I Grand Opéra
Fremde Leidenschaften
Die Grand Opéra als Theater der Wiederholung
von Günther Heeg
Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)
Assoziationen: Musiktheater

I Traum und Trauma. Die Grand Opéra als Traumproduzent und Seismograph gesellschaftlicher Erschütterungen
1. Vexierbild
Die Hochzeit der Grand Opéra in Paris fällt in die Zeit zwischen zwei Revolutionen, der Julirevolution des Bürgertums von 1830 und der proletarischen Februarrevolution 1848 gegen die Herrschaft dieses Bürgertums und seines Souveräns, des »Bürgerkönigs« Louis Philippe. Die kurze Zeitspanne dazwischen, die Zwischenzeit der Julimonarchie, bringt den Take-off einer enormen Beschleunigung der Zeit selbst in der rasanten Veränderung des ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens. Zwar lässt sich in Frankreich in den Jahren der Julimonarchie (noch) nicht von einer mit England vergleichbaren industriellen Revolution reden, die Akkumulation des Kapitals findet noch nicht so sehr in der Produktion, sondern überwiegend in der Zirkulationssphäre statt. Im Finanzsektor, an der Börse und in riskanten Spekulationen vollzieht sich die schnelle Anhäufung und auch der Verlust von immensen Summen. Eine Goldgräbermentalität breitet sich rasch aus und jeder, der über etwas Kapital verfügt, hofft, etwas vom Gewinn für sich zu erlangen. So entsteht neben der alten Aristokratie die neue Klasse des bürgerlichen Finanzkapitals. Dessen Physiognomie hat Honoré de Balzac, der genaue Porträtist der sozialen Charaktermasken der Julimonarchie, in den Romanen seiner Comédie humaine nachgezeichnet. Für sie allesamt scheint zuzutreffen, was Karl Marx und Friedrich Engels am Ende dieser geschichtlichen Periode 1848 im Kommunistischen Manifest für den Geist der Bourgeoisie festgehalten haben:
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«.1
Von der »Gefühllosigkeit« einer Zeit unter der von allen sinnlichen Qualitäten abstrahierenden Tauschprinzips und ihrer »Nacktheit« in Hinsicht auf das Bedürfnis nach »buntscheckiger« Kostümierung und Luxus vermitteln die Lithographien und Gemälde des Zeitgenossen Honoré Daumier einen guten Eindruck.
Seine Karikaturen der Angehörigen der neuen herrschenden Klasse, der Abgeordneten, Richter, Banker und Börsianer, zeigen teils von der Jagd nach Geld ausgemergelte und vertrocknete Gestalten, teils vollgefressene Bäuche, fast stets im tristen Schwarz-Weiß-Grau des bürgerlichen Habits und überdies von überwältigender Spießigkeit.2
Politisch wird die Herrschaft der Finanz-Bourgeoisie von einem Liberalismus begleitet, der nicht nur das »nackte Interesse« des Marktes und der »baren Zahlung« proklamiert, sondern durchaus bürgerliche Freiheiten gegenüber dem Regime der katholischen Restauration bringt. Die Religionsfreiheit und in diesem Zusammenhang die (in der Französischen Revolution von 1789 bereits erfolgte, nun erneute) Gleichstellung der Bürger:innen jüdischen Glaubens3 gehört ebenso dazu wie die politischen Mitwirkungsrechte, die Stärkung der Rechte der Abgeordnetenkammer gegenüber der Exekutive.
Den politischen, ökonomischen und sozialen Freiräumen, die sich die neue Klasse geschaffen hat, steht die Masse der Bäuer:innen, Handwerker:innen und Arbeiter:innen gegenüber, deren Lage sich, wie Hungerrevolten in dieser Zeit immer wieder zeigen, durch die Julirevolution nicht geändert hat. Die Februarrevolution von 1848 richtet sich deshalb nicht nur gegen den Bürgerkönig Louis Philippe, sondern auch gegen die Herrschaft des Finanzbürgertums. Wie unterschwellig explosiv die soziale Lage zur Zeit der Julimonarchie war, zeigt sich am Zusammenleben einer seit dem Beginn des Jahrhunderts auf das Doppelte angewachsenen Bevölkerung von 1 Million Einwohner:innen auf beschränktem Raum (35 Quadratkilometer) und in engen Straßen – noch vor der Boulevardisierung der Stadt durch Georges-Eugène Haussmann im Zweiten Kaiserreich.
Eine solche Stadt will unterhalten sein. 28 Theater in Paris sind bemüht, dem Bedürfnis des Vergnügens, der Unterhaltung und der Ablenkung seiner Bewohner:innen nachzukommen. Die Theater sind dabei unterschiedlich privilegiert. 1806 wurden alle Theater unter staatliche Kontrolle gestellt und 1807 durch den Innenminister eine hierarchische Ordnung eingeführt. Nur die Opéra, die Comédie-Française, die Opéra comique und das Théâtre de l’Impératrice wurden zu grands théâtres erklärt. Allein der Opéra war es darüber hinaus erlaubt, ganze Werke vollkommen in Musik und Ballette in einem dezenten und gehobenen Stil aufzuführen. Präziser wurden die Anforderungen an die Opéra von staatlicher Seite aus in den folgenden Jahren in den cahiers des charges festgelegt. Heute würde man von Zielvereinbarungen zwischen dem Staat, hier vertreten durch das Innenministerium, und der jeweiligen Direktion der Opéra sprechen, in denen staatliche Unterstützung von der Erfüllung vereinbarter Aufgaben durch die Opéra abhängig gemacht wurde. Generell war es Aufgabe der Opéra, dem öffentlichen (nationalen) Interesse zu dienen und das kulturelle Image Frankreichs in der Welt zu stärken.4 An diesen kultur- und nationalpolitischen Aufgaben änderte sich auch mit dem tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel nichts, den Anselm Gerhard als »Verstädterung der Oper« beschrieben hat.5
Wenngleich die hierarchische Einordnung der Opéra und die damit verbundenen Eintrittspreise sie nicht für ein proletarisches Publikum attraktiv machten, sondern die gehobenen Schichten in den Blick nahm, machte die geschilderte soziale, ökonomische und politische Dynamik nach der Julirevolution eine vollkommene Umgestaltung sowohl der Gattung der Oper als auch der Institution der Opéra notwendig. Die klassische französische Form der Oper, die tragédie lyrique, mit ihren mythologischen und antiken Heldinnen und Helden im höfischen Dekor, weicht einem neuen Typus von Oper: Die Grand Opéra entsteht. Allerdings erhebt sich diese nicht wie Phönix aus der Asche der Restauration als eine neue Gestalt aus einem Guss. Die Grand Opéra ist Stückwerk, zusammengefügt aus den Versatzstücken vieler künstlerischer Genres, und ihre Genese ist mehr der finanziellen Not durch einen abrupten Einbruch der Publikumsgunst geschuldet. Bereits 1816 macht der Direktor des Königlichen Haushalts darauf aufmerksam, dass die Varieté- und Jahrmarktstheater ebenso wie die Vaudeville- und Melodram-Theater sowie die Opéra-Comique voll in der Publikumsgunst stehen, während die grands théâtres der ersten Kategorie oftmals leer sind.6 Das neue städtische Publikum goutiert besonders die visuellen Sensationen, die in den Theatern der zweiten Kategorie Furore machen. Ein wesentliches Bauteil, das zum Stückwerk der Grand Opéra beiträgt, sind die Anleihen, die sie bei den Dekorationen und Effekten der Volkstheater macht. So wie die bürgerliche Revolution von 1830 nicht ohne die Volksmassen zustande gekommen wäre, so kommt auch die Umgestaltung der Oper zur Grand Opéra nicht ohne den Rückgriff auf die theatralen Volksbelustigungen aus.
Die weiteren Elemente, die sich zum Stückwerk einer Grand Opéra zusammenfügen, hat Louis-Désiré Véron, der erste Direktor der neu gestalteten Opéra, so beschrieben:
Un opéra en cinq actes ne peut vivre qu’avec une action très dramatique, mettant en jeu les grandes passions du cœur humain et de puissants intérêts historiques ; cette action dramatique doit cependant pouvoir être comprise par les yeux comme l’action d’un ballet. Il faut que les chœurs y jouent un rôle passionné, et soient pour ainsi dire un des personnages intéressants de la pièce. Chaque acte doit offrir des contrastes des décorations, des costumes, et surtout des situations habilement préparés.7
An der Grand Opéra ist alles groß und überdimensioniert. Die monumentalen Dekorationen, die die Vergnügungssucht des Publikums und seinen Wunsch nach Träumen und Ablenkung befriedigen, die prunkvolle Ausstattung der Kostüme und Requisiten, eine große Masse an Chorist:innen und Komparserie, eine visuelle Choreographie der Handlung wie in einem Ballett und eine Kontrastdramaturgie, die in schneller Folge wechselnde Schicksalslagen herbeiführt.
Eine solche Umgestaltung der Gattung Oper unter dem Primat des Visuellen setzt eine Veränderung des Apparats Oper voraus. Mit der Ernennung des Arztes und Journalisten Véron, der sein Vermögen mit Hustenpillen gemacht hatte, setzt dieser Umbau ein. Véron war zwar vom Staat angestellt, er arbeitete aber mit der Opéra wie in einem Franchise-Unternehmen auf eigene Rechnung.8 Mit einem satten Gewinn zog er sich 1835 aus dem Geschäft Opéra zurück. Keiner seiner Nachfolger konnte danach mehr Gewinn mit der Opéra machen. Das lag an den ständig wachsenden Produktionskosten, u. a. an den rasant steigenden Gagen für die Sänger:innen, den Kosten für das ganze Corps aus Orchester, Ballett, Chor und Figurant:innen bis hin zum Sicherheitspersonal und besonders für die aufwendigen Dekorationen. Zur Ausgestaltung der Bühnenbilder genügte nun kein einzelner Ausstatter mehr, sie wurde im großen Stil arbeitsteilig organisiert. Hinzu kam, dass sich die Probenzeiten durch das multi- und transmediale Zusammenwirken unterschiedlicher Künste und Gattungen und die Feinabstimmung zwischen ihnen auf Monate hinaus verlängerte. Diese Produktionsweise brachte es mit sich, dass die Zahl der wichtigsten Grands Opéras überschaubar war.9 Dafür blieben sie bis über die Jahrhundertwende hinaus mit hohen Aufführungszahlen im Repertoire.
Für die Dramaturgie der Grand Opéra entscheidend war es, jemanden zu finden, der in der Lage war, immer neue Libretti mit ständigen starken Kontrasten und unerwarteten Wendungen zu finden. Auch in dieser Hinsicht war Véron erfolgreich: »Je ne crains pas de le dire ici, M. Scribe est de tous les auteurs dramatiques celui qui comprend le mieux l’opéra«10, setzt er die Aufzählung der unabdingbaren Zutaten für eine gelungene Grand Opéra fort. Eugène Scribe ist in der Tat der Librettist der Grand Opéra. Bekannt wurde er zuvor als Librettist der Opéra comique. Die Handlung wird dort durch private Intrigen, durch immer neue überraschende Wendungen in Gang gehalten. Erst liebt er sie, als sie endlich seine Liebe erwidert, bringt ein dummes Missverständnis, angeblich ein anderer Mann, ihn dazu, sein Glück bei einer anderen zu suchen. Sie wiederum rächt sich mit einem anderen Mann, der wiederum die Trostgeliebte des Mannes liebt und so fort. Der ständige Wechsel der Situationen hält das Publikum in Atem. Scribe hat nun die privaten Intrigen, die für vergnügliche Wendungen sorgen, auf die großen und ernsten politischen Sujets der Grand Opéra übertragen, wo sie dramatische Gestalt annehmen und das Publikum in immer neue Seelenzustände versetzen.
Für Abwechslung, eskapistisches Träumen, narzisstische Selbstfeier und sinnliches Vergnügen war alles getan in der neuen Gattung der Grand Opéra und ihrem institutionalisierten Apparat. Kein Zweifel: Die Grand Opéra ist ein Vergnügungsspektakel. Aber sie erschöpft sich darin nicht. Anzeichen dafür sind die Sujets der Grand Opéra, die in historischem Kostüm von gesellschaftlich-politischen Umbruchszeiten, Religionskriegen, sozialen Auseinandersetzungen und Pogromen kündigen. Von ihnen hat Theodor W. Adorno behauptet, sie würden in der Grand Opéra »hergerichtet, personalisiert und […] dabei neutralisiert, indem von der Substanz der Konflikte nichts übrig blieb«.11 Dem ist zur Hälfte zuzustimmen. Das Spektakuläre ist die Substanz der Grand Opéra. In ihm aber haben sich in der verstellten Form des Traumas und Symptoms die leidenschaftlichen Erfahrungen verkapselt, die jene der Zeitgenoss:innen sind. In fremden Dekorationen, Kostümen und Handlungen kehren sie wieder und warten darauf, dass sie zur Kenntlichkeit entstellt und neu erfahren werden.
Es ist Giacomo Meyerbeer, der »Meister der Grand Opéra«12, der, mit ungeheurer musikalisch-szenischer Präzision und Intuition in die Dramaturgien von Scribe eingreifend und sie entscheidend verändernd, uns diese Erfahrung erneut machen lässt. Meyerbeer ist sowohl der exemplarische Repräsentant der Grand Opéra, der alle Register des Opernspektakels zu ziehen weiß und dieses Spektakel auch bedient. Aber er ist auch der komponierende Szeniker und szenisch denkende Komponist, der dem Spektakulären seine Kehrseite abgewinnt und zu Einsichten verhilft, die die Oberfläche aus Narzissmus, Eskapismus und Sensationen nicht ohne weiteres freigibt. Das Besondere der Opernkunst Meyerbeers ist nun, dass diese Einsichten nicht unter oder jenseits der Oberfläche in einem Reich der »Tiefe« zu suchen ist, das Richard Wagner mit antifranzösischem wie antisemitischem Ressentiment als das »echte« deutsche Wesen gegen die Oberfläche der bloßen »Effekte« des »Jüdischen« in die polemische Schlacht schickte.13 Sondern dass die Entstellung des Spektakulären der Oberfläche nur in und durch sie hindurch geschehen kann. Meyerbeer nimmt die Gefühle, Leidenschaften und Triebenergien, die sich ans Spektakel klammern und in ihm eine Form des Ausdrucks zu finden glauben, ernst. Er nimmt sie an und verwirft sie nicht. Erst durch diese Annahme werden sie erfahrbar, bearbeitbar und, in the long run, veränderbar. Meyerbeer erteilt dem polemischen Ausspielen von vermeintlicher inhaltlicher Tiefe gegen vermeintlich oberflächliche Äußerlichkeit eine implizite Absage. Er wirkt damit einer Politik der Feinderklärungen entgegen, die aus der polemischen Abwertung resultiert und die in der deutschen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte verheerende Wirkung entfalten wird. Politiken der konfrontativen Entgegensetzung und Feinderklärungen den Boden zu entziehen ist die ästhetisch-avantgardistische Strategie des Musiktheaters von Giacomo Meyerbeer. Das ist die Ursache seiner heutigen Wirkung.
Um sie zu ermessen, ist es unabdingbar, die Stellung von Meyerbeers Grand Opéras zur Geschichte zu untersuchen und sie in den Horizont des ästhetischen Historismus des 19. Jahrhunderts zu stellen, dem sie entwachsen sind – entwachsen im doppelten Sinn des Entstehungsgrunds wie der Übersteigung des Horizonts. Das folgende Kapitel erkundet daher die Genese des ästhetischen Historismus aus dem veränderten Verständnis von Zeit und Geschichte im Zeitalter der Revolutionen. Vor allem aber fokussiert es die Gefühle und Leidenschaften, die in diesen Zeiten am Werk sind.
2. Geschichte. Gefühle
Die Umwandlung der Pariser Opéra, die sie zur Institution der Grand Opéra macht, wird durch die Julirevolution ins Werk gesetzt. An deren Beginn steht ein scheinbar absurdes Ereignis. Am ersten Abend der Julirevolution, der Bourbonenkönig Karl X. hatte bereits abgedankt, beginnen die Revolutionäre in unterschiedlichen Stadtvierteln ohne Absprache gleichzeitig auf die Turmuhren zu schießen, um die Zeit zu unterbrechen und den Tag anzuhalten. Paradigmatisch verdichtet sich in dieser von Walter Benjamin berichteten Episode14 die Erfahrung eines Zeitbruchs, der Bruch mit der tradierten Gewissheit historischer Kontinuität. In der »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck)15 oder »Epochenschwelle« (Hans Blumenberg)16, zwischen Spätaufklärung und Französischer Revolution, feudal-absolutistischer Herrschaft und bürgerlicher Gesellschaft, verändern sich die bislang gültigen Anschauungen von Zeit und Geschichte fundamental. Die Vorstellung von Zeit entbindet sich aus der Koppelung an die geordnete Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn die Gegenwart nicht länger aus der Vergangenheit und Zukunft, aus beiden gleichsam organisch hervorgeht, ist die Zeit freigesetzt. Jede:r kann sie ergreifen, sie sich zu eigen machen und sie gestalten. Alles ist möglich, auch jede mögliche neue Ordnung. Dem Möglichen entschieden Einhalt zu gebieten war das Bestreben aller restaurativen Kräfte in Europa nach dem Ende Napoléons. Vergebens. War die Restauration der Bourbonen zwischen 1815 und 1830 der Versuch, die Große Französische Revolution von 1789 ungeschehen zu machen, so macht das Schießen auf die Turmuhren von Paris in einer spontanen symbolischen Aktion deutlich, dass das Ancien Régime der Zeit, die immergleiche Rückbindung des Kommenden an das Vergangene, abgelaufen und die Zukunft offen ist. Es ist der historische Augenblick, die Zeit zu beschleunigen und die Zukunft selbst zu gestalten, wie es bereits Maximilien de Robespierre in seiner Rede Sur la Constitution 1793 als Aufgabe der Revolutionäre proklamiert.17
Die reale Möglichkeit der Selbstermächtigung der Bürger:innen ist der Auslöser eines Enthusiasmus, der die Einzelnen aus ihren alltäglichen Geschäften und Verrichtungen heraus- und über sich selbst hinaustreibt ins Erhabene und in Richtung auf eine sich selbst bestimmende Menschheit hin. Im Enthusiasmus, den die Französische Revolution auslöst, hat Immanuel Kant 1798 ein »Geschichtszeichen« gesehen, das »eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat«18. Von diesem Enthusiasmus zeugt der Entwurf zu einem (nicht ausgeführten) Gemälde von Jacques-Louis David: Le serment du Jeu de paume (Der Schwur im Ballhaus) (1791). Dieser Enthusiasmus in der allegorischen Gestalt der Freiheit beflügelt auch die bürgerlichen Revolutionär:innen von 1830, die in Eugène Delacroix’ berühmtem Bild La Liberté guidant le peuple (Die Freiheit führt das Volk) auf und über die Barrikaden hinwegschreiten – hinweg auch über Körper der am Boden liegenden erschossenen Arbeiter:innen, ohne deren Kampfesmut die bürgerliche Revolution nicht zustande gekommen wäre.
