Theater der Zeit

Theaterpraxis zwischen Tradition und Zeitgenossenschaft

Oralität in Togo

Erzählkunst und mündliches Kulturerbe

von Allassane Sidibé

Erschienen in: Recherchen 157: Theater in Afrika II - Theaterpraktiken in Begegnung – Kooperation zwischen Togo, Burundi, Tansania und Deutschland (07/2020)

Assoziationen: Theatergeschichte Afrika

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Oralität, mündliches Kulturerbe, ist ein komplexes Thema, gerade in einem Land wie Togo, das von ethnischer, kultureller und sprachlicher Diversität geprägt ist. Das Thema ist dennoch sehr spannend, da diese uralte Art der Überlieferung von Wissen und handwerklichem Können zweifellos das gemeinsame Merkmal all dieser Kulturen bildet. Die mündliche Weitergabe von Wissen und Werten erfolgt über Gesänge, Rezitationen, Märchen und viele andere Formen von mündlicher Kultur und strukturiert das gesellschaftliche Leben in Togo. Der Artikel beleuchtet die Bedeutung und den Stellenwert der Oralität in der togoischen Gesellschaft.

Einer Erzählung zu folgen, bedarf Konzentration, Aufmerksamkeit und aktiver Partizipation. Dies ist im Laufe des Alltagsgeschäfts nicht möglich. Erzählungen bieten nach getaner Arbeit Entspannung, Unterhaltung und die Möglichkeit, den Horizont zu erweitern.

Erzählungen dienen darüber hinaus der Bildung und der Vermittlung von Kultur. Sie sind in besonderer Weise geeignet, Bewusstsein zu generieren. Fehler und Fehlverhalten in Gesellschaften werden durch talentierte Erzähler*innen reflektiert und korrigiert – ohne jegliche Verurteilung. Die Arbeit des Erzählenden wird durch die Einbindung der Zuhörenden gerahmt und es entstehen feste Rituale: Das Publikum begrüßt den*die Erzähler*in und gemeinsam würdigen Zuhörer*innen und Erzähler*in den eindrücklichen Moment der Erzählung.

Die Oralität droht durch die steigende Wichtigkeit von Schriftlichkeit ihren Stellenwert in der togoischen Gesellschaft zu verlieren. Das immaterielle Erbe verfügt allerdings über zahlreiche Meisterwerke, die erhalten werden müssen. Eine zentrale Herausforderung bleibt deshalb die Aufzeichnung mündlicher Werke in schriftlichen Dokumenten. In Togo ist es den Autor*innen dieser Aufzeichnungen zu verdanken, dass die mündlichen Werte gewahrt werden können. Viele Autoren, allen voran Agudze-Vioka, haben sich in den achtziger Jahren dieser Aufgabe gewidmet, einige dieser Werke wurden in Éwé veröffentlicht.

In den achtziger Jahren wurden mündliche Erzählungen für das Theater adaptiert und auf die Bühne gebracht. Diese dem Theater angepasste Erzählkunst wird als neues Genre, als conte théâtralisé, überall in Afrika von Künstler*innen übernommen und nachgeahmt und international bei Festivals präsentiert. Das Ansehen dieser theatralen Erzählform motiviert junge Schauspieler*innen dazu, sich in das inzwischen international anerkannte Genre einzubringen. Aufgabe des*r modernen Erzählers*in wird es sein, sich die in den Büchern niedergeschriebenen Geschichten anzueignen und Formen des Erzählens zu finden, die Erwachsene sowie ein junges Publikum erreichen.

In Schulungen sollen die Meister*innen der Erzählkunst den angehenden Erzähler*innen die neuen Erzähltechniken lehren und mit ihnen künstlerisches Handwerk anhand von Repertoirekenntnissen, Gedächtnistraining und Improvisation erarbeiten. Um die Oralität voranzutreiben, werden derzeit Künstler*innenbegegnungen und Erzählfestivals organisiert. Mit dieser Intension wurde auch das Kulturzentrum Maison de l’oralité Gabité (Haus der Oralität Gabité) gegründet, das als Ausbildungsort für die Kunstformen der Oralität dient.

„In Afrika ist ein sterbender alter Mann wie eine brennende Bibliothek“, sagte der Schriftsteller Amadou Hampâté Bâ. Ältere Menschen spielen in afrikanischen Kontexten eine große Rolle in der Erziehung und kulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen; sie übermitteln ihnen Fertigkeiten und Kenntnisse in mündlicher Form. Um dieses immaterielle Erbe nachhaltig zu bewahren, ist eine Übertragung und Bewahrung in Schriftstücken unabdinglich. Der togoische Staat ist insbesondere herausgefordert, Verantwortung dafür zu übernehmen, das mündliche Erbe lebendig zu halten. Es befähigt zu aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen Stellung zu beziehen.

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