Neustarts
Powern für Beachtung
Die heimliche Erzgebirgshauptstadt Annaberg-Buchholz auf dem Weg zu einer sächsischen Theaterhauptstadt
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Sachsen

In die Häuserzeile am Fuß der ansteigenden Buchholzer Straße passt das Annaberger Winterstein-Theater auf den ersten Blick nicht. Mit seiner beeindruckenden neoklassizistischen Fassade scheint das Gebäude die einengenden benachbarten Bürgerhäuser beiseite drücken zu wollen. Unvermutet setzt es einen sehr urbanen Akzent in der eher beschaulichen Erzgebirgsarchitektur. Aber Annaberg fühlt sich wegen seiner Lage, der Bergbautradition oder mit seiner imposanten Annenkirche ohnehin als Quasi-Hauptstadt des Erzgebirges. Die eben 1893 auch eine Bühne brauchte, zunächst getragen von einer bürgerlichen Theatergemeinschaft. Das Zweispartentheater trägt seit 1981 den Namen des Schauspielers Eduard von Winterstein aus der Gründerzeit des Hauses.
Auch als Geimpfter wird man in diesen angespannten Seuchenzeiten nicht ohne Weiteres zu einem Interview eingelassen. Etwa 800 Meter aufwärts, im „Erzhammer“ am Markt, gibt es ein Testzentrum. Nur eine einsame Fichte und eine kahle Pyramide erinnern an den sonst um diese Adventszeit einladenden populärsten Weihnachtsmarkt des Erzgebirges. Auch das Theater hat pflichtgemäß geschlossen. Der neue Intendant Moritz Gogg achtet auf 2G+ bei Besuchern und ist stolz darauf, dass das Sicherheitskonzept bislang erfolgreich war. Weder bei den Beschäftigten noch beim Publikum ist ein Coronafall bekannt.
Ungeachtet der erneuten Restriktionen wirkt der Intendant recht stolz oder zumindest optimistisch. Er spricht nur gut über seinen langjährigen Vorgänger Ingolf Huhn, aber hält auch mit seinen Ambitionen nicht hinter dem hier wörtlich zu nehmenden Berg. Der 47-jährige gebürtige Grazer Moritz Gogg fällt mit seiner leichten österreichischen Dialektfärbung nur wenig unter der stark lautverschobenen Mundart der Arzgebirger auf. Vor allem aber bringt er mit seinem Netzwerk und seinen persönlichen Erfahrungen in Europa einen frischen, aber auch verstörenden Hauch von Internationalität in die geschlossene Veranstaltung Erzgebirge.
Als Pianist war er Preisträger beim Wettbewerb „Jugend musiziert“, als Bariton sang er an zahlreichen deutschsprachigen Bühnen, darunter einen Papageno an der Dresdner Semperoper. Nach den zwölf Jahren an der Staatsoper Hamburg, dem Brucknerhaus Linz und der Operndirektion und KBB-Leitung in Gießen avancierte er 2021 zum Intendanten in Annaberg. Mitgebracht hat er einen ähnlich weltläufigen Generalmusikdirektor. Jens Georg Bachmann studierte nicht nur in New York, sondern dirigierte auch an der Metropolitan Opera, sprang dort für James Levine ein. Von den USA über Schweden und mehrere deutsche Städte bis nach Zypern spannt sich der Horizont seiner Engagements.
Auftrag: Mehr überregionale Beachtung
Die seit Spielzeitbeginn in der Umsetzung befindlichen Pläne der neuen Hausleitung legen spontan die Frage nahe, ob die konservativen Bergbewohner sie auch goutieren werden. Denn diese erste Spielzeit Moritz Goggs bietet mehr als einen für solche Wechsel typischen Anwärm- und Einschleichspielplan. Geschickt versucht der neue Intendant den Spagat zwischen Vertrautheit und Herausforderung, zwischen Freundlichkeiten für die Einheimischen und Ködern für die erhoffte überregionale Aufmerksamkeit. Denn die ließ bislang zu wünschen übrig, wie auch im Metropolenghetto gefangene Kulturjournalisten einräumen müssen. Zur Uraufführung von „Seit Beginn der Wetteraufzeichnung“ im Oktober beispielsweise erschien kein überregionaler Kritiker, obschon dieses auf einen unterhaltsamen Partyraum komprimierte Welttheater der Globalkrisen beide Aspekte vereinigt.
Es erregt schon beinahe Verdacht, wie überaus lobend sich Gogg über seine neue Heimat äußert. Das politisch fest in blauer Hand befindliche Erzgebirge, neben der Lausitz, der Sächsischen Schweiz oder Mittelsachsen bundesweiter Rekordhalter beim Anteil Ungeimpfter und bei den Infektionszahlen, werde zu Unrecht so negativ wahrgenommen. Den Brandanschlag auf drei Autos des Theaters vom November 2019 hat Moritz Gogg allerdings noch nicht erlebt. Vermutet wurde damals ein Zusammenhang mit „Cabaret“, „Lola Blau“ und einem Stück zu Auschwitz im Spielplan.