Der Enthusiasmus, die »Teilnehmung am Guten mit Affekt«19, ist die Leidenschaft der Revolutionär:innen im Augenblick, in dem sie sich anschicken, Geschichte selbst zu gestalten. Es ist aber auch der Augenblick einer Erschütterung, in der die revolutionär Handelnden ins Nichts blicken, weil sich der »Erwartungshorizont« der Zukunft nicht aus dem »Erfahrungsraum« der Vergangenheit entwerfen lässt.20 Die geschichtliche Kontinuität ist außer Kraft gesetzt, die Revolutionär:innen haben einen leeren Raum der Möglichkeiten vor sich und nichts, was ihnen Orientierung geben und den Weg weisen könnte.
Der Enthusiasmus der Revolutionär:innen, die auf die Turmuhren schießen, um den Tag festzuhalten, an dem eine neue Zeit beginnt, geht einher mit einer tiefen emotionalen Erschütterung durch den Verlust aller tradierten Orientierungen, Gewohnheiten und erfahrungsgesättigter Planungen. An den bürgerlichen Revolutionen tritt zutage: Die Vergangenheit ist nun tatsächlich vergangen und bietet keine Anhaltspunkte mehr für die Zukunft. Geschichte ist nicht länger selbstverständliche traditionsgespeiste Lebenswelt, sondern im Kollektivsingular als die Geschichte ein von der Gegenwart entferntes bzw. in der Gegenwart erst noch zu gestaltendes Objekt. Im leeren Raum der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft stürzen die sinnstiftenden Weltbilder und Religionen in sich zusammen und hinterlassen eine doppelte traumatische Erfahrung: die der Kontingenz eines zufälligen Lebens ohne metaphysischen wie sozialen Halt und teleologisches Versprechen und die eines singulären Todes, der in keinem religiösen, metaphysischen oder politischen Weltbild als »ein Tod für etwas« mehr Sinn macht. Diesen metaphysisch trostlosen Tod hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Tod auf der Guillotine im Terreur der Französischen Revolution am Werk gesehen. Über ihn heißt es im Kapitel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« in der Phänomenologie des Geistes: »[E]s ist […] der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wasser.«21
Derselbe Hegel hat gleichwohl bis zu seinem Lebensende den revolutionären Impetus verteidigt, Geschichte nach eigenen Ideen zu gestalten: »Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut«,22 so Hegel über die Französischen Revolution.
Die grundlegende Ambivalenz in der Beschreibung und Bewertung der revolutionären Ereignisse macht klar: Der historische Moment, in dem Geschichte erstmals von Menschen gemacht werden könnte, ist emotional aufgeladen mit zwei entgegengesetzten extremen Gefühlen: Begeisterung und Entsetzen. Sie befeuern die Ereignisse als kollektive soziale Gefühle in diese und jene Richtung. Die enthusiastische Selbstüberhebung ist begleitet von der Ent-Setzung der Subjekte durch die Erfahrung von Kontingenz und vom Entsetzen über den Terror der Revolution. In der Zeit zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848, der Zeitspanne der Julimonarchie, treten diese sozialen Emotionen nicht als solche erkennbar und manifest hervor, sondern wirken als Traumata, geschlagen von der Enttäuschung des revolutionären Traums (von) der Freiheit und der Gewaltdynamik einer Gesellschaft im Umbruch unter der Oberfläche des politisch-gesellschaftlichen Lebens subkutan weiter. Die Begeisterung verschwindet im Alltag der Geschäfte der bürgerlichen Klasse, die sich anschickt, die Herrschaft zu übernehmen. Die Kluft, die zwischen beiden, dem einstigen Enthusiasmus und der grauen Gegenwart, klafft, tritt zutage, wenn man das Bild La Liberté guidant le peuple von Delacroix neben die bürgerlichen Raffer- und Spießerkarikaturen von Honoré Daumier hält. Auch das Trauma revolutionärer Erschütterung wird verdrängt. Die Erinnerung an den gleichgültigen Tod im Terreur der Französischen Revolution, an das gesichtslose Sterben in den Napoleonischen Kriegen, an Gewalt und Verfolgung während der politischen Restauration und an die Unsicherheit der Existenz in einer Zeit beschleunigter Veränderungen, all das findet keinen Platz in einer Gesellschaft, die der Devise folgt »Enrichissez-vous!«23 Aber die verdrängte Erfahrung eines singulären Todes auf der »Sandbank der Endlichkeit«24 und der Treibsand der Gefühle der Begeisterung und des Entsetzens wirken fort im Unbewussten der Zeitgenoss:innen und kehren wieder in anderer Gestalt und an anderem Ort: in einer neuen Leidenschaft für (die jüngst aus der Gegenwart entfernte) Geschichte. In Geschichte, oder präziser gesagt in einem hochwirksamen ästhetischen Kondensat, einer imaginären Ersatzgestalt, entdecken, finden, erfinden die Bürger:innen des gerade erwachten Zeitalters auf verstellte, ja pervertierte Weise erneut den Traum und die Traumata ihrer von Vergangenheit heimgesuchten Gegenwart. Die ästhetische Kompensationsform von Geschichte ist der ästhetische Historismus, das vorherrschende Paradigma der Künste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in (West-)Europa. Die Grand Opéra ist ein privilegierter Ort seines Erscheinens wie seiner Transformation.
3. Der Aufzug der Geschichtsbilder im Theater des ästhetischen Historismus
Um den Aufstieg des ästhetischen Historismus zum herrschenden künstlerischen Paradigma im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu verstehen, ist es hilfreich, sich den Hunger nach (Lebens)Sinn in einer aufgeklärten Zeit ohne transzendenten religiösen und metaphysischen Trost an der Abfolge der weltanschaulichen Sinnstiftungssysteme vom 18. auf das 19. Jahrhundert vor Augen zu stellen. Nachdem die Aufklärung, vor allem in der Gestalt von Kant, den Glauben an die Metaphysik und transzendente Gewissheiten als bloßen Glauben kenntlich gemacht hat, wird die Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel zum immanenten Legitimationsgrund einer von Metaphysik entzauberten Welt. Sinn sucht sie, wie Hegel, in einem Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit, das den Gang der Geschichte auf eben diesen Zweck hin gestaltet und durchwirkt. Mit der Entzauberung der Geschichtsphilosophie selbst, durch den philosophischen Materialismus des Vormärz und den real-ökonomischen Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft geht die Sinnstiftung an die Geschichtsschreibung über, die unter dem Rubrum des Historismus das vorherrschende Weltbild und Verfahren der Welterklärung zum Ausdruck bringt.25 Ihre Absicht ist zum einen die auf reine Faktizität gestützte Erklärung jeder Epoche aus sich selbst, d. h. ohne ihre philosophische Einbettung als Teil eines dialektisch angelegten Geschichtsverlaufs. Zum anderen soll die Erforschung der Geschichte der einzelnen Zeitalter der Gegenwart erklären, wie sie geworden ist und durch die Darlegung ihres historischen Gewordenseins Sinn stiften. Die Sinnfälligkeit der historischen Erklärung der Gegenwart aus ihrer Vor-Geschichte26 ist aber angewiesen auf die Konsistenz und Überzeugungskraft von Geschichtserzählungen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden und an die sinnliche Augenfälligkeit historischer Zeiten, die sich vergegenwärtigen lassen, um der Einheit eines zusammenhängenden Welt-Zeit-Raums Plausibilität zu verschaffen. Das ist der historische Augenblick für den Auftritt der Künste.
Die Geschichtsschreibung des Historismus kommt nicht aus ohne Formen und Modelle des literarischen Erzählens und der Rhetorik, um die Abfolge der historischen Fakten und Ereignisse in eine sinnvolle Anordnung zu bringen.27 Weit mehr noch aber als auf dem wissenschaftlichen Gebiet der historistischen Geschichtsschreibung, zu dem nur ein kleinerer Kreis von Leser:innen Zugang findet, wird die Verbindung von Historismus und Kunst im Reich der Künste selbst populär. In Gestalt eines ästhetischen Historismus28 spielen die Künste in Erzählungen, Novellen und Romanen, in den Historienbildern der Malerei und ganz besonders in den bewegten Geschichtsbildern von Theater und Oper ihr Potential zur Vergegenwärtigung von Abwesendem aus. Der ästhetische Historismus in den Künsten entwickelt jeweils unterschiedliche Verfahren, die Vergangenheit in der Gegenwart plastisch erlebbar zu machen und sie, wie es mit einem bis heute geläufigen Topos heißt, zu »verlebendigen«29. Die Metapher der Verlebendigung impliziert ein religiöses Begehren. Das Tote und Vergangene soll zu neuem Leben erweckt werden. Die Sinn versprechende Kette der Zeiten und Zeitalter soll nicht reißen, alle sollen sie der Gegenwart der Zeitgenoss:innen zur Verfügung stehen. In dieser quasireligiösen Operation der »Verlebendigung« eröffnen sie einen neuen Sinnhorizont in sinnarmer Zeit. Zugleich spielt der Sinnhorizont des ästhetischen Historismus eine zentrale Rolle bei der Modellierung der Gefühle und Leidenschaften am Beginn des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Er ist die Gussform, in der die Träume und Traumata des Zeitalters, wie immer verstellt, auch ihren Ausdruck finden.
Der schottische Adelige Sir Walter Scott, der mit seinen historischen Romanen ein Genre begründet und eine Welle an Schilderungen vormoderner Zeiten ausgelöst hat, entwirft in seinem paradigmatischen Roman Ivanhoe(1820) ein Panorama des Mittelalters und führt die feudale Ständegesellschaft, die angeblich noch Helden und Heldentaten kannte, gegen die unheroische Gegenwart ins Feld. Das Kunststück, die ferne Vergangenheit den heutigen Leser:innen ans Herz zu legen, gelingt Scott, weil dieses Herz, so Scott in der Vorrede des Romans, zu allen Zeiten gleich schlägt, weil menschliche Gefühle und Leidenschaften, Empfindungen und Handlungsweisen beständig die gleichen bleiben, unabhängig davon, in welcher Zeit man lebt und welcher Klasse oder sozialen Schicht man angehört und welcher Herkunft und welchen Glaubens man ist. Der Annahme einer unveränderlichen Gleichheit menschlicher Gefühle wird man aus der Sicht der historischen Anthropologie nicht zustimmen können. Scotts Behauptung verrät aber indirekt das Geheimnis des ästhetischen Historismus: Die Gefühle der Heutigen werden auf die Leinwand der Vergangenheit projiziert und durch die großartigen Bilder historischer Zeiten ins Monumentale gesteigert.
Die Metaphorik des Bildhaft-Malerischen ist kein Zufall. Der ästhetische Historismus, gleich in welcher Gattung der Kunst er praktiziert wird, lebt von der Grundidee, Geschichte als Bild zu konzipieren. Geschichtsbilder aber sind darauf angelegt, die Diversität, Kontingenz, Diskontinuität und Pluralität historischer Vorgänge und Ereignisse auszulöschen und das Unvereinbare unter einer Idee zu einem homogenen Gebilde zusammen zu zwingen.30 Den Geschichtsbildern ist Geschichte ausgetrieben, sie bieten sich als mythische und ersatzreligiöse Hohlformen an, in die das zeitgenössische Publikum die Ströme seiner Gefühle ergießen kann.
Das Theater ist ein bevorzugter Ort, diese Geschichtsbilder bereitzustellen und sie den Zeitgenoss:innen nahezubringen. Das setzt allerdings zunächst die Abkehr von den zeitlich weitgehend unbestimmten, am willkürlichen Geschmack der Akteur:innen und den im Zweifel am Heutigen orientierten Dekorationen, etwa dem bekannten palais à volonté der tragédie classique, voraus. In Deutschland setzt die Wendung zum ästhetischen Historismus auf dem Theater mit der Kostümreform des Grafen Karl von Brühl und den Dekorationsentwürfen von Karl Friedrich Schinkel ein. Graf von Brühl, von 1815 bis 1828 Generalintendant der Berliner Theater, entwirft im Vorwort zu seiner laufenden Vorstellung historischer Kostüme auf den königlichen Theatern die Idee eines lebenden Geschichtsbilds, bei dessen Realisierung Kostüme, Dekoration und Akteur:innen zusammenwirken:
Der Decorateur [!] bildt den Hintergrund des Gemäldes, der Kostümier belebt den Vordergrund durch die, in schöner Übereinstimmung, in Form und Farbenwahl aufzustellenden beweglichen Gestalten. […]
Ein Haupterfordernis darf durchaus nicht vernachlässigt werden, nehmlich [!] die vollkommene Übereinstimmung aller Kostüme in einem und demselben Stück. Nur in einem Geiste muss es gedacht, nach einem ähnlichen Schnitt ausgeführt werden. […]
Die Bühne soll uns lebende Bilder darstellen; – so verfahre man auch als kunstgerechter Maler und gebe dem ganzen Bilde eine wohltuende Übereinstimmung.31
Einen unbestreitbaren Höhepunkt erfährt das von Graf von Brühl entworfene Konzept der performativen Vergegenwärtigung von Geschichte in den Produktionen der Grand Opéra in Paris seit den 1830er Jahren. Dabei geht die visuelle Hinwendung zur Vergangenheit nicht von den privilegierten sogenannten grands théâtres der Opéra, Comédie Française, der Opéra comique und dem Théâtre Italien aus, sondern von den Melodramen des Guilbert de Pixérécourt im Théâtre de la Gaîté. In diesem Haus, das, um die Konkurrenz zu den wortbasierten grands théâtres zu verhindern, nur Pantomimen und textarme Melodramen aufführen darf, entstehen ausgefeilte Bühnentechniken32 und historische Kostüme zur romantischen Imagination mittelalterlich-gotischer Landschaftsarchitekturen: Schlossruinen, schroff kontrastierende Felsen und abgrundtiefe Schluchten, schauerliche Gewölbe und Kerker, verlassene Abteien im Mondschein.
Schließlich gibt Victor Hugo 1827 im Preface seines Lesedramas Cromwell der Wendung zur Geschichte und deren Eigenwert in Drama und Theater eine ausdrückliche Legitimation:
On commence à comprendre de nos jours que la localité exacte est un des premiers éléments de la réalité. Les personnages parlants ou agissants ne sont pas les seuls qui gravent dans l’esprit du spectateur la fidèle empreinte des faits. Le lieu où telle catastrophe s’est passée en devient un témoin terrible et inséparable; et l’absence de cette sorte de personnage muet décompléterait dans le drame les plus grandes scènes de l’histoire.33
Der historische Ort der Bühnenhandlung ist nun nicht mehr eine quantité négligeable, sondern ein ebenbürtiger Akteur des Geschehens. Mit ihm und seiner sogenannten couleur locale verschiebt sich die Wahrnehmung des dramatischen Geschehens im Theater vom Wort auf das Bild und vom Zeitlos-Allgemeinen auf das Historisch-Besondere oder »Charakteristische«, wie es in der zeitgenössischen Formulierung heißt. Für die visuelle Dramaturgie der Oper bedeutet das einen gravierenden Umbruch.
4. TraumBilder – MachtGefühle
Der Amtsantritt von Louis-Désiré Véron als Direktor der Opéra 1831 und die Ernennung von Pierre Cicéri zu ihrem Chefdesigner trägt dem Umbruch in der visuellen Dramaturgie der Oper Rechnung. Mit ihnen werden die Volksvergnügungen an den melodramatischen Bilderwelten, die bislang gleichsam unterm Ladentisch der privilegierten Theater gehandelt werden, salonfähig und gehen in die neue Ästhetik der Opéra ein. War Cicéri in der Frühzeit der Grand Opéra allein verantwortlich für die Dekorationen, die in seiner Werkstatt hergestellt wurden, so wurde unter Vérons und Cicéris Leitung daraus ein arbeitsteiliges Unternehmen verschiedener Werkstätten, die auf unterschiedliche Dekorationen und Hintergründe wie Architekturen und Innenräume, Landschaften und Lichteffekte auf Wasser oder abgründige Gebirge spezialisiert waren. Louis Daguerre in Paris, heute aus der Geschichte der Photographie bekannt, und Karl Friedrich Schinkel in Berlin begannen ihre Karrieren mit der Schaffung von Dioramen, die durch Lichtblenden auf doppelt bemalte Leinwände die Illusion wechselnder Tageszeiten, Landschaften und Ereignisse schufen. Sie erweiterten und verfeinerten die technischen Möglichkeiten zur Ausgestaltung von Geschichtsbildern. Die Aufgabe einer verbindlich-zentrierenden Perspektive in der Dekorationsmalerei eröffnete dabei eine Vielzahl an Möglichkeiten der malerischen und durch Lichteffekte bewirkten Fokussierung, der panoramatischen Weitung des Blicks sowie der fließenden Übergänge zwischen praktikablen Bühnenteilen und gemalten Vorhängen.
