Theatralität des mythisch-religiösen Denkens
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Die theatrale „versinnbildlichende Praxis“ des Ideologischen, oder anders des Weltanschaulichen, speziell des mythisch-religiösen Denkens der Dinge, ist auch der Rahmen, in dem sich die große Tradition ausdifferenzierten Theaters während der europäischen Vormoderne bildete. In der archaischen Periode waren Politik, Religion und Ökonomie nicht getrennt; ihre Trennung in unterschiedliche Bereiche war die Erfindung eines späteren Zeitalters. Für die Griechen der archaischen Zeit war wie für andere traditionelle Gesellschaften das völlige Ineinander-Verwoben-Sein dieser verschiedenen Bereiche selbstverständlich.35
Dem ganzheitlichen, „konkreten“ Denken gemäß unterschied man nicht zwischen Religiösem, mythischen Denkfiguren, dem Häuslichen und dem Politisch-Gesellschaftlichen. Die Religion bildete keinen separaten, eingegrenzten Bereich, der das familiäre, berufliche, politische Leben überlagerte, ohne mit ihm zu verschmelzen.36 Sämtliche Momente individuellen oder kollektiven Lebens hatten eine religiöse Dimension.37 Das mythische Denken wirkte bis in neuartige, gleichsam philosophisch-rationalistische Deutungsversuche seit dem 6. Jahrhundert weiter.38
Die Annahme, es gebe aktive Beziehungen zwischen Gottheiten und Menschen/Gesellschaft, schien sozialpolitische und alltägliche Praktiken, ihre hervorstechende Theatralität, stark geprägt zu haben. Jeder bedeutende Augenblick des privaten und sozialen Lebens war durch den Kontakt mit den Göttern gekennzeichnet. „Die Götter begegnen in Bildern den ihnen geweihten Kulthandlungen und den Geschichten, die man sich der Familie und in der Öffentlichkeit von ihnen...