Unverdrossen nennt der Intendant seine neuen Nachbarn „toll und großartig“ und spricht von einer „sehr freundlichen Bevölkerung“. Beeindruckt ist er dabei insbesondere von den Theateranhängern. Er spüre an der Resonanz trotz der Reduzierung der 300 Plätze um ein Drittel, trotz der beschwerlich einzuhaltenden Auflagen anhaltende Treue und Interesse. „Da sind wir wirklich von Glück gesegnet!“ Noch scheint sich außer einer gewissen Skepsis in der Regionalpresse niemand darüber zu beschweren, was er mit ihnen vorhat.
Die Maximen, die er selbst bei seiner Bewerbung formuliert hat und die auch vom Träger, der Erzgebirgischen Theater- und Orchester GmbH ETO gewollt sind, gehen einerseits auf das Stammpublikum zu, fordern aber auch Flexibilität. Moritz Gogg nennt zwei Eckpunkte: „Ich komme mit internationalen Beziehungen und möchte das Haus nach Maßstäben der großen Häuser führen!“ Und er möchte neue, zeitgemäße Ästhetiken nahebringen, die auch junge Erwachsene ansprechen.
Überdies hat er ein Spielzeitmotto gewählt, das die Orientierung verdeutlicht: „Werden wir menschlich gewesen sein?“ Im Gespräch übersetzt er es so: „Wirklich gute Kunst geht Hand in Hand mit Menschlichkeit und gutem Umgang.“ Über den Umgang miteinander im Team zumindest freut er sich schon einmal ehrlich. Die Ansprache gesellschaftlicher Werte sollte aber „diplomatisch und klug“ erfolgen. Denn selbstverständlich gelte ebenso ein Unterhaltungsanspruch des Publikums.
Diesem genügen Klassiker und Ohrwürmer wie Humperdincks „Hänsel und Gretel“, leider im Kuschelmonat Dezember nun wieder im coronabedingten Aufführungsstau. Zu den vertrauteren Publikumsstücken hätte Ende November gewiss auch „Orson Welles probt Moby Dick“ gehört. Die Premiere von Schillers „Kabale und Liebe“, geplant am 9. Januar, ist ebenfalls verschoben worden. Kaum in Gefahr dürften ab Juni der „Räuber Hotzenplotz“ und der „Herr der Diebe“ auf der Naturbühne Greifensteine sein.
Zur Kategorie der Alleinstellungsmerkmale, der Werke, „die es nur hier gibt“ und mit denen auswärtige Besucher angelockt werden sollen, zählen im Frühherbst noch möglich gewesene Premieren. Um die erste Theaterkomödie des Drehbuchautors Martin Rauhaus „Seit Beginn der Wetteraufzeichnung“ hatten sich mehrere Bühnen beworben, berichtet Intendant Gogg. Annaberg hatte die Nase vorn.
Die ziemlich bemühte Einweihungsparty eines Luxusbungalows von Unternehmer Harry und Frau gerät im ersten Teil des Stücks noch zu einer halbsteifen und akademisch überladenen Diskussion um alles, was derzeit das apokalyptische kollektive Unterbewusstsein bestimmt. Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Rechtsextremismus und Nationalismus, Rassismus, Gender-Blüten, Waldzustand und Meeresverschmutzung, alles wird gestreift. Ausgelöst durch Harrys Hinweis auf ein Bunker-Untergeschoss, in dem maximal vier Leute im apokalyptischen Ernstfall zwei Jahre überleben können. Dorthin begibt sich die Partygesellschaft dann auch, aber Harry überlebt nicht einmal den eskalierenden Zoff dieser Gruppe. Man spürt das dramaturgische Geschick des „Tatort“-Autors Rauhaus.
Das ist ebenso wenig billiger Boulevard wie das Sinnieren über die Rezeption bildender Kunst im bekannten Monolog „Nipple Jesus“. Dem Nachwuchs bietet das Winterstein-Theater die Münchhausen-Adaption „Ronny von Welt“ als Klassenzimmerstück. Im Musiktheater hält Annaberg für Insider und traditionelles Publikum Überraschungen bereit. Wer kennt schon die Opernfassung von Büchners „Leonce und Lena“ des Wiener Komponisten Erich Zeisl? Acht Vorstellungen immerhin konnte sie bislang erleben. Als „Bestattical“ etikettiert wird das schwarzhumorige „Sarg niemals nie“, im Untertitel ein „Musical zum Totlachen“, das jüngere Besucher anspricht. Eine deutsche Erstaufführung ist die Operette „Der reichste Mann der Welt“ von Hans Müller mit der Musik von Ralph Benatzky.
Solche Entdeckungen überraschen wie die Fülle des Spielplans an einem relativ kleinen Theater insgesamt. Sie ist nicht allein mit dem bunten Angebot für die beliebte Naturbühne Greifensteine zu erklären. Zwischen Unterhaltung und dem Nachdenken über Werte und Glück gibt sich der neue Intendant sehr ambitioniert und vertraut auf die Potenzen von Ensemble und der Erzgebirgischen Philharmonie Aue. „Wir machen hier wirklich auf höchstem Niveau Kunst“, äußert er selbstbewusst. Sie möge bitte noch aufmerksamer registriert werden! //