Schließlich aber kommt es entscheidend darauf an, die kunstvoll aufgebauten Geschichtsbilder mit Leben zu erfüllen, sie gleichsam zu einer Living History34 für das Publikum zu machen. Vielleicht das wichtigste Mittel dazu sind die scheinbar nicht enden wollenden Aufzüge von den verschiedensten sozialen Gruppen aus vorbürgerlichen, zumeist mittelalterlichen Zeiten in der ganzen Pracht und Buntheit ihrer Kostüme bei Haupt- und Staatsaktionen. Einen frühen Schritt in diese Richtung unternimmt August Wilhelm Iffland, Intendant des Königlichen Nationaltheaters in Berlin, in seiner Inszenierung des Krönungszugs Karls VII. in Friedrich Schillers Tragödie Die Jungfrau von Orléans. Zweihundert Komparsen hatte Iffland für diese kurze Szene über die Bühne paradieren lassen. Schiller war davon nicht angetan. »Sie erdrücken mir ja mein Stück mit dem prächtigen Einzug«35, hat er Iffland gegenüber nach dem Besuch der Aufführung geäußert. Iffland sollte, was den Geschmack des Publikums angeht, Recht behalten. Er hatte die Witterung für den zunehmenden Wunsch der Zuschauer:innen nach historischem Pomp und Größe im Zeitalter des ästhetischen Historismus. Zwei Inszenierungen der Grand Opéra stehen beispielhaft für den buchstäblichen Aufzug von Geschichte: der Einzug des Kaisers auf dem Konzil von Konstanz (1414 – 1418) in Fromental Halévys Oper La Juive (1835) und der Krönungszug Johann von Leydens, des Propheten-Königs eines kurzen Wiedertäuferreichs zu Münster (1530 – 1534) in Giacomo Meyerbeers Oper Le Prophète (1849). Wie präzise an diesen bewegten Bildern gearbeitet wurde, zeigen die Livrets de mise en scène, eine Frühform von Regiebüchern mit genauesten Szenenanweisungen. Sie wurden von Louis Pallianti nach der Premiere herausgegeben, um als Modellbücher für weitere Aufführungen zu dienen.36 Palliantis Beschreibung der Krönungsszene setzt ein mit der Beschreibung eines changement à vue, also eines Szenenwechsels auf offener Bühne von einem öffentlichen Platz in Münster in das Innere der Kathedrale, der durch das Wegziehen von Leinwandprospekten, das Verschwinden eines Brückengeländers im Boden und das Heben des Vorhangs im mittleren Segment der bislang zweigeteilten Bühne blitzschnell vollzogen wird, so dass der Blick frei wird in die Tiefe der Kathedrale, wo der Einzug des Krönungszugs bereits begonnen hat.37 Es folgt eine detaillierte Bühnenskizze mit exakten Positionierungen von Bühnenelementen, Chor und Protagonist:innen samt den Bewegungsabläufen entsprechend der musikalischen Durchgestaltung der Szene. Schließlich folgt eine Aufzählung von einer endlos scheinenden Reihe von Personengruppen aus Klerus, Politik und Militär, darunter der Bürgermeister mit einem Kissen, auf dem der Stadtschlüssel ruht, und ein veritabler Kurfürst mit dem Salböl, Sängerknaben, Blumenmädchen, Herolde, Bannerträger und Pagen aller Art, Männer, Frauen und Kinder usf., insgesamt über 100 Personen. Sie alle bilden die Krönungsprozession, die sich von einer Estrade rechts hinten nach links vorne auf einen unsichtbaren Hochaltar zubewegt. Ähnlich dazu ist der Einzug des Kaisers am Ende des 1. Akts von La Juive angelegt. Eugène Cicéri, der die Ausstattung dazu besorgte, hat den Zug zwischen der christlichen Kathedrale und dem Haus des jüdischen Goldschmieds im Bild festgehalten. Carl Gustav Carus, ein Augenzeuge der Aufführung beschreibt, wie sich
die Masse aus der Tiefe der gewaltigen Szene durch die Straße herauf, und dann wieder gegen den Vordergrund herabbewegte, um dann zwischen in der links sich eröffnenden […] Straße wieder zu verschwinden. Man glaubt kaum, wie eine solche ansteigende, fallende und dann wieder sich biegende Bewegung eines Zuges das Malerische desselben erhebt!38
Es sind diese Bewegungen von Massen in unterschiedlichen historischen Kostümen und in historischen Dekorationen, die die Geschichtsbilder scheinbar verlebendigen. Im Aufzug der Geschichtsbilder zieht die Vergangenheit als erfolgreich wiederbelebte, so hat es den Anschein, in die Gegenwart ein.
Das ist die Rolle der Sinnstiftung, die die lebenden Bilder der Geschichte in der Grand Opéra übernehmen. Sie vermitteln den kunstvoll verfertigten Anschein von metaphysischem Vertrauen in einer kontingenten Welt. Innerhalb dieses Horizonts ästhetisch induzierten Weltvertrauens aber sind starke, leidenschaftliche Gefühle am Werk. Und das, obgleich die bürgerliche Gesellschaft kein genuiner Ort für Leidenschaften und starke Gefühle ist.
Leidenschaften werden dagegen früheren Jahrhunderten zugeschrieben. Im Zeitalter des Barock sind sie auf wenige eindeutige und intensive Grundformen reduziert. So etwa in René Descartes’ Abhandlung Les passions de l’âme, (1649), in Charles Le Bruns, Direktor der Académie royale de peinture et de sculpture, normativen Vorgaben für den Ausdruck von Leidenschaften in der Malerei39 oder in den großen, eindeutigen Affekten der Opera seria. Seit der Antike wird in Abhandlungen über die Leidenschaften darauf hingewiesen, dass diese ob ihrer Maßlosigkeit kaum zu kontrollieren und daher gefährlich sind. Mäßigung wird deshalb empfohlen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters, wird, dem Gebot der Mäßigung aus Nützlichkeitserwägungen für den bürgerlichen Alltag folgend, anstelle von Leidenschaften die Kultivierung von schönen, sozialverträglichen Empfindungen und eine fortlaufende Verfeinerung und Differenzierung von allgemeinen und eindeutigen Gefühlen in einem konsistenten Charakter propagiert, der über einen Reichtum unterschiedlicher gemäßigter Empfindungen flexibel verfügt.40
Leidenschaftliche Gefühle sind aus dem von Rechenhaftigkeit und Askese geprägten bürgerlichen Alltag zur Hochzeit der Grand Opéra in der Julimonarchie verschwunden. Gerade deshalb wächst in gefühlarmer, leidenschaftsloser Zeit die Sehnsucht nach Exaltation und Außer-sich-Sein. Sie wird von der verdrängten Erinnerung an den revolutionären Enthusiasmus gespeist, der unter der Oberfläche des Alltagslebens auf seine Wiederkehr wartet. Angesichts der Verflachung und Disziplinierung der Gefühle bieten die in der Opéra kunstvoll nahegebrachten Schauplätze historischer Zeiten die Möglichkeit, an die Selbstelevation und Begeisterung, die die Revolution antrieb, an anderen Orten und in anderer Weise wiederanzuknüpfen. Die lebenden Geschichtsbilder der Grand Opéra in ihrer Erhabenheit und Monumentalität laden den verdrängten Enthusiasmus dazu ein, seine Triebkräfte auf sie zu richten und sie emotional zu besetzen. Die Sollizitation des Verdrängten durch die Bilder vergangener Pracht und Herrlichkeit – des Einzugs des Kaisers, der Krönung des Propheten zum König – verwandelt allerdings das Zielobjekt der Begeisterung. Gilt der revolutionäre Enthusiasmus der Selbstermächtigung der Revolutionär:innen, die die Zukunft selbst gestalten wollen, so zielt die leidenschaftliche Besetzung der lebenden Geschichtsbilder der Opéra auf die Macht eines Souveräns, der alle anderen unterworfen sind. In der Wiederkehr des Verdrängten verkehrt sich der Enthusiasmus der Revolutionär:innen in die Begeisterung für die Macht. Der aus dem eigenen Leben verdrängte Enthusiasmus kehrt in der Begeisterung für die Macht als eine den Begeisterten von einst – Akteur:innen, Sympathisierenden und Zuschauenden – fremd gewordene eigene Leidenschaft wieder. Es ist die Wiederkehr des revolutionären Enthusiasmus als Gespenst, als Symptom und als Fetisch. Gespenstische Existenz nimmt der Enthusiasmus an, weil er keinen realen Schauplatz in der Gegenwart findet, auf dem er erneut seine Kraft entfalten könnte, gleichwohl aber nicht erledigt, sondern unabgegolten im Sinne von Ernst Bloch. In Form eines Symptoms artikuliert sich die leidenschaftliche Begeisterung, weil sie als Verdrängte nicht unmittelbar im Zuge der Revolution, sondern, verschoben an einen anderen Ort, im Aufzug der Macht zum Ausbruch drängt. Zugleich wird die verdrängte Leidenschaft, die sich im Symptom äußert, zum Fetisch, d. h. zur Ersatzbefriedigung. Für das unerreichbare Objekt der Revolution müssen die Geschichtsbilder souveräner Macht stellvertretend herhalten. Das heißt aber: Die leidenschaftliche Begeisterung für und durch Geschichte, die sich an den Geschichtsbildern des ästhetischen Historismus in der Grand Opéra entzündet, ist nicht die ursprüngliche und authentische Leidenschaft der Dargestellten, der sängerdarstellerisch Agierenden und der Zuschauenden und Zuhörenden, sondern ein abgeleitetes und sekundäres Phänomen. Es ist Begeisterung von und für Fetisch und Symptom, es ist verstellte, fremde Leidenschaft.
Dem revolutionären Enthusiasmus wie der Begeisterung für die Macht ist gleichermaßen die Selbstelevation eigen. Zum einen als Selbstüberhöhung in einer realen Situation, die die Möglichkeit zum Handeln eröffnet, zum andern als immersive Identifikation und fiktive Teilhabe an der Macht. Die gefühlte Selbstüberhöhung der eigenen Person in der Identifikation mit der Macht erlaubt es, die jeweilige couleur locale, die dekorative Vergegenwärtigung ferner Zeiten und Räume in den Bühnenbildern der Grand Opéra, als exotisch Fremdes zu genießen, ohne Gefahr zu laufen, sich dabei selbst und seine Imago als souveränes Subjekt mit sicherer sozialer Stellung und Identität aufs Spiel zu setzen. Eine Leidenschaft des Genießens fremder Jahrhunderte und weit entfernter Welten in ihrer vermeintlichen Monumentalität, ihrem Pomp und ihrer Exotik trägt über die Erinnerung an gesellschaftliche Erschütterungen, Unsicherheit und Gewalt hinweg. Das leidenschaftliche Genießen des exotisch Fernen und Fremden inmitten des bürgerlichen Alltags kann als Vorgang der Verdrängung verstanden werden. Zugleich kehrt das Verdrängte auch hier an einem anderen Ort wieder: als kolonialistische Aneignung und Einverleibung fremder Leidenschaften. Dem »Genießen des Anderen«41 im Eintauchen in mittelalterliche (La Juive), frühneuzeitliche (Les Huguenots, Le Prophète), in süd- und außereuropäische (La Muette de Portici, L’Africaine) Lebens- und Gefühlswelten ist ein kolonialistischer Zug eigen: Das Fremde dient darin der Erweiterung, Überhöhung und Dekorierung des bürgerlichen Alltags und der prunkvollen Ausstattung des Gefühlshaushalts. Seine Aneignung in Gestalt des Genießens festigt die Identifikation mit dem gegenwärtigen Status quo – darüber hinaus mit der Perspektive auf dessen Festigung durch eine erneute kaiserliche Macht. Der ästhetische Historismus, dem die Geschichtsbilder der Grand Opéra huldigen, ist ein Spektakel zur Unterhaltung von, mit und durch Macht. Zugleich ist es das Spektakel der Leidenschaften. Ohne Spektakel keine Wiederkehr der aus dem Alltag verschwundenen Leidenschaften. Weil das Spektakel der Grand Opéra der Schau- und Spielplatz der Leidenschaften ist, ist es unhintergehbar. Es kann nicht beiseitegeschoben werden, um unter seiner Oberfläche einen wie auch immer gearteten ›wahren‹ Gehalt zu entdecken. Sondern der verstellte Ort und die verstellte Gestalt, in denen die Leidenschaften im Spektakel der Grand Opéra erscheinen, können nur an der Oberfläche selbst zur Kenntlichkeit entstellt werden. Dort zeigen sich die Träume der Zeitgenoss:innen und die Traumata ihrer Zeit als ineinander verschlungen. Die Grand Opéra erlaubt es, bis zu einem gewissen Grad, die Ängste der Gegenwart vom Verlust des sozialen Status und der drohenden »Herrschaft des Pöbels« auszublenden und die traumatischen Erfahrungen der Revolution, die sozialen Umbruch und Erschütterung ausgelöst haben, zu verdrängen. In der Identifikation mit der Macht und im Genießen des Fremden träumt sich das Bürgertum der Julimonarchie zurück in eine imaginäre Teilhabe an der Macht im grandeur des vergangenen Kaisertums des ersten Napoléon und voran in das Second Empire des dritten. Die Grand Opéra ist ein Apparat zur Erzeugung von Träumen. Aber den Träumen, so wird zu zeigen sein, sind die Traumata beigesellt.
5. Traumata. Fremdkörper der Gemeinschaft. Erinnerungen an die Revolution
Die Geschichtsbilder des ästhetischen Historismus und ihr Spektakel der Macht machen nur eine Schicht der vielschichtigen Grand Opéra aus. Die Lenkung der Wahrnehmung und Evokation der Leidenschaft für die Macht und des leidenschaftlichen Genießens des Fremden auf dieser Ebene werden unübersehbar konterkariert durch die Libretti, die traumatische Ereignisse der in die Gegenwart hineinragenden Vergangenheit aufrufen. Sie verzeichnen die konfrontativen, gewaltsamen Auseinandersetzungen mit religiösen, sozialen und ethnischen Gruppen, die als Fremdkörper der Gemeinschaft verstanden werden: Hugenotten, Juden und, als positive Stigmatisierung, exotisch Fremde. Die Bartholomäusnacht von 1572, das Blutbad an den französischen Protestanten, ein wiederkehrendes Trauma der französischen Geschichte, ist der Schauplatz von Giacomo Meyerbeers Grand Opéra Les Huguenots (1836). Fromental Halévys La Juive (1835) erinnert mittelalterliche Pogrome gegen die Juden zur Zeit des Konstanzer Konzils (1412 – 1418) vor dem Hintergrund der jüngst zurückliegenden Diskriminierung jüdischer Menschen zur Zeit der katholischen Restauration und des auch nach der Gleichstellung von 1831 anhaltenden Antisemitismus. Die Gewalt positiver Stigmatisierung wird aufgerufen in den exotischen Klischeebildern der schönen Jüdin Rachel in Halévys La Juive und der faszinierend fremden Afrikanerin Sélika in Meyerbeers L’Africaine (oder Vasco da Gama) (1865) – in beiden Fällen mit der entlarvenden Pointe, dass es sich weder um eine Jüdin noch um eine Afrikanerin handelt. L’Africaine, die posthum aufgeführte letzte Grand Opéra von Meyerbeer, folgt den Spuren des frühen kolonialistischen Blicks auf das Fremde. Bereits 1816 hatte Frankreich vier Fregatten zum Schutz der Kolonie Senegal nach Afrika geschickt, darunter die auf Grund gelaufene Fregatte Medusa42, 1830 hat ein Expeditionskorps mit der Kolonialisierung Algeriens begonnen.
Unaufgearbeitet sind auch die einschneidenden Erfahrungen der Gewalt von Revolution und Restauration, die Frankreich seit 1789 erschüttern. Sie kehren wieder in den Sujets der Grand Opéra, die auf revolutionäre Bewegungen und Ereignisse der Vergangenheit zurückgehen. Daniel-François-Esprit Aubers Grand Opéra La Muette de Portici (1828), Giachino Rossinis einzige Grand Opéra Guillaume Tell (1829) und Giacomo Meyerbeers Le Prophète (1849) greifen Erinnerungen an Aufstand und Revolution auf. La Muette de Portici liegt ein Volksaufstand der Neapolitaner:innen gegen die Fremdherrschaft der spanischen Habsburger 1647 zu Grunde. Dessen Anführer, Tommaso Aniello d’ Amalfi, genannt Masaniello, eine zentrale Figur auch in der Oper, übernahm im Anschluss daran für zehn Tage die Macht in der Stadt. Er wurde ermordet. Guillaume Tell hat den Befreiungskampf der Schweizer Kantone gegen die Habsburger im 14. Jahrhundert zum Gegenstand und geht auf Schillers Drama Wilhelm Tell (1804) zurück.43 Le Prophète von Meyerbeer greift, am Vorabend und zur Zeit der Februarrevolution von 1848, auf die sozialrevolutionär grundierte, apokalyptisch-chiliastische Bewegung der Wiedertäufer und ihre Machtübernahme in Münster 1534 zurück. Deren Protagonisten Jan Matthys und Jan van Leiden sind als Mathisen und Jean de Leyde, der kurzzeitige König von Münster, in die Oper eingegangen.
Soweit die Beleuchtung von historischen Fremdkörpern der Konfliktgemeinschaft und die Wieder-Holung revolutionärer Bewegungen in einigen bedeutenden Grands Opéras. Ihre librettistische, kompositorische und szenische Exposition heißt allerdings nicht, dass die Erinnerungen daran konsistent sind und vergessene oder verdrängte historische Wahrheiten ans Licht bringen. Die Wahrheit dieser historischen Abläufe, Ereignisse und Konstellationen samt der damit verbundenen Geschichte der Gefühle, Leidenschaften und Traumata sind allesamt verstellt. Sie erscheint nicht in der Stringenz einer historischen Erzählung, nicht in der wahrheitsgemäß-richtigen politischen Aussage, nicht in der Konsistenz von Charakteren und der Plausibilität von Personenkonstellationen. All das wird man in den Grands Opéras schwerlich finden.
