gab es dann eine kurze Identitätskrise, weil dieses Gefühl plötzlich obsolet war. Ende der Neunziger kam zudem das Internet auf, so dass man sich die Arbeiten anderer relativ leicht anschauen konnte. Demnach verlor die PQ für viele auch dieses Gefühl zu wissen, ich fahre dort hin, um zu schauen, was in der Welt so passiert.

Also versuchen wir seit den Nullerjahren, intensivere Kontakte zwischen den Leuten herzustellen. Es geht nicht mehr nur darum, die Arbeit zu präsentieren. Es geht um Diskussionen, Workshops. Zudem wollen wir natürlich zeigen, wie sehr sich Theater in den vergangenen zwanzig Jahren gewandelt hat. Es findet eben nicht nur auf der Bühne statt. Wird nicht nur von Regisseuren gemacht. Das Bühnenbild ist nicht nur ein Dienst am Stück. Bühnenbild selbst ist zu einer unabhängigen Disziplin geworden. Es gibt szenische Installationen, die für sich bereits Theater sind. Wo die Zuschauer zu Performern werden. Wir pflegen einen expandierenden Begriff von Szenografie. Außerdem versuchen wir, diese Disziplin konstant mit anderen zu verknüpfen, nicht nur mit theatralen, auch mit Sozialwissenschaft, Architektur, bildender Kunst und so weiter, da wir sehen, dass Bühnenbildner heutzutage in extrem vielen Bereichen tätig sind. Sie entwickeln das Bühnenbild für eine Fashion Show, machen danach einen Film und arbeiten anschließend als VJ. Wir wollen all dies abbilden. Es geht darum, den Bühnenbildner von Regisseur und Text zu emanzipieren.

Parallel dazu versuchen wir, die PQ für ein Nicht-Experten-Publikum zu öffnen. Für „normale“ Zuschauer, denn Theater ohne Zuschauer macht keinen Sinn. Und letztlich arbeiten wir konstant an der kuratorischen Praxis in diesem Bereich. Bis Ende der Neunziger gab es keinen Kurator, der sich Gedanken darüber machte, wie man Bühnenbilder ausstellt. Es gab natürlich Kuratoren, die Szenografie nutzten, um bildende Kunst oder Wissenschaft auszustellen. Aber es gab keine Experten für das Ausstellen von Bühnenbildern an sich. Also veranstalten wir auch Symposien und Workshops zu diesem Thema.

Eine wesentliche Neuerung in diesem Jahr war, dass die PQ nicht mehr, wie 2011, an einem Ort, damals der Nationalgalerie, stattfand, sondern in der ganzen Stadt, in alten Palästen und Parkhäusern, auf Schiffen oder der Straße. Ging es dabei auch um einen Aufruf an die Künstler: Geht raus und schaut, was in der Welt so vor sich geht?

Ursprünglich hatten wir tatsächlich gehofft, wieder in der Nationalgalerie sein zu können. Aber es gab dort schon eine große Ausstellung zu dieser Zeit. So gesehen war es eher ein Zufall. Aber Zufälle sind ja sehr wichtig im Theater, es sind häufig die kreativsten Momente. Wir realisierten, nach einer kurzen Panikattacke, dass es eigentlich die perfekte Situation war für unsere Idee der Shared Spaces. Nicht nur, weil wir so in Prag sehr präsent sein konnten. Nicht nur, weil wir uns so mit den Leuten und dem Alltag verbinden konnten, sondern auch aus kuratorischer Sicht. Als Zuschauer konnte man sich ein paar Ausstellungsräume anschauen und dann weiterflanieren zum nächsten Ausstellungsort. Es war nicht dieser große Berg an Arbeiten an einem Ort, den man mit einem Biss verdauen musste. Die Fragmentierung hat den Zuschauern glaube ich wirklich geholfen, sich zu fokussieren.

Ja, es war quasi ein zum Parcours gewordener Diskurs zwischen theatraler Fiktion und alltäglicher Realität.