Die Wahrheit des Traumatisch-Verdrängten kündigt sich eher an in einem Stolpern über die Ungereimtheiten der Handlung und dem verlangten Spagat zwischen der Intrigenhandlung und dem politischen Geschehen. Ihr Grund liegt im Abgrund zwischen dem privaten und politischen Konflikt. Die Verantwortung dafür wird Eugène Scribe zugeschrieben, aus dessen Feder alle Libretti mit Ausnahme von Rossinis Guillaume Tell stammen.44Wie eingangs beschrieben, entwickelt Scribe die Handlungen seiner Libretti aus den Intrigen der Opéra comique, die private Konflikte zum Gegenstand hat. Damit ist nicht gemeint, dass die Figuren nicht sozial und politisch determiniert wären oder dass sich Privates und Gesellschaftliches trennen und unabhängig voneinander betrachten und untersuchen ließe. Gemeint ist aber eine besondere Form der handlungsreibenden Intrige, die sich aus den Liebes-Wendungen eines sorgsam aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herauspräparierten familiär-privaten Bereichs speist. Ihr Kennzeichen ist ein Spiel des Verkennens und plötzlichen Wiederkennens, von Maskierung und Demaskierung, das eine Fülle von plötzlichen affektiv geladenen Wendungen und Kontrasten erlaubt – eines der Elemente, die Louis-Désiré Véron als unabdingbar für eine Grand Opéra hielt. Ein Beispiel dafür ist die Teilnahme des als jüdischer Maler Samuel verkleideten christlichen Fürsten Leopold, des Geliebten der vermeintlichen Jüdin Rachel, im 2. Akt von La Juive am Pessachfest im Hause des jüdischen Goldschmieds Éléazar und die Gefühlskatastrophen, die sich aus seiner Demaskierung im Fortgang des Akts ergeben.45 Vielleicht noch prominenter ist in Meyerbeers Les Huguenots die folgenreiche Verkennung Valentines, Tochter des katholischen Grafen und Hugenottenhassers de Saint Bris, durch den Protestanten Raoul, die er nach einem ebenso flüchtigen wie falschen Blick für die Geliebte des Grafen Nevers hält. Damit scheitert der Plan der Marguerite von Valois, der Reine Margot, die verfeindeten Parteien durch eine Heirat zwischen einem Hugenotten und einer Katholikin zu versöhnen. Erst im 4. Akt, wenn das Blutbad schon begonnen und alles zu spät ist, fällt die Binde von Raouls Augen.46
Katastrophale Wendungen durch Verkennung und Erkennung forcieren eine Gefühlsachterbahn kontrastierender Leidenschaften, wecken aber Zweifel an ihrer tatsächlichen Reichweite hinein ins politische Geschehen. Das gilt erst recht für die privaten Liebeshändel, die ins Große gesamtgesellschaftlicher Handlungsauslöser und Wirkungen sich auswachsen sollen. Aus dem Konfliktrepertoire der Opéra comique ebenso wie des drame lyriqueund des drame bourgeois bzw. bürgerlichen Trauerspiels stammt die bekannte Konstellation »Ein Mann zwischen zwei Frauen«. Die Auseinandersetzungen, die sich daraus ergeben, sollen die Handlung vorantreiben. Sie finden sich auch in den Grands Opéras von Scribe wieder. In Halévys La Juive steht Samuel/Reichsfürst Leopold zwischen der vermeintlichen Jüdin Rachel und der Prinzessin Eudoxie, der Nichte des Kaisers, in La Muette de Portici ist Alphonse, Sohn des spanischen Vizekönigs, ebenso der Prinzessin Elvire wie der stummen Fenella, Schwester des Aufständischen Masaniello, verbunden. Der Protestant Raoul in Les Huguenots von Meyerbeer irrlichtert zwischen Marguerite von Valois und Valentine einher. Jean, der Protagonist in Le Prophète, muss sich zwischen seiner Verlobten Berthe und seiner Mutter Fidès entscheiden und der Weltentdecker Vasco da Gama in L’Africaine ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu Inès, Tochter eines portugiesischen Admirals, und der von der Entdeckungsfahrt im Triumph mitgeschleppten Sklavin Sélika, die in Wahrheit eine indische Königin ist. Diejenigen, die in diesen Liebesgeschichten agieren, sind zwar in die historisch-politischen Zeitläufte und Parteiungen verstrickt, aber eher als Betroffene oder von der Geschichte Mitgeschleifte als aktiv politisch Handelnde. Dafür spricht auch, dass die Männer in diesen Liebes-Intrigen, Alphonse, Leopold, Raoul, Jean, Vasco da Gama, alles unheldische Helden, schwache, schwankende Charaktere sind. Es sind, mit einem anderen Wort, Vorläufer der modernen Helden.
Ersichtlich ist, dass die Liebeskonstellation zumeist durch soziale, religiöse und ethnische Entgegensetzungen politisch determiniert ist. Die Konflikte, die aus diesen privaten Konstellationen der handelnden Personen resultieren, reichen dennoch nicht aus, um politische Aktionen zu begründen und zu tragen. Der Vorwurf, die Grand Opéra betreibe die Privatisierung des Politischen, liegt daher nahe. Und trifft doch nicht zu. Denn den ihrer Liebes-Handlung oder anderen privaten Motiven Folgenden sind oft Gefährten beigegeben, die als direkte Vertreter politischer Positionen und Ideologien angesehen werden können. Marcel ist in Les Huguenots der Ur-Protestant und Katholikenfresser, der Raoul begleitet, in Le Prophète sind die drei Anabaptisten die eigentlichen politischen Akteure und Drahtzieher, die Jean zu manipulieren versuchen. Masaniello in La Muette de Portici, der den Aufstand der Neapolitaner:innen aus einem privaten Grund angezettelt hat,47 findet in Pietro das düstere Schattenbild des skrupellosen politischen Führers. Auch Kardinal Brogni auf der christlichen Seite und der jüdische Goldschmied Éléazar auf der anderen vertreten in La Juive aus Leid gewonnene unversöhnlichere, religiös-politischere Positionen als die mittleren Figuren der Liebesintrige Rachel, Eudoxie und Leopold. In L’Africaine schließlich wird das Liebesdreieck aus Inès, Vasco und Sélica von den beiden Scharfmachern Don Pédro und Nélusko flankiert.48
Diese politisch ausgeprägteren Begleitfiguren der Protagonist:innen ziehen Letztere ins politische Geschehen hinein, sind aber zugleich auch eingebunden in die private Intrigenstruktur. Sie sind deshalb letztendlich nicht in der Lage, die Kluft zwischen der privaten Liebeshandlung und den politischen Aktionen zu schließen. Wer aber ganz uneinholbar auf der anderen Seite der Intrigen steht, sind die Chöre der Volksmassen. Erstmals in der Geschichte der Oper gibt die Grand Opéra der Masse der Bäuer:innen und Fischer:innen, der kleinen Bürger:innen und einfachen Soldaten, den Katholik:innen und Protestant:innen, den Aufständischen, Rebellierenden, dem antisemitischen Pöbel und dem ressentimentgeladenen Mob breiten Raum. Nicht liebliche Gefühle sind es, die in den dynamischen, kurzen und drängenden Choreinsätzen hörbar werden, sondern wilde, ungezügelte Leidenschaften, die auf eine explosive Entladung zielen. Zwar gibt es auch Gesänge zu Tänzen, zur Begleitung der Arbeit und zur religiösen Erbauung, aber sie sind nur der Ausgangspunkt einer trügerischen Normalität des sozialen Lebens, die sich in Kürze in Streit, Aufruhr und Chaos verwandeln wird. Nur wenig Zeit liegt zwischen dem Chor der Landleute »La brise est muette«, der zu Anfang von Le Prophète den morgendlichen Beginn des ländlichen Alltags begleitet, bis die von den Anabaptisten aufgehetzten Bäuer:innen mit Heugabeln und Sensen bewaffnet und Gottes Namen auf den Lippen das Schloss des Grafen Oberthal stürmen wollen. »Du sang, du sang!« Blut, Blut fordern die wiedertäuferischen Massen im Lager vor Münster gleich zu Beginn des 3. Akts derselben Oper angesichts von Gefangenen, und fordern sich in jagendem Rhythmus und Tempo, immer zwei Sechzehntel auf dem ersten betonten Taktteil, auf, um deren Leichen zu tanzen. Im 3. Akt von Les Huguenots wird der Chor der Spaziergänger auf einem Platz am Ufer der Seine abgelöst durch den kriegerischen Chor hugenottischer Soldaten, der mit der sich anschließenden Litanei katholischer Frauen kontrastiert. Die in der Luft liegende Spannung zwischen den verfeindeten Lagern steigert sich im Fortgang des Akts durch die Intrige der Handlung gegen Raoul hindurch zur chorischen Konfrontation kampfbereiter katholischer und protestantischer Studenten, Soldaten und Frauen. Nur das Dazwischentreten der Königin kann das handgreifliche Aufeinanderlosschlagen der Verfeindeten verhindern. Schließlich zeugen von der Gewalt der chorischen Volksmassen der mitreißende Chor der aufständischen Neapolitaner:innen in hohem Tempo am Ende des 4. Akts von La Muette de Portici, die ihren Helden Masaniello feiern, und der Chor der Christen von Konstanz in La Juive, der die verhassten Juden vom 1. Akt an gern mehrfach verbrannt, in den See geworfen oder sonst wie umgebracht sähe.
Die Chöre der Grands Opéras artikulieren die affektive Gewaltbereitschaft und drohende manifeste Gewalt von Massenbewegungen, die das politische Handeln von Einzelnen unter Druck setzen und den Lauf der sich gerade vollziehenden Geschichte unkalkulierbar und unkontrollierbar machen. Hinzu kommt die hohe Beschleunigung der Ereignisse. Rossini noch nimmt sich in Guillaume Tell viel Zeit, um das Leben der schweizerischen Landsleute in all ihren Gruppen und in seiner Beschaulichkeit auszubreiten. In Aubers fast zur gleichen Zeit entstandenen La Muette de Portici herrscht, wie Gerhard Anselm unter Bezug auf den zeitgenössischen Kritiker Stefan Schütze ausgeführt hat, ein »Prinzip der Aufregung«49, das, in »scharf punktierten Rhythmen«, die Auber »in fast allen Sätzen der Oper verwendet«50, eine jagende Atemlosigkeit und hohe emotionale Wirkung entfaltet. Vom Tempo, mit dem in Le Prophète die ländliche Idylle in den Aufstand umschlägt, war bereits die Rede. Es setzt sich im weiteren Verlauf der Oper in rasch wechselnden kontrastiven Ereignissen fort. Rasant ist die Beschleunigung der Ereignisse im 3., 4. und 5. Akt von Meyerbeers Les Huguenots. Sie fällt umso mehr in die Sinne, als das Liebesgeständnis Valentines im 4. Akt ihr quasi unbewusst unterläuft und die Liebenden, bevor sie noch Zeit fänden, die anschließende Verwirrung ihrer Gefühle zu sortieren, von dem außerhalb des Zimmers sich bereits im Gange befindlichen Morden eingeholt und überrollt werden. In der präzisen Zeichnung des Unbeholfen-Unangemessenen, Flüchtig-Ortlosen und Anachronistischen der Liebeserklärungen51, die Meyerbeer großartig mit dem gleichzeitig ablaufenden Mordgeschehen verknüpft, entstellt sich das Trauma, das den Traum in der Grand Opéra wie ein Schatten begleitet. Als Kehrseite der Macht, die in der Grand Opéra gefeiert wird und die sich im 2. Akt von Les Huguenots im Schloss und Park der künftigen Königin Marguerite in der freundlichen Gestalt einer beabsichtigten Friedensstiftung zwischen den verfeindeten Katholiken und Protestanten durch die Hochzeit zwischen dem Protestanten Raoul und der Katholikin Valentin zeigt – als Kehrseite dieser gutgemeinten, gut erträumten Handlungs-Macht, der Geschichte in den Arm zu fallen und den Bürgerkrieg in letzter Minute zu verhindern, zeigt sich die nackte Ohnmacht der in Geschichte Verstrickten, der Geschichte Ausgelieferten.
Die Engführung des Liebesversuchs von Valentine und Raoul mit dem durch Religion legitimierten Morden enthüllt auf paradox-zugespitzte Weise den Abgrund, der zwischen den politischen Massenbewegungen und dem (Liebes)Leben der Einzelnen klafft. Beide haben miteinander nur insofern zu tun, als Erstere den Letzteren keine Zeit und Raum zur Entfaltung ihrer Beziehungen geben und sie gegebenenfalls auch zerstören. Der Furor der Volksmassen, der meist durch eine Gruppe von Verschwörern und Manipulatoren (die Anabaptisten bei Le Prophète), die Gruppe der Schwerterweihe um de Bris in Les Huguenots angestachelt wird, geht über das Leben der Individuen hinweg. Wenige Jahre nachdem Geschichte aufgeklärten Subjekten zur Gestaltung der Zukunft offen schien, sehen sich diese überrollt von der Dynamik sozialrevolutionärer und/oder reaktionärer Massen. Das Entsetzen darüber ist im Hiatus zwischen Liebesgeschichten und politischer Aktion verborgen. Es ist die traumatische Erfahrung erlittener Ohnmacht. Von diesem Trauma, der verstellten Grunderfahrung der Grand Opéra, werden die Ausbrüche der leidenschaftlichen Stimmen angetrieben.
Aus der Perspektive der privaten Konflikte und Intrigen hat Scribe die Libretti seiner Grands Opéras verfasst. Daher mag es kommen, dass die Übermacht der Aktionen der chorischen Massen über die Handlungen der Individuen prima vista mit einem negativen politischen Urteil verbunden ist. So konstruiert Scribe den Verlauf der Handlung leicht von einem reaktionären point de vue aus. Am auffallendsten in La Muette de Portici, wo ein edles Adelspaar – die Vergewaltigung Fenellas ist vergessen! – und ein chevaleresker Rebell, Masaniello, die Oberhand über den aufständischen Mob gewinnen. Auch Le Prophète kann als vernichtende Kritik an der Revolution gelesen werden. Allerdings treffen diese Lesarten nur eine Schicht der vielschichtig angelegten Grands Opéras. Im Fall von La Muette de Portici bliebe es sonst unverständlich, warum die Oper eine starke (wenngleich lange überschätzte) politische Wirkung auf die Revolution in Belgien ausüben konnte. Und auch Le Prophète erschöpft sich nicht, so wird zu zeigen sein, in reaktionärem Revolutionsbashing.
Die Ohnmacht des Einzelnen angesichts der in Bewegung geratenen Massen mag nur der betrauern, der an dessen Privilegierung eisern festhält. Der Schock über dessen Entmachtung in der Grand Opéra kündigt das Ende des Individuums an, das die Avantgarden des 20. Jahrhunderts zu Grabe tragen. Darin liegt die frühe Erfahrung der Moderne, die die Grand Opéra uns zuteilwerden lässt. Ebenso wie sie Einblick in die Anfänge des Populismus und Fundamentalismus bietet, die unserer Gegenwart erneut zu schaffen machen. Wie beides, die Einzelnen, die nicht länger Individuum, sondern Dividuum sind, und die Massen jenseits von Populismus und Fundamentalismus zu vermitteln wären, ist die Herausforderung unserer Gegenwart, die uns in der Grand Opéra begegnet.
Zwei grundlegende leidenschaftliche Erfahrungen sind es, die in den Bildern, Handlungen und in den Stimmen der Grand Opéra in verstellter Form am Werk sind. Der revolutionäre Enthusiasmus, der die alte Zeit anhalten will, um die neue Zeit aktiv zu gestalten. Und das Entsetzen über die Ohnmacht, dem Lauf der Geschichte in den Arm zu fallen. Beide Erfahrungen sind traumatisch und erscheinen daher nicht unmittelbar, sondern in anderer Gestalt und am anderen Ort. Der Enthusiasmus verkehrt sich in die Identifikation mit der Macht eines Einzelnen und das Genießen des Anderen in den spätmittelalterlichen Geschichtsbildern der Grand Opéra. Die verschüttete Erfahrung von Ohnmacht artikuliert sich stumm im Abgrund zwischen der privaten und politischen Handlung, gegen den die Stimmen der Protagonist:innen leidenschaftlich ansingen. Die Macht der Liebe, die sie behaupten oder die sie rächen wollen, scheint ihnen das letzte Refugium zu sein, welches die Erfahrung der Ohnmacht ungeschehen machen könnte. Revolutionärer Enthusiasmus verkehrt sich in die Identifikation mit der politischen Macht, erfahrene politische Ohnmacht in die Behauptung von Liebesmacht – das sind die beiden Grundoperationen der Verstellung sozialer Erschütterungserfahrung, die in der Grand Opéra zum Ausdruck kommen.
Den Handelnden der Grand Opéra sind die zu Grunde liegenden Leidenschaften in beiden Fällen fremd. Es sind für sie fremde Leidenschaften und sie erhalten keine Einsicht, dass es ihre eigenen, ihnen fremd gewordenen, ins Fremde verkehrten Leidenschaften sind. Die Zuschauenden und Zuhörenden hingegen erhalten in der Grand Opéra, besonders in der von Giacomo Meyerbeer, die Möglichkeit, den einstigen Enthusiasmus, die verdrängte Ohnmacht als das eigene Fremde wiederzuentdecken, es anzunehmen und mit ihm zu leben. Das ist eine transkulturelle Erfahrung für die Gegenwart, die Zukunft verspricht.
Die französische Grand Opéra des 19. Jahrhunderts stellt sich als ein Vexierbild dar. Auf den ersten Blick zeigt sie sich als Vergnügungsapparat zur Erzeugung visueller und emotionaler Sensationen für das städtische Publikum von Paris. In dieses Bild aber schreiben sich die Züge eines Seismographen ein, der die gesellschaftlichen Erschütterungen im Zeitalter der Revolutionen präzise verzeichnet. Die Schnittlinie beider Ansichten durchquert die Grand Opéra als »Kraftwerk der Gefühle«52. In ihm kehren die verdrängten Erfahrungen und Traumata von Terror, Umbruch und Rebellion als fremde Leidenschaften wieder. Sie bieten die Chance der Wiederaneignung und Transformation der in die Gegenwart ragenden Vergangenheit.
II Die Revolution (in) der Grand Opéra
Giacomo Meyerbeers Le Prophète
1. Karl Marx: Die Revolution als Theater der Wiederholung
Mit öffentlichen Protesten und Unruhen begann am 21. Februar 1848 die Februarrevolution in Frankreich. Sie führte zur Abdankung des Königs Louis Philippe und der Ausrufung der Republik, der Verabschiedung des allgemeinen Wahlrechts und anderer bürgerlicher Freiheitsrechte und zur Wahl einer verfassungsgebenden Nationalversammlung im April. An der sozialen Lage der Arbeiter:innenschaft änderte sich dadurch nichts. Mit dem Aufstand der Arbeiter:innen im Juni, ausgelöst durch die Schließung der arbeitgebenden Nationalwerkstätten, schien die bürgerliche Revolution in eine proletarische umzuschlagen. Die blutige Niederschlagung des Juniaufstands durch Armee und Nationalgarde, befohlen durch den Kriegsminister der Republik, Louis-Eugène Cavaignac, war der Startschuss für die Konterrevolution – in Frankreich und in ganz Europa. Am 10. Dezember 1848 wurde der Neffe Napoléons I., Louis Napoléon, mit großer Mehrheit zum Staatspräsidenten der Republik gewählt. Seinem Gegenkandidaten Cavaignac hatte das Massaker an der Arbeiter:innenschaft nicht geholfen. Gleich nach seiner Wahl bereitete der Staatspräsident Louis Napoléon den Staatsstreich vor, durch den er am 2. Dezember 1851 die diktatorische Macht an sich riss. Ein Jahr später ließ er das Second Empire und sich selbst zum Kaiser Napoléon III. ausrufen.
Karl Marx wartet in seinem Exil in London nicht ab, »bis der Kaisermantel endlich auf die Schultern des Louis Bonaparte«53 gefallen ist. Gleich nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 macht er sich an die Analyse der Geschichte, die von der Februarrevolution zur Diktatur geführt hat. Seine Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ist eine präzise Beschreibung der Halbherzigkeit der bürgerlichen Revolutionär:innen, die aus Angst vor den Ansprüchen der Arbeiter:innen die Konterrevolution in Gang setzen und die Diktatur in Kauf nehmen. Zugleich ist sie eine luzide Darlegung des neuen Verhältnisses zwischen einem populistischen Hasardeur und (Schau-)Spieler und der von ihm rhetorisch gelenkten Masse. Unter dem Stichwort des Bonapartismus hat sie Eingang gefunden in die Untersuchungen der nationalsozialistischen Massenbewegung. Aus der Perspektive der Hasardeur- und Schauspielernatur des Louis Bonaparte blickt Marx auf den Verlauf der Revolution von 1848 zurück, um sie mit der Großen Französischen Revolution von 1789 zu vergleichen. Der Vergleich fällt für die erstere nicht positiv aus.
Hegel bemerkt irgendwo, dass alle weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Causidière für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848 – 1851 für die Montagne von 1793 – 1795, der Neffe für den Onkel.54
Die Revolution von 1848 ist nur noch eine »Farce« gegenüber der »Tragödie« der Französischen Revolution von 1789. Bemerkenswert ist, dass Marx gleich zu Beginn seiner Abhandlung historische Ereignisse und historisches Handeln in Präsentations- und Anschauungsformen von Gattungen des Theaters vorstellt. Das ist, wie das Folgende zeigt, mehr als eine metaphorische Redewendung.55
Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789 – 1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum […]. Camille Desmoulins, Danton, Robespierre, St. Just, Napoleon, die Heroen, wie die Parteien und die Masse der alten französischen Revolution, vollbrachten in dem römischen Kostüme und mit römischen Phrasen die Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft.56
Marx relativiert zunächst das enthusiastische Bild einer aufgeklärten Menschheit, die die Geschichte selbst in die Hand nimmt und gestaltet. Unter dem Alpdruck der Vergangenheit stellt sich der Augenblick des eingreifenden revolutionären Handelns als Augenblick einer Krise dar. Es ist der Moment eines Rückgriffs auf Geschichte in Form einer theatralen Wiederholung durch Kostüm, Geste, Haltung, Pose und Rede.
Auf wenigen Seiten entwirft Marx die Grundzüge eines Theaters der Wiederholung, das die gängige Konstruktion einer linear fortschreitenden Geschichte unterläuft. Darunter auch die eigene, in Das kommunistische Manifest beschriebene Geschichte der Klassenkämpfe, die sich durch den Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durch verschiedene Gesellschaftsformen hindurch zur klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus hin entwickelt. Zwar findet diese Konstruktion auch in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte in der Unterscheidung von bürgerlicher und proletarischer Revolution ihren Niederschlag. Aber sie wird überlagert und überschrieben von der Faszination des Zusammenhangs von Krise, Wiederholung und Theatralität, der Marx beim Schreiben der Geschichte aufgeht. Marx betont zunächst die Abhängigkeit der historischen Akteur:innen von Umständen, die sich ihrer Kontrolle entziehen und problematisiert damit grundsätzlich die Möglichkeit souveränen historischen Handelns. Verschärfen sich die Konflikte innerhalb der vorgefundenen Verhältnisse zur Krise, so eröffnet sich ein kurzer Augenblick möglichen Handelns, der unlösbar mit der Unmöglichkeit eines Neuanfangs verbunden ist. Die Krise der Verhältnisse wiederholt sich als Krise des revolutionären Handelns. Die Kontinuität der Geschichte ist außer Kraft gesetzt, die Revolutionär:innen haben, wie Harold Rosenberg klarsichtig feststellt, die drohende Katastrophe und einen leeren Raum der Möglichkeiten vor sich. »Hence anything may be allowed to happen except the expected. In crisis men are dazed by the elimination of choice and the need to choose the unknown.«57 In diesem offenen Augenblick der Lähmung, als den sich die Krise des revolutionären Handelns beschreiben lässt, beschwören die Handelnden »die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf«. Aus der Tiefe der Vergangenheit, von den Toten, steigt der Held der römischen Republik empor. Der wiederauferstandene Römer, blind für die Ambivalenz und Kontingenz der Gegenwart, wird zum zeitlos-mythischen role model für die Agierenden im Revolutionstheater. Gerade seine Entrücktheit gegenüber den Niederungen und Parteiungen der geschichtlichen Welt macht seine Gestalt zum Medium eines Enthusiasmus und Pathos, durch die die Revolutionär:innen über sich selbst hinauswachsen und fähig zum Handeln werden. Wie der Held der antiken Tragödie täuschen sie sich allerdings über die Ziele ihres Handelns. Die Gladiatoren der Revolution fanden, so Marx,
in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaften auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten.58
Wie der Theaterheros sind die revolutionären Akteur:innen von Verblendung umgeben, die erst im Augenblick der Anagnorisis, des blitzhaften Verstehens des Nichtverstehens, abfällt – eine Erfahrung, die weniger den realen Hero:innen des Revolutionstheaters als den (späteren) Betrachter:innen zuteilwird.
Bewusst verbindet Marx das Theater der Wiederholung, das die Revolutionär:innen von 1789 aufführen, mit der Gattung der Tragödie. Mit dieser Zuschreibung will er die Große Französische Revolution abgrenzen von der Revolution von 1848, die er als Farce versteht. Den Unterschied zwischen Tragödie und Farce versucht Marx geschichtsphilosophisch zu begründen. Die erste Wiederholung in Gestalt der Tragödie steht im Dienste der Geschichte als Geschichte der Klassenkämpfe. Qua Übertreibung, Heroismus59 und Verblendung bewirkt diese Wiederholung die geschichtliche »Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft«.60 Die zweite Wiederholung als Farce, das heißt die Wiederholung der Wiederholung, erfüllt für Marx genau den entgegengesetzten Effekt, die »Aufgabe der Zeit«, nämlich die Forttreibung der bürgerlichen in die proletarische Revolution, zu verhindern. Weil sie damit zurückfallen hinter die Zeit, die Marx zufolge die proletarische Revolution verlangt, sie dadurch die Zeit nicht mehr auf ihrer Seite haben und unzeitgemäß sind, wirken die Protagonist:innen und Antagonist:innen der Revolution von 1848 lächerlich, tritt das outriert Theaterhafte und Schmierenkomödiantische grell hervor, das bei der Wiederaufführung der Römer-Tragödie, sei’s durch Verblendung, sei’s geflissentlich, übersehen wurde.
Misstraut man der geschichtsphilosophischen Zeitachse, die Marx’ Unterscheidung von Tragödie und Farce stützt, kann man die Wiederholung als Tragödie und die Wiederholung als Farce als zwei nicht voneinander zu trennende Momente der Wiederholung begreifen: Die erhabene und die lächerliche, die pathetische und die ironisch gebrochene, die blinde und die reflektierte Wiederholung bedürfen einander und beziehen sich wechselseitig aufeinander. Unterstreicht die tragische Wiederholung die Abhängigkeit der Gegenwart von der Vergangenheit, ihre Wiederkehr und Wiederholung im Handeln der Akteur:innen sowie deren theatrale Verkleidung, Selbstüberhebung und Selbstverkennung, so ermöglicht die Wiederholung dieser Wiederholung als Farce erst die Erfahrung und spielerische Reflexion solchen Geschehens. Erst die Farce, die sich gegen den geschichtsphilosophischen Imperativ des An-der-Zeit-Seins stemmt und ihr »Alles-Theater« und »Nichts-als-Theater« schamlos herauskräht, befreit die tragische Wiederholung aus der Indienstnahme durch die Geschichtsphilosophie und liefert die mythische Dauer der »vorsündflutlichen Kolosse«, als die Marx die wiedererstandenen »Brutusse, Gracchusse, Publicolas«61 der Französischen Revolution beschreibt, der historischen Zeit nach dem Ende der Geschichtsphilosophie, der Zeit der Endlichkeit aus. In deren Licht erst weicht die Verblendung des tragischen Handelns und die Figuren, Elemente und Aktionen der tragischen Wiederholung zeigen sich als Versatzstücke des Theaters: Rollen, Dramaturgien, Posen und Attitüden, Verkleidungen, Masken und Requisiten. Die geschichtsmythischen Ideen, denen sie als Gefäß und Mittel dienten – die römische Tugend, die Tapferkeit, der Stoizismus – sind um ihre Geltung und ihren Herrschaftsanspruch gebracht. Aber als hinfällige und der Zeit der Endlichkeit ausgesetzte sind sie frei, die Spuren und Überreste einstigen Sinns in das Spiel der Wiederholung einzubringen. Die Exposition des Theaters der Wiederholung, die in der Wiederholung der Wiederholung, in der Farce stattfindet, eröffnet einen Spiel-Raum möglicher Wiederholungen, ein Werden von Sinn auf die offene Zukunft hin.62
In Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ist, auch gegen Marx’ eigene Intentionen, eine andere Vorstellung von Geschichte angelegt als die Geschichtsphilosophie und die dialektische Konstruktion des historischen Materialismus vorsehen.63 Er bewegt sich damit in einem Denken, das die Anstrengungen des ästhetischen Historismus, Geschichte als lebendige Präsenz und Essenz (in) der Gegenwart zu behaupten, durch den Verweis auf die Theaterhaftigkeit der Wiederholung von Geschichte konterkariert. Es versteht Geschichte als nachträgliches und maskeradenhaftes Geschehen, als fortgesetzte Akte der Wiederholung, als kontingente Abfolge und Ansammlung sekundärer Aktionen und Vorgänge.64
Mit der Französischen Revolution setzt sich die Vorstellung von der Geschichte als Drama und Schauspiel durch.65 Georg Büchner hat in Dantons Tod (1835) die Theatralik der Revolutionäre in ihren Römerposen, heroischen Fratzen und Metaphern kritisch ausgestellt. 1843 prognostiziert Sören Kierkegaard, dass das Phänomen der Wiederholung künftig eine sehr wichtige Rolle in der Philosophie spielen wird: »Die Wiederholung ist die neue Kategorie, welche entdeckt werden soll.«66 »Unser ganzes Zeitalter«, resümiert Michel Foucault Friedrich Nietzsche, »hat den Charakter einer Theateraufführung; ohne Denkmäler, die unser Werk und unser Eigentum sind, leben wir inmitten fremder Dekoration.«67 Mit Nietzsche wird die Theatermetapher der Geschichte prinzipiell. Geschichte, Wiederholung und Theatralität treten in einen wechselseitigen Bedingungszusammenhang. Geschichte kann als Theater der Wiederholung verstanden werden, die theatrale Aktion ist ein Akt der Wiederholung, die Wiederholung ist ein Vorgang der Theatralität.
Gleichwohl ist zu unterscheiden zwischen dem Realtheater der Wiederholung in der geschichtlichen Wirklichkeit, z. B. der blutigen »Farce« der Revolution von 1848, während der allein bei der Niederschlagung des Juniaufstands 5000 Arbeiter:innen erschossen und an die 11 000 ins Gefängnis geworfen wurden, und dem Spiel-Raum des Theaters, z. B. dem der Grand Opéra, in dem das Theater der Wiederholung kraft seiner Virtualität den Beteiligten zu neuen Erfahrungen und Einsichten verhelfen kann.
2. Meyerbeer, Le Prophète und die Revolution von 1848
Als die Februarrevolution in Paris mit Protesten und Unruhen beginnt, die sich am 23. und 24. Februar zu Straßen- und Barrikadenkämpfen ausweiten, ist Giacomo Meyerbeer in Paris und sitzt an der Fertigstellung seiner Oper Le Prophète. Zugleich nimmt er Anteil an den revolutionären Ereignissen, die sich auf der Straße abspielen. In seinem Tagebuch vermerkt er dazu unter dem 23. Februar:
Mit ziemlich gutem Erfolg an der neuen Stretta der Prêche im 1. Akt gearbeitet. Den übrigen Teil des Tages auf der Straße zugebracht, den Gang der Unruhen zu beobachten. Die Nationalgarde erklärt sich ebenso für die Wahlreform und verhindert die Linientruppen, auf das Volk einzuhauen. Gegen Mittag verbreitet sich die Nachricht, dass der König das Ministerium Guizot abgedankt habe und die Wahlreform bewillige. Großer Jubel: alles scheint glücklich beendiget. Abends aber geht das Spektakel wieder los. Vor dem Ministère des affaires étrangères feuert das Militär auf das Volk, und viele Opfer fallen. Was dazu Veranlassung gegeben hat, weiß ich bis jetzt nicht. Diner & Soirée bei Vatel, dem Direktor der italienischen Oper.68
Das ist nicht das Zeugnis eines Engagiert-Beteiligten, aber hier äußert sich auch nicht ein Parteigänger der Reaktion. Aus Meyerbeers Tagebucheintrag begegnet uns der Blick eines eher mit den revolutionären Ereignissen sympathisierenden Angehörigen des Großbürgertums, der sich gleichwohl davon nicht von seinen alltäglichen Aufgaben – Komponieren, gesellschaftliche Verpflichtungen – abhalten lässt. Dennoch verrät der Eintrag ein großes Interesse an den Vorgängen selbst und am Verhalten der beteiligten Parteien und Kräfte, was sich auch daran zeigte, dass er wiederholt an Versammlungen der revolutionären Klubs teilnahm. Der Tagebucheintrag verzeichnet mit impliziter Zustimmung die Zusicherung der Wahlrechtsreform und die Abdankung François Guizots ebenso wie das Verhalten der Nationalgarde, die verhindert, dass das Militär die Arbeiter:innen niederschlägt. Er hält das erneute Schießen des Militärs am Abend fest und die Arbeiter:innen, die ihm zum Opfer fallen, auch wenn der Ausdruck »Spektakel« dafür eine innere Distanz zu den Vorgängen andeutet, für die er bis dahin keine Ursache angeben kann. Aus all dem spricht die Haltung eines genauen Beobachters, der den Ereignissen auf den Grund gehen will, indem er Abstand zu ihnen hält. Es ist die Haltung eines Künstlers, dem das Beobachtete und Durchschaute zum Material wird, das er ins Werk einarbeitet und transformiert. Der Hinweis auf die »Stretta der Prêche«, an der Meyerbeer am selben Tag »mit gutem Erfolg« gearbeitet hat, bezieht sich auf eine Szene, die den 1. Akt der Oper Le Prophète dominiert: Es ist die Predigt, mit der drei revolutionär-chiliastische Wiedertäufer des 16. Jahrhunderts, Zacharie, Jonas und Mathisen, die in der Leibeigenschaft gefangenen und Frondienste leistenden Bauern so lange agitieren und aufstacheln, bis sie bereit sind, die Burg ihres Zwingherrn zu stürmen. Eine Affinität zwischen dem Aufstand der Bauern in der Oper und den revolutionären Ereignissen auf den Straßen von Paris ist nicht zu leugnen. So wurde denn Le Prophète bei der Uraufführung am 16. April 1849, Louis Napoléon war schon seit fünf Monaten Präsident der Republik, als aktueller Kommentar zur jüngst stattgehabten Revolution verstanden.
Das aber trifft so nicht zu, das zeigt die Vorgeschichte der Oper. Bereits 1841 war die erste Partitur abgeschlossen, 1843 sollten die Proben an der Opéra beginnen. Der Plan zerschlug sich wegen Differenzen Meyerbeers mit dem neuen Direktor der Opéra, Léon Pillet, über die Besetzung der Rollen. Erst im März 1848, in der ersten Phase der Revolution, wurde unter neuer Direktion der Vertrag mit Meyerbeer über die von ihm gewünschten Sängerinnen und Sänger geschlossen. Weit zurück reicht auch die Arbeit am Libretto zwischen Scribe und Meyerbeer. Bereits 1831 taucht die Figur Jean von Leydens, des Protagonisten der Oper, in einem Plan von Scribe auf. Sie geht zurück auf eine Stelle in Voltaires Essay sur les moeurs, die von einem Jean (Jan) von Leyden (1509 – 1536) berichtet, der sich 1534 in Münster zu einem Propheten-König ausrufen ließ und Polygamie und Gütergemeinschaft einführte. Das Täuferreich zu Münster von 1530 bis 1535 war von kurzer Dauer, aber gewaltvoll und blutreich. Es war aus einer radikalen Abzweigung des Protestantismus Zwinglis hervorgegangen, deren Anhänger sich als (Wieder-)Täufer oder Anabaptisten bezeichneten und auf die apokalyptisch-chiliastische Herrschaft eines Himmelreichs auf Erden vor der Wiederkunft Christi hinarbeiteten. Unter dem Zustrom von Täufern aus den Niederlanden und durch eine Radikalisierung der protestantischen Bewegung in Münster selbst schien dieses Reich mit der Herrschaft des Propheten-Königs Jan von Leyden 1534 gekommen zu sein. Parallel dazu aber wurde Münster von Fürstenheeren beider Religionen belagert und 1535 eingenommen. Jan von Leyden wurde 1536 mit zwei Gefährten auf dem Marktplatz zu Tode gefoltert.
Der erste Plan zu einem Libretto von Scribe orientiert sich entlang der Figurenkonstellation und privaten Liebesintrige eines pièce bien faites. Es sieht die Parallelfigur eines Conrad zu Jean vor, der im Mittelpunkt der Ereignisse steht und, ähnlich wie Pedro in La Muette de Portici, eindeutig negativ gezeichnet ist. Aus Scribes eindeutig und einseitig reaktionären Perspektive auf revolutionäre Bewegungen ist in der fertiggestellten Oper durch die kontinuierlichen Änderungswünsche Meyerbeers und seine Mitarbeit am Libretto gerade das Eindeutige und Einseitige der frühbürgerlich religiös-sozialrevolutionären Geschichte verschwunden. An dessen Stelle sehen wir das Mehrdeutige, Schillernde einer gleichwohl bis ins Letzte durchmotivierten Handlung, die sich in einem ersten Anlauf so erzählen lässt:
1. Akt. Ländliches Erwachen in einem holländischen Dorf an der Maas. Hirten spielen auf der Schalmei, Bauern und Müller frühstücken. Eine junge Frau, Berthe, freut sich auf das Wiedersehen mit ihrem Geliebten. Dessen Mutter, Fidès, kommt, um sie abzuholen in die Stadt Leyden, wo ihr Geliebter, Jean, eine Schankwirtschaft betreibt. Doch die Idylle trügt. Die liebliche Szenerie ist zugleich der Ort einer harten feudalen Gutsherrschaft. Über dem Dorf thront die Zwingburg des Feudalherrn Oberthal, die die unten im Tal arbeiten müssen, sind seine Leibeigenen, auch Berthe, die für die Verlobung die Erlaubnis ihres Herrn benötigt. Die Lage der Arbeitenden birgt sozialen Zündstoff. Deshalb stößt die Aufforderung der drei plötzlich auftauchenden Anabaptisten Jonas, Mathisen und Zacharie, sich der sozialrevolutionär chiliastischen Heilsbewegung anzuschließen (»Ad nos ad salutarem undam«) und gegen ihre Herrschaft aufzustehen, sofort auf fruchtbaren Boden. Die Anabaptisten agitieren, die Bauern revoltieren. Aufstand. Mit dem Erscheinen von Oberthal und seiner Soldateska bricht die Revolte jedoch rasch zusammen. Der Graf verweigert die Verlobung Berthes mit Jean und nimmt Berthe und Fidès gefangen. Die Wiedertäufer und ihre Heilsmelodie kehren am Ende des Akts wieder, am Übel der Herrschaft hat sich nichts geändert, die soziale Situation ist nach wie vor reif für den Aufstand. Das gilt es bei der Beurteilung der folgenden Ereignisse im Auge zu behalten.