Genau. Wie ich finde, das Thema momentan im Theater! Weil wir die Idee hinter uns gelassen haben, dass Authentizität existiert, während wir gleichzeitig noch an der Last tragen, vom Realen besessen zu sein. Und real meint: Wahrheit. Aber: Wessen Wahrheit? Es gibt eine Vielzahl an Wahrheiten. Daher denke ich, dass Theater heute viel mehr als Treffpunkt zwischen Realität und Fiktion interessant ist. Auch im politischen Sinne. Durch Imagination kann man Veränderung imaginieren. An der Realität festzukleben, ist sehr unpolitisch, ist sehr passiv. Imagination und Fiktion sind für mich die größten politischen Kräfte momentan.

Theater also in seiner ursprünglichen Idee, über Fiktion und Imagination das Denken in Bewegung zu bringen?

Nein, es ist der Mix von Realität und Fiktion. Man nimmt die Realität und sagt: Aha, in dieser Realität könnte dieses und jenes möglich sein. Ich denke da an Henri Lefebvres bzw. Edward Sojas Idee des „Thirdspace“, die ebenfalls mit postkolonialen Theorien in Verbindung steht. Der „Thirdspace“ ist der Ort, an dem sich Imagination und Realität treffen. Das ist wichtig: Es ist die Verbindung, die Reibung, der Konflikt, der Dialog zwischen Realität und Fiktion, der wirklich Dinge bewegen kann.

Was war in diesem Sinne für Sie der spannungsgeladenste Shared Space auf der PQ?

Ich hatte viele Favoriten. Einer von ihnen war die niederländische Ausstellung: eine Art ausgestelltes Forschungsprojekt zum Thema Realität und Fiktion. Aber mir gefiel ebenso der spanische Beitrag, das Grab, in das man sich legen konnte und sterben. Es hatte etwas Selbstermächtigendes, dass jemand dir die Möglichkeit gibt, zu sterben. Spanien ist durch so viele Probleme gegangen und musste realisieren, dass nichts mehr funktioniert. Das Land muss komplett neue Wege finden. Interessant war zudem, dass die meisten Ausstellungen einem eigenen System des Denkens folgten. Das ist sehr wichtig in einer Welt, in der europäische Politiker einem weismachen wollen, dass das, was sie sagen, Fakt ist. Jeder wedelt mit seinen Realitäten und gibt vor, dass da keine Ideologie dahintersteckt, aber natürlich ist das eine sehr präzise Ideologie.

In Deutschland ist Angela Merkels Spruch von der Alternativlosigkeit bestimmter Entscheidungen zum Unwort 2010 gewählt worden.

Ja, das ist wirklich beängstigend. Was momentan mit Griechenland passiert, ist genau das. Es heißt nicht: Ok, Leute, wir haben verschiedene Ideologien, also lasst uns drüber sprechen. Einer unserer Politiker sagte: Zahlen lügen nicht. – Was heißt das? Wessen Zahlen?

Ja, die EU entfernt sich momentan stark von der Idee eines Shared Space. Nichtsdestotrotz hatte ich auch während der PQ ein zwiespältiges Gefühl. Die Leute waren, egal von wo, sehr entspannt, es gab Panels und Partys. Gleichzeitig besagen Umfragen, dass zwei Drittel der Tschechen nein zu mehr Flüchtlingen sagen. Gab es Projekte, die zeigten, dass der Begriff Shared Space nicht nur eine hohle Phrase ist?

Die italienische Ausstellung hat sich damit auseinandergesetzt. Sie haben einen Raum gebaut, in dem man das Gefühl hatte, unter der Meeresoberfläche zu sein – unter einem Flüchtlingsboot. Aber ich hatte dieses paradoxe Gefühl auch. Wobei diese Fröhlichkeit natürlich auch daher kam, dass sich hier viele Leute aus verschiedenen Ländern trafen, die feststellten: Ah, ihr habt die gleichen Probleme. Das produziert diese Fröhlichkeit: zu wissen, dass man nicht allein ist. Und natürlich wurde immer wieder untereinander über Griechenland usw. gesprochen.