2. Akt. In Leyden wartet Jean auf die Ankunft seiner Geliebten und seiner Mutter. Die drei Anabaptisten, die in seiner Schenke gelandet sind, verblüfft seine Ähnlichkeit mit einem Porträt des in Münster verehrten Königs David. Als sie ihn ansprechen, erzählt er ihnen von einem Traum, in dem er zum Gottkönig erhoben, danach aber verdammt und in Satans Reich gestürzt worden sei. Die Anabaptisten sehen in Jeans Traumerzählung das Potential für charismatisches Führertum und wollen Jean bewegen, als messianische Leit- und Erlöserfigur der gerechten Sache voranzugehen. Jean lehnt ab, indem er sich jenes einfache, ländlich-idyllische Leben mit Berthe imaginiert, dem die sozialen Disruptionen des 1. Akts den Boden entzogen haben. Einbruch der Wirklichkeit: Die Tür fliegt auf, herein Berthe, die vor Oberthal fliehen konnte, der ihr mit seinen Soldaten auf dem Fuß folgt. Der Graf verlangt die Auslieferung Berthes, andernfalls tötet er Jeans Mutter. Ohne zu zögern, stößt Jean Berthe von sich und opfert die Geliebte für die Mutter. Danach ist er reif für die Versprechungen der Wiedertäufer. Er übernimmt die Rolle des Propheten, weil er darin die Möglichkeit sieht, sich an Oberthal zu rächen. Der Preis dafür ist, jedem Kontakt mit der Mutter abzuschwören, der Prophet gehört dem Volk und hat keine irdischen Bindungen.
3. Akt. Nach dieser ausführlichen Exposition, die sich über zwei Akte erstreckt, ist die weitere Handlung schneller erzählt. Im Feldlager der Wiedertäufer vor Münster zeigen sich Jonas, Mathisen und Zacharie als die politischen Strippenzieher, die auf eigene Rechnung arbeiten und sich des Propheten nur als Marionette bedienen. Nachdem aber ein von Mathisen ohne Jeans Wissen befehligter Angriff auf Münster fehlgeschlagen ist, droht eine Revolte gegen die Führung. Jean, der schon abgeschrieben war, erfährt von dem gefangen genommenen Oberthal, der verkleidet zu seinem Vater, dem Kommandanten von Münster wollte, dass Berthe, die ihrem Peiniger erneut entkommen konnte, in Münster sein soll. Dadurch beflügelt nimmt er erneut die Rolle des Propheten an und wendet die Lage durch eine von Harfen begleitete Vision des geöffneten Himmels samt Engeln und dem harfespielenden König David. Ihm folgt der Prophet nach mit einer triumphalen Hymne im Stil eines religiösen Oratoriums von Georg Friedrich Händel, die seine Anhänger in Begeisterung versetzt. Zu diesem enthusiastischen Augenblick geht die sogenannte »Prophetensonne« auf, das erste elektrische Licht auf einer Opernbühne in Europa.
4. Akt. In der von den Wiedertäufern eingenommenen Stadt Münster stöhnen die Bürger:innen über die Abgaben an den Propheten. Fidès, die bettelt, begegnet Berthe und erklärt ihr, dass Jean tot ist durch die Schuld des Propheten. Berthe schwört, den Tod Jeans zu rächen und den Propheten zu töten. Szenenwechsel: Im Dom lässt sich Jean zum Propheten-König krönen. Als seine Mutter in ihm ihren Sohn erkennt und öffentlich beschuldigt, seine Mutter zu verleugnen, droht der Glaube der Anhänger:innen an die Göttlichkeit des Propheten ins Wanken zu geraten. Wenn sich die Menge gegen ihn wendet, ist sein Leben und das seiner Mutter in Gefahr. In einem Theater des Exorzismus, in dem Jean vorgibt, seine von Dämonen besessene Mutter zu heilen, zwingt Jean Fidès öffentlich zu leugnen, dass er ihr Sohn ist.
5. Akt. Währenddessen hat sich der kaiserliche Belagerungsring um Münster zugezogen. Um ihre eigene Haut zu retten, versprechen die drei Anabaptisten die Auslieferung des Propheten. Im Kellergewölbe des Schlosses, in dem Fidès eingeschlossen ist, kehrt die Mutter den Spieß gegenüber der Szene im Dom um und fordert von Jean, seiner Macht und der Rolle des Propheten zu entsagen, um Gnade für seine Missetaten zu finden und von ihr davon freigesprochen zu werden. Hinzu kommt Berthe auf der Suche nach dem Propheten, um ihn zu töten. Sie trifft auf Jean. Kurze Freude des Wiedersehens, bis sie erfährt, dass Jean selbst der Prophet ist. Daraufhin bringt sie sich um, weil sie ihn immer noch liebt, diese Liebe aber nicht mehr rechtfertigen kann. Für Jean ist der mütterliche Freispruch danach nutzlos geworden. Er lässt die Tore des Schlosses verschließen und das in den Gewölben gelagerte Schwarzpulver anzünden, um auf einem sardanapalischen Abschlussbankett sich, seine Mutter und die ganze Welt in die Luft zu sprengen.
Wie steht diese Episode aus der Geschichte der sozialrevolutionär-religiösen Bewegungen zur Zeit der Uraufführung der Oper zu der Revolution von 1848/49? Der Rückgriff auf die faszinierende Figur des Propheten-Königs Jan von Leyden birgt jede Menge Sensationen aus dem Gemisch von Rebellion und quasi-göttlicher Macht. Der Umschlag von Rebellion in autoritäre Herrschaft lässt sich auf den ersten Blick als eine Absage an Rebellion und Revolution und Warnung vor deren bösem Ende lesen. Auf den zweiten Blick wird man sich erinnern, dass der soziale Grund des Aufstands, die Ungerechtigkeit der sozialen Grundherrschaft, unverändert fortbesteht und in der Oper nicht desavouiert wird. Mit der Figur des charismatischen Führers tritt aber eine moderne Gestalt ins Licht der Öffentlichkeit, der es gelingt, die Erniedrigten und Beleidigten durch ein im Ursprung religiöses, dann säkularisiertes Heilsversprechen affektiv zu fesseln und dem eigenen Machtinteresse und dem der herrschenden Klasse dienstbar zu machen. Die Figur dieses Führers ist vorgeprägt, etwa in dem römischen Volkstribunen Cola di Rienzo (1313 – 1354) – in Richard Wagners Oper Rienzi kehrt sie 1842, fast zehn Jahre vor Le Prophète wieder – und im Bußprediger Girolamo Savonarola (1452 – 1498), der im Florenz der Renaissance während seiner kurzen Herrschaft 1494 bis 1498 gegen die Eitelkeit der Welt zu Felde zieht. Beide, Rienzo und Savonarola, sind Zeugen in Max Horkheimers Studie über die Ideologie des populistisch-charismatischen Führertums Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters, die 1936 unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Massenbewegung entstanden ist. Der Prophet Jean von Leyden in Meyerbeers Oper gehört, bei allen Unterschieden im Einzelnen, unter diese modernen populistischen Führergestalten. Im Vergleich zum Propheten in Voltaires Tragödie Mahomet, der nur ein Betrüger und Manipulator ist, und anders auch als der gerissene Hallodri und Hasardeur Louis Napoléon, der nur den Mythos seines Onkels geschickt einzusetzen weiß, ist Jean in Le Prophète eine spannendere, weil sozialpsychologisch präziser ausgeleuchtete Gestalt. Scribe gegenüber besteht Meyerbeer darauf, dass Jean nicht als Betrüger erscheint, das würde nur Abscheu erregen oder als einer, der aus privaten Motiven auf Rache aus ist. Damit wäre er zwar entschuldigt, aber nicht von Interesse. Meyerbeer will ihn stattdessen als einen Exzentriker gezeichnet sehen, der sich Träumen und Visionen hingibt und damit selbst von der anabaptistischen Rhetorik gefangen genommen werden kann.69
Dass in die Figur des Propheten von Meyerbeer alle drei Motive und Verhaltensweisen eingehen, hebt das Moderne seiner Wirkung im dreifachen Sinne hervor: Zum einen wirkt er als ideale Resonanzgestalt der Wünsche, Hoffnungen und Leidenschaften der Massen, die er ernst nimmt, aufnimmt und verstärkt an diese zurückgibt. Von größter Bedeutung ist dabei ein Heil versprechendes Bild, eine überirdisch-übermächtige Führer- und Erlöser-Gestalt oder der Mythos eines gelobten Landes bzw. der Wiederkehr eines Goldenen Zeitalters. Bild, Gestalt und Mythos bewirken eine starke affektive Bindung an den charismatischen Führer, auch entgegen den eigenen (materiellen) Interessen der Geführten. Der Kulminationspunkt der Verbindung zwischen prophetischem Führer und seinen Anhängern ist in Le Prophète der Triumphgesang Jeans »Roi du ciel et des anges«: »Herr dich in den Sternenkreisen / will ich singen, will ich preisen, / wie dir Davids Harfe klang.« Nichts wird darin gesagt über die konkrete Situation der Belagerung Münsters und den bevorstehenden Sturm auf die Stadt. Scheinbar abgehoben vom realen Geschehen schlüpft der Prophet ins Gewand des Königs David, des siegreichen biblischen Heerführers. Die religiöse Einkleidung und Überhöhung des Geschehens wird emotional befeuert durch den Rückgriff auf den Oratorienstil Händels. Meyerbeer hat dazu Partituren der Händel’schen Oratorien Das Alexanderfest (1736) und Josua (1747) studiert.70 Das Ergebnis von Meyerbeers Wiederholung und Transformation Händels ist eine mitreißende Verbindung zwischen religiöser Ekstase und soldatischem Marschtritt, deren verführerischer Wirkung man sich nur schwer entziehen kann.
Eine zweite Wirkung bezieht der Prophet Jean aus der (auch von Verachtung durchzogenen) Faszination des kühlen Kalkulators und Inszenators der heilsgeschichtlichen Massenbewegung, der selbst ein wenig über den Bann hinausblickt, unter dem er steht. Sie zeigt sich im rhetorisch-strategischen Geschick, mit dem er die Meuterei der Soldaten im Feldlager abzuwenden weiß, und im Theater des Exorzismus, mit dem er Fidès in der Krönungsszene im Dom zur Verleugnung ihrer Mutterschaft zwingt. Und auch der angesprochene Triumphgesang am Ende des 3. Akts stellt mit der virtuosen Selbstfeier seiner Kadenzen und hohen Pianissimo die künstliche Gemachtheit der vorwärtstreibenden Ekstase aus.71
Zum Dritten seiner Wirkung aber kann Jean ans Mitleid für ein Opfer appellieren, dem das Feudalregime mit der Verschleppung von Geliebter und Mutter durch Odenthal übel mitgespielt hat. Diesen Willkürakt zu rächen und sich mit Berthe und Fidès wiedervereint zu sehen, ist das von Meyerbeer und Scribe genau herausgearbeitete Motiv, das Jean als Propheten nach Münster führt. Dennoch erschöpft sich die Figur Jeans nicht in dieser Motivation. Seine Aktualität zieht sie aus der Überlagerung und Verschichtung der Ebenen seiner Wirkung.
Was immer die Intentionen von Scribe und Meyerbeer gewesen sein mögen, mit dem Auftritt der vielschichtigen Figur des Jean von Leyden aus der frühbürgerlichen Täuferbewegung sind sie 1848/49 auf der Höhe der Zeit, wenn nicht ihrer Zeit voraus. In einer sozialrevolutionären Situation haben sie das Modell eines charismatischen Führers einer populistischen Massenbewegung geschaffen, das bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Es ist das Modell, das seitdem in unterschiedlichen Varianten den Verlauf von Revolutionen weltweit bestimmt. Die Attraktivität dieses Modells in der Wirklichkeit anzuerkennen heißt nicht, sich von den guten Gründen zu verabschieden, die damals wie heute revolutionäre Veränderungen notwendig und wünschenswert machen. Aber es heißt, das Modell einer von einem charismatischen Führer initiierten und gelenkten populistischen Erhebung aufzugeben, das heute endgültig zu einer Domäne der Gegner:innen einer freiheitlichen Demokratie geworden ist. Stattdessen wäre nach anderen Praktiken des kulturellen und politischen Handelns Ausschau zu halten. Aussichten darauf bieten die Einsichten, die Le Prophète bereithält.
3. Kindertraum, Allmachtsphantasie und Mutterbindung
Vieles ist ungewöhnlich am Protagonisten der Oper Le Prophète. Dass er im gesamten 1. Akt nicht auftaucht, sodass der sozialrevolutionäre Aufstand der Bauern ohne ihn stattfindet und seiner Einwirkung darauf entzogen ist. Dass er als Schankwirt einer Kneipe, in der sich die arbeitende Bevölkerung trifft, über keinerlei Fallhöhe verfügt, die für einen tragischen Opernhelden eigentlich unerlässlich ist. Und dass er den erstbesten von außerhalb kommenden Gästen sofort sein Herz offenbart und ihnen einen Traum zur Deutung vorlegt, den er vergangene Nacht geträumt hat. Jean will ihn als schlechtes Vorzeichen für die Wiederkehr seiner Geliebten und seiner Mutter deuten, aber damit hat der Traum nichts zu tun. Er handelt ausschließlich von Jean selbst und seinem Wunsch, der tiefer ist als seine Liebe zu Berthe und in höchste Höhen hinauf:
In eines Domes Wunderbau
Von Säulen getragen, sah ich mich stehn.
Das Volk kniete rings um mich her,
Es schmückte meine Stirn ein Königsdiadem.
Und von des Volkes Lippen tönt’s
Im heiligen Gesange: »Sehet da, Gottes Sohn,
Den Erwählten des Herrn!« Da erscheint
Am Gewölb eine glühende Flammenschrift:
»Weh dir und Fluch! Weh dir und Fluch!«
Zum Schwert greift eben meine Hand,
Doch ein blutiger Strom wogt heran, schwillt empor.
Ihm zu entfliehn, schwing ich mich
Auf einen goldnen Thron, doch die Flut
Stürzt auch ihn, reißt mich selbst mit hinweg!
Rings umher sprühen Blitze, aus dem Boden
Schlagen Flammen, des Höllenfürsten Faust
Schleift mich vor Gottes Thron, es erdröhnt
Aus der Erde der Ruf: »Er sei verflucht,
Verflucht, verflucht!
Die Traumerzählung ist gleichsam die Auftrittsarie des jungen Mannes in seinen zwanziger Jahren. Sie enthüllt aber die Phantasie eines Kindes nach Größe und Allmacht, die in ihrer Verzerrung der Dimensionen von Groß und Klein, Macht und Ohnmacht, Wunsch und Angst vor der Bestrafung des Wunsches etwas ebenso Unwirkliches wie psychisch Wirkliches artikuliert. Es ist ein Kindertraum, das kündet allein schon das instrumentale Vorspiel an, das in seiner Schlichtheit einem Kinderlied nachgebildet scheint. Und es ist eine Allmachtphantasie, der ihre eigene psychische Realität zukommt und die, wenn sie sich ungebrochen in späterer Zeit in der Wirklichkeit geltend macht, diese in Gestalt des Größenwahns eines Erwachsenen eingreifend verändern kann. Eben diese unwirkliche Wirklichkeit des aus der Imagination kindlicher Omnipotenz Erwachsenen stellt die Verbindung der Traumerzählung mit der Krönungsszene des 4. Akts aus, die Meyerbeer im Juli 1848 herstellt. Im Bade, so das Tagebuch, will er den »glücklichen Einfall« gehabt haben, »für den Traum im 2. Akt das Thema des Choeur d’enfants (in der Krönung des 4. Aktes) zu verwenden«. Er arbeitete »demgemäß einen großen Teil des schon jahrelang fertigen Traumes wieder um. (…) [D]och ist es«, fährt er fort »glaube ich eine erfreuliche Verbesserung«.72 Diese musikalisch unüberhörbar markante Verbindung überblendet das Geschichtsbild des Krönungszugs mit der Imagination des Kindes und schreibt dem Repräsentationsmodus des ästhetischen Historismus die Züge des Traums ein. Empfänglich geworden für das Irreale der Szene, kann man in dem outriert-auftrumpfenden Einsatz des Krönungsmarschs mit der Triole nicht als Auftakt, sondern auf dem ersten betonten Taktteil73 das trotzige Aufstampfen des Kindes hören, das seinen Willen durchsetzen will. Nicht zuletzt ist es die textuelle und visuelle Korrespondenz zwischen dem Traumbericht des 2. Akts und der Krönungsszene des 4., die an dem Realitätsgehalt des Dargestellten zweifeln lässt74 und der Frage Raum gibt, ob es sich bei dem ganzen historistischen Spektakel nicht nur um eine Phantasie Jeans handelt, um ein früh genährtes, von den Anabaptisten bestärktes und im Erwachsenenalter nicht verworfenes Phantasma, in dessen Bann Jean steht und dessen Realität er durch den für sich gesprochenen Satz »sich wie besinnend an die Stirn« fassend beglaubigt: »Ja, ich bin der Erwählte. Ich bin der Sohn Gottes!«. Meyerbeer und die Oper entscheiden diese Frage nicht. Sie lassen sie in der Schwebe und geben den Szenen der dargestellten Realität des 16. Jahrhunderts das Double der Phantasma-Projektion ihres Protagonisten bei. Der Effekt dieser Doublierung der Szene ist, gleichgültig ob von Meyerbeer beabsichtigt oder nicht, die Erfahrung der Wunschproduktion des ästhetischen Historismus und die Einsicht in ihren Grund: die Ohnmacht, die sich Macht erträumt.
Es ist – das Double der Szene macht es möglich – sowohl die Ohnmacht des Kindes als auch die Ohnmacht des Unterprivilegierten und Rechtlosen in einem System rigider sozialer Ungleichheit und Herrschaft. In dem Gewahrwerden der Ohnmacht im Kern der Pracht der Macht zeigt sich eine eigentümliche Affinität zwischen dem Persönlich-Intimen und dem Gesellschaftlich-Allgemeinen. Wenn, wie wir gesehen haben, das absichtsvolle, private Handeln um der Liebe, der Familie und der Freundschaft willen nicht heranreicht an die großen sozialen, politischen und ideologischen Bewegungen der Zeit, dann offenbart der aus Ohnmacht geborene Kindertraum von der Macht eine Affinität zwischen dem individuellen Wunsch und dem Machtstreben sozialer Gruppen und Bewegungen. Das auszusprechen heißt nicht, Politisches zu privatisieren und zu personalisieren, sondern auf soziale und psychologische Prozesse und Mechanismen aufmerksam zu machen, in denen die psychische Ontogenese des Wunschs nach Macht und die soziopolitische Psyche der Macht ineinander verschlungen sind. Eben davon spricht die doublierte Szene der Krönung im 4. Akt von Le Prophète.
Auf ihrem Höhepunkt, eben als der kleine Jean und große Prophet sich als Erwählter und Sohn Gottes wähnt, kommt ihm die Mutter in die Quere, um ihn mit ihrem Aufschrei »Mein Sohn!« zurückzuholen auf die Erde. Sie, die von Jean Verlassene, die Bettlerin, als die wir sie zu Beginn des 4. Akts auf dem Platz vor dem Dom gesehen haben, ist diejenige, die tatsächlich Macht über Jean besitzt. Wie sie dazu gekommen ist, darüber geben die Entstehungsgeschichte und das Werk selbst unterschiedliche Auskunft. Die doppelte, mindestens gleichwertige Besetzung der Frauenrolle mit der Geliebten Berthe und der Mutter Fidès war in den ersten Entwürfen von Scribe und Meyerbeer nicht vorgesehen. Es gab dort eine bescheidene, konventionelle Mutterrolle, mehr nicht.75 Dass die Rolle der Fidès immer umfangreicher und profilierter wurde, liegt auch mit daran, dass Meyerbeer mit der Sängerin Pauline Viardot-García die ideale Besetzung für diese Rolle gefunden hatte. Wegen ihr, die vom Direktor der Opéra Léon Pillet abgelehnt wurde, hatte Meyerbeer bis zu dessen Rücktritt nicht weiter über Le Prophète verhandelt. Gewichtiger für die Ausgestaltung der Mutterrolle ist das dramaturgische Argument, das Meyerbeer in einem handschriftlichen Vermerk an Scribe festhält. Es komme demnach darauf an, ein Gegengewicht zu schaffen zu der revolutionären Tendenz der Oper durch eine Person im Stück, die ganz auf dem Boden der bestehenden Ordnung und der Religion steht. Das könnte die Aufgabe der Mutter sein.76 Diese Aufgabe hat die Rolle der Fidès auf den ersten Blick gründlich erfüllt, ja übererfüllt. Ihr, der Mutter, gilt die eigentliche Liebe des Sohnes Jean – jedenfalls soweit ihm das bewusst ist. Zwar scheint zunächst Berthe sein ganzes Herz zu besitzen. Das jedenfalls beteuert er in der Pastorale genannten Arie, mit der Jean unmittelbar nach der Traumerzählung mit der Vision seines Herrschertums den Antrag der Anabaptisten, ihr prophetischer Führer zu sein, zurückweist:
Keins von allen Erdenreichen
Sehne ich mich zu erreichen,
Herrsch’ ich nur in Berthas Herzen
Will ich leicht den Thron verschmerzen,
Lassen alle Königskronen,
Will in dieser Hütte wohnen,
Wo der Friede glücklich weilt.
Aber diese Pastorale ist so trügerisch und irreal wie die Idylle des ländlichen Erwachens am Beginn der Oper. Die schmachtenden Triolen, in denen sie beschworen wird, sind nicht von dieser Welt: zu schön, um wahr zu sein. Es ist eine Schwärmerei ohne reales Liebesobjekt, in der sich der selbstlos Entsagende selbst feiert, die Artikulation eines amour propre nach Jean-Jacques Rousseau, mit der sich Jean bereits in die Rhetorik des charismatischen Führers einübt, dem (angeblich) alle irdischen Güter und Verlockungen der Macht nichts bedeuten. In dieser Selbstliebe ohne ein anderes Liebesobjekt ist Berthe nur eine austauschbare Chiffre. Das zeigt sich im 3. Akt, wenn Jean im Lager der Wiedertäufer, angeekelt vom Blutvergießen der Anabaptisten, sich seine Mutter in Erinnerung ruft und dazu in der instrumentalen Ankündigung des Wunschs nach der Mutter die melodischen Figuren der Berthe gewidmeten Pastorale erklingen.77 Offensichtlich gilt Jeans Liebe mehr der Mutter als der Geliebten. Aber dieser Liebe ist nicht zu trauen. Auch für die Liebesbeteuerungen gegenüber der Mutter gilt: sie sind Artikulationen der Selbstliebe ohne ein reales Liebesobjekt. Vor allem aber sind sie nur leere Rhetorik angesichts des konfliktuösen Ringens mit der Mutter, das die drei großen Szenen zwischen Fidès und Jean im 2., 4. und 5. Akt im Kern konstituiert. In ihnen spricht sich der durch die Liebesäußerungen und -beweise kaum getarnte Hass eines Mutterfixierten aus, der von der Mutter nicht loskommt. Dass Jean die Ablösung nicht gelingt, ist nicht die Schuld der Mutter, sondern seine eigene Unfähigkeit zu autonomem Handeln. Der Hass auf die »Hexe« Mutter ist Selbsthass, der frei flottiert und sich, wie am Ende, auf die ganze Welt richten kann. Die Schlüsselszene zur ambivalenten Beziehung Jeans zur Mutter im 2. Akt ist die umstandslose Preisgabe der vor Odenthal geflüchteten Geliebten und ihre Auslieferung an den Feudalherrn, um die (angeblich) bedrohte Mutter zu retten. Die Szene, die wie die Szene im Dom zwischen (Alb-)Traum und Wirklichkeit changiert, ist im Libretto so beschrieben:
Die beiden Hellebardiere zwingen Fidès niederzufallen und heben mit drohendem Ausdruck die Streitaxt über ihrem Haupte.
Fidès sinkt auf die Knie, die Hände nach ihrem Sohn ausstreckend.
JOHANN Kehrt sich um, stößt einen Schrei aus, stürzt nach dem
Versteck, wo Bertha eben sichtbar ist und schleudert sie in dem
Augenblick dem Grafen Odenthal zu, wo derselbe wieder nach vorn tritt, halb sinnlos zu Bertha
Fort! Hinweg! Du siehst, es muss sein!
Die beiden Hellebardiere schleppen Bertha durch den Mitteleingang nach rechts hinaus.
Nicht Liebe, sondern Fixierung spricht aus dieser wie automatisch erfolgten Reaktion Jeans. Das Bild der ausgestreckten Hände der Mutter auf den Knien, die Axt über ihr, der Schrei, das Fortschleudern der Geliebten. Fast ist man versucht zu glauben, der Sohn wolle ein anderes, sich aufdrängendes Bild von sich schleudern, das ihn die Axt über dem Haupt der Mutter schwingen lässt. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die unmittelbar folgende Szene. Im anschließenden Arioso segnet Fidès ihren Sohn, dem die Mutter »teurer als deine Braut« war, was offensichtlich keinerlei Bedenken in ihr auslöst. Im Gegenteil: Das Opfer des Sohns erhöht ihr Selbstwertgefühl gegenüber der jungen Rivalin. Auf den aggressiven Narzissmus der Mutter aber antwortet Jean nicht. Keine Gegenarie, kein Duett, kein Rezitativ. Nur ein stummes Spiel als Antwort. Auf den ersten Ausbruch der Mutter steht er auf, ihrer Umarmung nach der Segnung entzieht er sich und fordert sie auf, das Zimmer zu verlassen und sich zur Ruhe zu begeben. Sprachlosigkeit und Schockstarre sind die Reaktion auf die Übergriffigkeit der Mutter. Sie sind die symptomatischen Anzeichen für den uneingestanden-unbewussten Hass auf sie und den Hass auf sich selbst, dem es nicht gelingt, sich innerlich von ihr loszusagen, auch wenn er sich auf Geheiß der Anabaptisten räumlich und nach außen hin von ihr entfernt. Der Konflikt ist damit nicht gelöst, sondern nur verdrängt.
Wie sehr der verdrängte psychische Konflikt fortwirkt, zeigt der Wiederholungszwang, dem die Szene des 2. Akts unterliegt. Die Auseinandersetzung mit der Mutter in der Krönungsszene des 4. Akts im Dom und im Kellergewölbe des 5. Akts können – auch – als zwanghafte Wiederholungen des Kampfs zwischen Mutter und Sohn gelesen werden. Seines Versuchs, sich von ihr loszusagen und ihrem Willen, dies auf keinen Fall zuzulassen. Im Dom gelingt es Jean, dank der Todesdrohung, die über beiden schwebt, sollte sich der Prophet als ein irdisch Geborener herausstellen, Fidès auf die Knie zu zwingen und sie in einem großen Exorzismus-Theater dazu zu bringen, zu leugnen, dass er ihr Sohn ist. Bereits für diese nur scheinhaft, wenngleich öffentlich vollzogene Verleugnung der Mutter rächt sich die im Kerker gefangene Fidès, indem sie ihrerseits Jean auf die Knie schickt und in einem großen Theater der strafenden, sich von ihm abwendenden Mutter dazu bringt, der Macht des Propheten abzuschwören und seine Taten zu bereuen. Spätestens an dieser Stelle bemerkt man, von wem die Angstvision, von Satans Reich verflucht und verschlungen zu werden, in der Traumerzählung des 2. Akts stammen. Es sind die Drohungen der Mutter, die seine Allmachtphantasien brechen sollen, aber das Gegenteil bewirkt haben. Jetzt, da Jean der Macht entsagt und die Folgen seiner Machtergreifung bereut, sieht sich die Mutter wiederum ermächtigt, ihn an Gottes Stelle von allen Sünden freizusprechen. Es ist ein psychologisches Kammerspiel zwischen Mutter und Sohn, in dem gleichsam im Kellergewölbe des Unbewussten die Szenen ihrer Auseinandersetzung zusammenschießen und sich überlagern. Es zeigt die Verklammerung zweier narzisstischer Persönlichkeiten, die in sich gefangen sind und den oder die andere(n) nur zur eigenen Selbstbestätigung und Selbstüberhöhung brauchen. Das geht so lange, bis mit dem Auftauchen Berthes und ihrem Selbstmord eine Realität jenseits des Narzissmus einbricht. Der Selbstmord Berthes, die mit der Ambivalenz ihrer Gefühle gegenüber dem Propheten einerseits, Jean andererseits, beide in einer Person, nicht zurechtkommt und damit nicht länger leben will, gibt Jean eine schwache Ahnung von der Liebe zu einem anderen, realen Menschen, die möglich wird, wenn man heraustritt aus dem Bannkreis narzisstischer Imaginationen.
4. Verschlungene Geschichte(n)
Die Beziehungsgeschichte zwischen Mutter und Sohn nimmt in Le Prophète breiten Raum ein. Sie ist das Skandalon der Oper. Denn unverständlich erscheint auf den ersten Blick, warum der geschichtliche Höhenflug einer sozialrevolutionär- chiliastischen Bewegung unter einem charismatisch-populistischem Propheten dermaßen mit dem Gewicht einer privaten psychischen Konfliktkonstellation belastet wird. Der Hinweis auf Meyerbeers eigene starke Mutterbindung und die herausragende familiäre Stellung der Mutter in einer jüdischen Familie hilft da als Erklärung nicht weiter. Auch Meyerbeers bereits angeführtes Argument, mit der Rolle der Mutter ein Gegengewicht zur revolutionären Tendenz der Oper zu schaffen, verfängt nur, solange man die wechselseitig ausgesprochenen Beteuerungen der Mutterliebe und der Liebe zur Mutter für bare Münze nimmt und auf der Basis dieser nicht angezweifelten »Muttersprache« Le Prophète als Tragödie der wiederhergestellten (mütterlichen) Ordnung liest. Aber in dieses trügerische Bild, dessen Konturen gleichwohl in der Oper sichtbar werden, zeichnen sich die Züge anderer Bilder ein, die es verzeichnen und konterkarieren.
Unübersehbar drängt sich zunächst das Bild des charismatisch-populistischen Führers als narzisstische Persönlichkeit auf. Mit dieser Charakterisierung Jeans, die sich, wenn auch nicht explizit beabsichtigt, aus der Motivierung dramaturgischer Verknüpfung und Konfliktführung ergibt, geht Meyerbeer über die zeitgenössische Figur des schwankenden Helden hinaus. Die narzisstische Persönlichkeit als charismatischer Führer ist eine exemplarische Erscheinung im Rahmen von populistischen Bewegungen. Meyerbeer nimmt damit ›prophetisch‹ einen Typus vorweg, der im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart seine volle Macht entfalten wird.78 Hält man sich an die Züge, die in Le Prophète vorgezeichnet sind, so treten neben dem jedes Selbstwertgefühl übersteigenden übermächtigen Streben nach eigener Grandiosität, wie sie im Krönungstableau des Propheten-Königs zutage tritt, vor allem das Fehlen von Empathie gegenüber anderen und das Schauspielerhaft-Manipulative im Auftreten des narzisstischen Führers hervor. Die mangelnde Empathie ist der fehlenden Fähigkeit zur affektiven Besetzung eines (Liebes-)Objekts außerhalb seiner selbst geschuldet. Sie zeigt sich bei Jean vor allem Berthe gegenüber. So wenn er nach einem kurzen Schockmoment, den ihr Selbstmord auslöst, sofort danach den Soldaten »kalt und entschlossen« befiehlt, hierzubleiben und seine Mutter zu beschützen. Das Schauspielerhaft-Manipulative begegnet in Jeans rhetorischer Meisterleistung der Abwendung der Meuterei am Ende des 3. Akts und deren Verwandlung in den Triumphgesang der ihm folgenden Soldaten, aber auch im Theater im Dom, mit dem Jean als prophetischer Exorzist die anscheinend besessene Fidès von ihrem Dämon heilt. In beiden Fällen steht Jean mit dem Rücken zur Wand und ist von der Übermacht der Soldaten bzw. der Menge im Dom bedroht. Die Zuflucht, die er zum Theater nimmt, ist der verzweifelte Versuch, die eigene, als von Schwäche und Ohnmacht gezeichnete Lage buchstäblich zu überspielen und durchs Überspielen die Situation zu ändern. Die schauspielerisch-manipulative Verkehrung von Schwäche und Ohnmacht in angemaßte, vermeintliche Stärke und Macht ist die profane, der Not entsprungene Magie, mit der narzisstische Führerpersönlichkeiten wie Jean ihre Anhänger verzaubern.
Es macht den Reichtum an Erfahrungen und Einsichten aus, die Le Prophète bereithält, dass die Oper nicht bei diesem Bild des narzisstischen Führers stehen bleibt, um ihn zu demaskieren und zu verurteilen. Denn die Geschichte vom Aufstieg und Ende eines empathielos-machtsüchtigen Blenders ist von Anfang an verschlungen mit dem Kampf des Kindes und jungen Mannes, sich aus der toxischen Bindung an die narzisstische Mutter zu befreien. Dass ihm dies nicht gelingt, macht das fatale Ende von Jeans Karriere aus. Der uneingestandene Hass auf die Mutter verkehrt sich in den Hass auf alle anderen. Der die Fesseln zur Mutter nicht sprengen konnte, sprengt nun mit dem Schloss von Münster die ganze Welt in die Luft. Aber auch in dieser letzten Übersprungshandlung, die anstelle des Neins zur Mutter in einem erweiterten Suizid das eigene wie fremdes Leben verneint, lässt ihn die Mutter nicht los. Mit den Worten »Ich, ich habe dir verzieh’n / Lass mich sterben mit dir!« geht sie vereint mit ihm in den Tod. Die Symbiose von Mutter und Kind, von der beide nicht loskommen, ist am Ende tödlich. Le Prophète erzählt – wiederum auch – eine Geschichte, die Alfred Hitchcocks Psycho vorwegnimmt.
Von vielen sozialen und psychischen Stigmata gezeichnet, wird der Protagonist von Le Prophète dennoch von keiner höheren Instanz der Oper verurteilt. Der Verurteilung wirkt eine schwache Stimme entgegen, die am Ende der Traum-Erzählung des 2. Akts zu vernehmen ist. Hinweggerissen von den Fluten Satans, ausgeliefert seinen Blitzen und mit lauter Stimme dreimal verflucht, hört Jean aus der Tiefe ein banges Flehen: »Clémence! Clémence! Clémence!«. Die Bitte um Erbarmen in ihrer Zartheit bereitet dem ganzen Spuk der Hölle unmittelbar ein Ende. Von wem sie kommt, wird nicht gesagt. Jean würde sie vermutlich in Verkennung seiner Mutter zuschreiben. Der Wahrheit näher dürfte sein, dass es Jeans Stimme selbst ist, dass es die Bitte des Kindes und des Kind gebliebenen Mannes ist, die ihre Ohnmacht nicht länger kompensieren und überspielen, sondern sie einbekennen und zu ihr stehen. Das Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit und des Angewiesenseins auf Hilfe, Unterstützung und Solidarität der anderen setzt die Mechanik des Umschlags von Schwäche in angebliche Stärke außer Kraft. Damit öffnet sich ein Ausweg aus der scheinbar unaufhaltsamen Geschichte vom Aufstieg und Fall Jeans, des Schankwirts und Propheten.