Ich erinnere mich an die Ausstellung aus Dänemark, die über eine Art Rollenspiel Zuschauer dazu eingeladen hat, sich eine andere, eben nicht dänische Identität zu geben …

Ja, aber wenn du dein Gesicht für einen Tag schwarz anmalst, wirst du nie wissen, wie es ist, schwarz zu sein.

Ja, es ist viel zu einfach gedacht.

Aber es geht auch gar nicht um das Gesicht, die Hautfarbe. Ich bin Serbin, ich bin in den Neunzigern durch die Hölle gegangen. Mein Mann ist jüdisch, mein Kind halb Roma, niemand wird je wie mein jüdischer Mann fühlen, nur indem er sein Gesicht ändert. Nie! Es geht nicht darum, wie dich die Leute auf der Straße ansehen. Es geht darum, wie du dich selbst betrachtest, wie du dich selbst zensierst. Aber nichtsdestotrotz: Irgendwie hat es die Ausstellung dennoch geschafft, Leute zum Denken zu bringen.

Ein anderes Paradox für mich war das Festivallogo: ein blauer Stuhl, der an allen Ausstellungsorten zu finden war. Auf der einen Seite sagt er: Komm rein und nimm Platz. Auf der anderen war es meist nur ein Stuhl. Sie kennen bestimmt das Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“, wo pro Runde immer derjenige rausfliegt, der nicht schnell genug einen Stuhl gefunden hat. Das ist auch so ein Bild für die momentane politische Situation. Es geht um Schnelligkeit, darum, sich durchzuboxen – und um zu wenig Platz, Geld etc. Glauben Sie noch an Theater als eine Gegenbewegung?

Als ich das Motto „Shared Spaces“ vorstellte, entstanden gerade überall diese Occupy-Bewegungen. Viele von ihnen nutzten Masken, Performance und Performativität. Generell nutzen viele anarchistische Bewegungen Performativität. Ich denke, Theatralität und Performativität sind definitiv starke Kräfte, aber die Leute müssen neu lernen, sie richtig einzusetzen.

Theater kann natürlich keine Kriege stoppen. Es kann Griechenland nicht helfen. Es ist nicht dazu da, bei kurzfristigen politischen Problemen einzuspringen. Es geht mehr um langfristige soziale Bildung und darum, die Leute im Denken als Menschen zu schulen.

Was war für Sie die größte Überraschung während der PQ im Sinne eines völlig neuen Zugangs zu Szenografie?

Meine liebsten Momente bei der PQ waren, wenn etwas, von dem ich dachte, dass es ein eher schwacher Beitrag werden wird, plötzlich zu meinem Lieblingsbeitrag wurde, wo ich also anfing, etwas komplett anders zu verstehen. Ein sehr persönlicher Moment und überhaupt nicht repräsentativ für die Entwicklung des Bühnenbildes war die bulgarische Ausstellung. Sie haben ein Karussell nachgebaut, so groß, wie auf dem Jahrmarkt. Die Einladung an den Zuschauer war: Betrete das Karussell, drehe ein paar Runden und vergiss all deine Probleme. Ich verstehe, dass es für Leute aus Bulgarien wichtig sein könnte zu vergessen. Aber ich dachte, nein, ich bin doch so politisch, ich will nichts vergessen, ich will mich damit auseinandersetzen! Und dann, eines Abends, nachdem die Ausstellung schon geschlossen war, dachte ich: Warum nicht, setz ich mich mal aufs Karussell. Und wortwörtlich, nach einer Runde, hatte ich alles vergessen. Es funktionierte. Es war ein faszinierender Moment, allein dadurch, dass mein Körper auf diesem Karussell bewegt wurde. Vielleicht hilft ja dieses kurze Vergessen, wieder neue Energien zu finden. Einen Neustart zu machen. Also: Thanks to Bulgaria!

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