Der Blick aus der Perspektive dieses Auswegs auf das vermeintlich unabwendbare Geschehen unterminiert die Zielstrebigkeit einer linearen Narration und Dramaturgie der Handlung. Anstelle der Entscheidung für eineverbindliche Erzählung der Geschichte von Jean werden die unterschiedlichen Ge-Schichten sichtbar, die sich im Bild des Protagonisten eingezeichnet haben: die Geschichte des chiliastischen Sozialrevolutionärs, die Geschichte des Kindes, das von Allmacht träumt, die Geschichte eines Mutterfixierten und seines lebenslangen Kampfs mit der Mutter, die Geschichte des narzisstischen Führers einer populistischen Bewegung und die Geschichte eines Ohnmächtigen, der nach Hilfe schreit. In Meyerbeers Oper stehen diese Geschichten gleichberechtigt nebeneinander. Die Leidenschaften, die in ihnen zum Ausdruck kommen, gehen mit den Bildern, die sie vor Augen stellen, in rascher Folge ineinander über. Sie überblenden und verwandeln sich und erzeugen einen Taumel affektgeladener Bilder und leidenschaftlicher Töne. Aber im Taumel der Leidenschaften begegnet in Le Prophète zugleich Erfahrung, verstanden als Widerfahrnis des Fremden. Dass Meyerbeers Grand Opéra die Möglichkeit von Erfahrung bereithält, verdankt sich seiner szenischen Dramaturgie und der spezifischen Gestalt der Szene als Phantasmagorie.
5. Phantasmagorie. Die Szene von Le Prophète
Meyerbeer ist ein szenisch denkender Opernkomponist.79 Er hat genaue Vorstellungen von der szenischen Realisation seiner Oper. In der Partitur befinden sich exakte Beschreibungen des szenischen Geschehens, zum Teil sind Einsatz und Veränderungen von Handlung auf den Takt genau angegeben. Dennoch fallen sie relativ knapp aus im Vergleich mit den ausführlichen Bühnenanweisungen und Szenenbeschreibungen, die in Louis Paliantis Livret de mise en scène von Le Prophète enthalten sind.80 Sie halten, auf Initiative Meyerbeers81, ein halbes Jahr nach der Premiere erschienen, die Inszenierung der Uraufführung fest. An dieser Inszenierung sind, der arbeitsteiligen Produktion der Opéra entsprechend, eine Reihe von Personen verantwortlich beteiligt: neben Meyerbeer und Scribe, dem Komponisten und Librettisten Edmond Duponchel und Nestor Roqueplan für die Inszenierung, Auguste Mabille und Paolo Taglioni für die Choreographie sowie Charles Cambon, Edouard Despléchin und Charles Séchan für die Dekorationen.
Was an den Aufzeichnungen und Beschreibungen von Palianti vor allem ins Auge fällt, ist ihre technische Präzision und Ausgefeiltheit. Für jede Dekoration ist ein genauer Bühnengrundriss vorhanden, in dem alle Vorhänge, Kulissen und Praktikablen im Planquadrat der Bühne eingetragen sind. Ebenso sind Stellung und Bewegung der Sänger:innen, des Chors, des Balletts und der Komparserie genau verzeichnet. Auch Größe, Umfang und Höhe der Bühnenteile sind festgehalten. Denn eine zentrale Herausforderung der Bühneneinrichtung ist es, eine stimmige Perspektive mit den richtigen Proportionen zwischen Vorder- und Hinterbühne herzustellen, auch dann, wenn die Bühne von Darsteller:innen bevölkert ist. Sie ist die Grundvoraussetzung für die Immersion der Zuschauenden in die historische Szenerie von Le Prophète: das Eintauchen in das ländlich-bäuerliche Holland mit seinen Windmühlen im 1. oder die städtische Schenke mit den tanzenden Landleuten im 2. Akt. Das tiefgestaffelte Feldlager vor Münster mit dem zugefrorenen See, über den die Schlittschuhläufer:innen Lebensmittel bringen, bedeutet eine besondere Herausforderung für die perspektivische Illusion. Die Läufer:innen wurden dafür der Größe nach in Reihen hintereinander aufgestellt, die Schlittschuhe waren nach Meyerbeers Angaben angefertigte geräuscharme Rollschuhe. Deren Hersteller vermerkt das Livret de mise en scène ebenso wie den der elektrischen Bogenlampe, der »Prophetensonne«, die am Ende des 3. Akts parallel zum Triumphgesang des Propheten und seiner Anhänger zum Einsatz kommt.
Die zweite Herausforderung für die Bühneneinrichtung ist die Ermöglichung rascher Szenenwechsel bei offener Bühne. Sie fördern die Illusion eines sich wie von Zauberhand vollziehenden Übergleitens von einem Schauplatz zum anderen, ohne Unterbrechung durch das Fallen des Bühnenvorhangs, der die Illusion stört. In Le Prophète gleitet so das Ende des 1. Akts mit den erneut aufziehenden Anabaptisten und ihrem Gesang »Ad nos ad salutarem undam« bei offener Bühne über in den Tanz der Landleute vor Jeans Schenke in einer Vorstadt von Leyden. Im 4. Akt verwandelt sich der öffentliche Platz vor dem Rathaus in Münster, wo die Bürger:innen gerade noch laut murrten unter der Last der Abgaben, die ihnen der Prophet auferlegt hat, auf offener Szene mit einem Schlag in den Krönungszug des Propheten-Königs im Dom. Das Kellergewölbe des 5. Akts geht über in das letzte Bankett im Festsaal des Schlosses, der sich in ein Inferno aus Flammen, Rauch und Trümmern auflöst, als das in den Kellern gelagerte Pulver explodiert.
Neben diesen Verwandlungen der Dekoration auf offener Bühne sind es nicht zuletzt die Übergänge von Szenen und Tableaus bei gleichbleibender Dekoration, die filmische Effekte avant la lettre bewirken. Weiter oben wurde bereits auf die rasche Abfolge von Ereignissen, Bildern und Szenen in Le Prophète hingewiesen. Sie fallen vor allem im 1. Akt mit seiner schnellen Verwandlung eines idyllisch ländlichen Morgens in einen Bauernaufstand ins Auge und fast noch mehr im 3. Akt mit seinem raschen Übergleiten von Bildern einer blutrünstigen Soldateska, von Breughel’schem Wintervergnügen, von Konspiration und Entdeckung, von Meuterei und triumphaler Heerschau. Nichts darf schiefgehen im Auf- und Abtreten der Darsteller:innen, in der Choreographie der Massen von Ballett und Statisterie, in der Verortung der Bühnenelemente und bei den Beleuchtungseffekten, damit das Gleiten der szenischen Bilder nicht durch einen Illusionsbruch gestört wird.
Der technische Aufwand zur Hervorrufung der szenischen Imagination der Welt des 16. Jahrhunderts ist beträchtlich und auf der Höhe der Zeit. Zu sehen ist davon im Zuschauerraum der Salle Le Peletier allerdings nichts. Wie von Magie geschaffen sollen die Bilder dieser Welt erscheinen, ohne dass ihre Verfertigung sichtbar wird. Diese ästhetische Absicht teilt die Bilderwelt von Meyerbeers Grand Opéra mit der der Phantasmagorien, die seit Ende des 18. Jahrhunderts das Publikum der Großstädte in ihren Bann zieht. Phantasmagorien, wie sie etwa von Etienne Gaspard Robert zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Ruinen des Konvents der Kapuzinerinnen in Paris veranstaltet wurden, waren optische Spektakel zur Unterhaltung, bei denen durch eine Laterna magica Bilder von gespenstischen Sujets, Orten und Personen auf eine Leinwand geworfen wurden, ohne dass sowohl der Projektionsapparat als auch die Leinwand sichtbar waren, so dass unter Zuhilfenahme von Rauch und unsichtbaren Stimmen die unheimliche Wirkung der Präsenz von Toten und Abwesenden erzielt wurde.
Das Prinzip der Phantasmagorie, die scheinbar magische Erscheinung von Abwesenden/m, ohne dass die Produktion dieser Erscheinung sichtbar wird, wurde rasch zu einem ästhetischen Idol des 19. Jahrhunderts, das in vielerlei Künsten und kulturellen Techniken und Praktiken Ausdruck fand: in den literarischen Utopien, im Städtebau, in der Architektur, der Weltausstellung – und in der Grand Opéra. Das Trugbild der Phantasmagorie – reines Erscheinen ohne menschliches Zutun – wurde zum Wunschbild der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. In ihm fand es seinen Selbstausdruck. Walter Benjamin, der Historiograph der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, Paris, hat den ersehnten Trugbildern eine erkenntniskritische Wendung gegeben, indem er die verborgene Geschichte der Beziehungen, in denen sie entstanden sind und in denen sie wirken, sichtbar gemacht hat. Vor ihm hat Marx den Fetischcharakter der Ware als Phantasmagorie analysiert. So wie den Trugbildern der populären Phantasmagorie-Shows das verdeckte Verhältnis von Apparat (Laterna magica) und Leinwand zu Grunde liegt, so hat Marx in der Ware und ihrem Tauschwert die ungleiche Beziehung zwischen den abhängig Arbeitenden und Kapitalherrn gesehen, die sich in ein Ding, die Ware, verzaubert hat.82 Ein »bestimmte[s] Verhältnis der Menschen selbst« so Marx, nehme »hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen«83 an. Von Marx’ Analyse des Fetischcharakters der Ware aus ist Walter Benjamin den Spuren der verschwundenen Verhältnisse zwischen den Menschen in den warenförmigen Phantasmagorien von Paris nachgegangen.
Mit dem doppelten Blick auf die Phantasmagorie sowohl als Trugbild als auch ein ins Dingliche verzaubertes Verhältnis von Menschen kann die Szene der Grand Opéra erneut gelesen werden. Die Fülle der detailgetreu beschriebenen Requisiten, all der Banner, Fahnen, Speere, Lanzen, Hellebarden, Brustgehänge, Kissen, rituellen Gefäße, Baldachine, Trommeln, Fanfaren, edlen Ketten und jeder Art von Geschmeide ebenso wie die bunte Pracht der Kostüme aus allen Schichten, Klassen und Berufsständen, die Helme mit Federbüschen, die goldenen Brustpanzer, kirchlichen Ornate und meterlangen Schleppen, das Funkeln der Kleider in Samt und Seide verwandeln die Bühne der Opéra in eine große Warenschau des Luxus und der Moden. À la dernière mode: historische Kostüme und Accessoires! Die Liebesblicke aber, die die auf der Szene ausgestellten Waren nach Marx den Käufern zuwerfen, sind die der Zuschauenden selbst. Ihr Begehren richtet sich auf die Macht (eines Kaisers, Königs, Hohen Rats etc.), die sich mit Luxuswaren ausstaffiert, als hätten die Geschäfte der Passagen von Paris ihr Sortiment auf der Szene der Opéra ausgekippt. In der historistischen Welt der Grand Opéra zeigt sich die Warenförmigkeit der Macht. Nicht längst Vergangenem wendet sich die Liebe des Publikums zu, sondern dem aktuellen Warencharakter der Macht in der historischen Staffage.
Das ist die Phantasmagorie, die die Zuschauenden der Grand Opéra in ihren Bann zieht. Verschwunden ist darin das menschliche Verhältnis, das sich im Begehren der Macht vergegenständlicht hat. Es ist die menschliche Geschichte des revolutionären Enthusiasmus, seiner Enttäuschung, Verdrängung und Wiederkehr als Begeisterung für die Macht, es ist die menschliche Verkehrung von uneingestandener Ohnmacht in angemaßte Macht, die im dinglichen Glanz der magischen Erscheinungen verschwunden ist. Wie kann es der Szene der Grand Opéra, wie kann es der Szene von Le Prophète gelingen, den Bann der Phantasmagorie zu brechen, wie die verschwundene Geschichte wieder(zu)holen? Und wie kann es gelingen, die im Trugbild an die Macht gefesselten Leidenschaften zu befreien? Die Antwort darauf ist einfach: Gebrochen werden kann der Bann der Phantasmagorie nur durch die Phantasmagorie selbst, durch ihre Steigerung und Überbietung.
Viele Künste wirken in der Grand Opéra zusammen, um den Effekt der Phantasmagorie zu erzielen. Um die Bilder des ländlichen Holland im 16. Jahrhundert oder der Täuferstadt Münster »auferstehen« zu lassen und die Illusion eines damaligen Geschehens »glaubhaft« zu machen, müssen in Le Prophète die historistischen Bühnenbilder und Kostüme, das musikalische Kolorit, der Tanz sowie das stumme Spiel und die Gesten, Bewegungen und Handlungen der Sänger-Schauspieler:innen zusammenwirken. Dabei entfalten die einzelnen Künste jedoch einen Eigensinn, der der Spannung zwischen ihrem aktuellen ästhetischen Repertoire und dem der geschichtlichen Zeit geschuldet ist. So bleiben die bühnenbildnerischen Imaginationen des 16. Jahrhunderts der Idee des Malerischen verhaftet, einem Leitbegriff der Malerei seit der Zeit um 1800. Entworfen sind sie nach den Historienbildern der Romantik, durch die hindurch das 19. Jahrhundert auf die Vergangenheit blickt. In den Kostümen verbindet sich die Orientierung an historischer Detailgenauigkeit mit dem zeitgenössischen Wunsch nach Pracht und Größe. Sie sind in der Drapierung des Faltenwurfs, in der fließenden Umhüllung der Gestalt und im überhöhenden Kopfschmuck darauf angelegt, ein überlebensgroßes Bild des Körpers zu entwerfen, das mehr erwünschten Fantasy-Gestalten, ja Avataren des Selbst gleicht als den historischen Figuren, die dargestellt sein sollen. Hinzu kommt, dass die Schauspielkunst der Sängerinnen und Sänger ganz dem Stil der Zeit entspricht. Edel in ihrer Haltung, natürlich in der Gestik, wie Hector Berlioz es Adolphe Nourrit und Cornélie Falcon, den Sängerstars von Les Huguenots attestiert,84 heißt übersetzt, dass vor der Grundhaltung sängerischer Selbstrepräsentation ein gestisches Spiel zu sehen ist, das sich nach wie vor an Johann Jacob Engels Ideen zu einer Mimik (1785)85, an Gilbert Austins Chironomia, or a Treatise on Rhetorical Delivery(1806)86, vor allem aber an den melodramatischen Attitüden orientiert.87 Zu sehen sind also Sängerinnen und Sänger, die teils als Models im historischen Kostüm posieren, zum andern Teil in einer Gestensprache agieren, die dem 16. Jahrhundert fremd gewesen wäre. Besonders interessant ist, wie Meyerbeer sich kompositorisch mit der Forderung nach couleur locale und historischem Kolorit auseinandersetzt. In Les Huguenots hat er auf den protestantischen Choral »Ein feste Burg ist unser Gott« zurückgegriffen, der die Oper als Grund- und Erkennungsmelodie eröffnet und im 5. Akt in Auflösung und Zerstörung endet. Für Le Prophète hat Meyerbeer mit dem Aufruf der Anabaptisten »Ad nos ad salutarem undam« einen liturgischen Gesang im Stil des 16. Jahrhunderts nachgeschaffen. Eine historische Reminiszenz ist auch die Händel nachgebildete Hymne Jeans »Roi du ciel et des anges« am Ende des 3. Akts, die das religiös-ekstatische Potential der Oratorien ausschöpfen soll. Da die Oper in ihrer expressiven Stimmführung ganz zeitgenössisch gegenwärtig ist, ist man versucht, in diesen und anderen musikalischen Wiederholungen älterer kompositorischer Formen von Zitaten oder musikalischen Gesten zu sprechen, die die Vergangenheit in die Gegenwart einführen. Wie sehr die angeblich historistische Oper in der Alltagswelt und im Lebensgefühl der Zeitgenoss:innen verankert ist, offenbart die Tanzmusik in den Balletten der Opern von Meyerbeer. Stephanie Schroedter hat dokumentiert, in welch hohem Maß Meyerbeer die Tanzkompositionen an den Tanzmoden der Ballhäuser und Tanzvergnügungsstätten von Paris ausrichtet, wie er die Melodien und Tänze, die dort en vogue sind, aufgreift und bearbeitet.88
Es sind demnach entgegengesetzte Tendenzen, die aus dem Zusammenwirken der Künste zur Schaffung einer augmented reality der Phantasmagorie entstehen. Dem Zug nach einer ästhetisch-historistischen Einbildung wirken das Outriert-Theatralische von Kostümen, Gesten und Haltungen sowie die kompositorische Gegenwärtigkeit und gestische Zitation historischer Musikstile entgegen. Diese transmedialen Verwerfungen auf der Szene der Grand Opéra bewirken, dass die Phantasmagorie des 16. Jahrhunderts als bloßes Theater sichtbar wird. Ein Theater, veranstaltet von heutigen Sängerinnen und Sängern im Habitus der Selbstdarstellung in Kostümen, Hüten, Perücken und Waffen, die nach gestern aussehen sollen und mit den übertriebenen Gesten, die das Pathos vergangener Gestalten beglaubigen sollen, kritisch beäugt von einem Publikum, das sich ebenso am Auftauchen fremder Welten wie an der Wiedererkennung der eigenen musikalisch-ästhetischen Lebenswelt delektiert.
Die Phantasmagorie des ästhetischen Historismus wird auf der Szene der Grand Opéra als ein Theater der Wiederholung erfahrbar. Das Hervortreten des theaterhaft Gemachten und Theatralischen unterbricht das Eintauchen in die phantasmagorischen Bilderwelten. Die Einsicht in die unvermeidliche Übertreibung der theatralen Wiederholung schreibt dem Pathos der Tragödie die Züge der Farce ein. Tragödie und Farce bilden, wie an Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte gezeigt, ein Paar. Das gilt auch für das Musiktheater im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts.89 Die Anstrengungen der Sänger-Darsteller:innen, der Tänzer:innen und des Chors, vom Boden der zeitgenössisch-urbanen Unterhaltungskultur aus ein tragisches Geschehen des 16. Jahrhunderts glaubhaft zu machen, entbehrt durchaus nicht der Komik. Dies umso mehr, als die Protagonist:innen der Oper keinesfalls dem Personenstand der Tragödie angehören und man die Machtergreifung des Schankwirts mit einigem Recht auch im Framing von (z. T. blutigen) Komödien wie Le Bourgeois Gentilhomme, Ubu Roi oder Arturo Ui lesen könnte.90 Die Erfahrung der Phantasmagorie als tragisch-farcenhaftes Theater der Wiederholung bricht den Bann, der das Begehren und die Leidenschaften der Menschen an die vorgegaukelte Macht fesselt. Die Phantasmagorie wird dadurch jedoch nicht entwertet und beiseitegeschoben. Sie behält den ganzen sinnlichen Reiz und geistig-geschichtlichen Gehalt der durch sie heraufbeschworenen Bilder und Szenen. Die vom Bann der Macht befreiten Trugbilder der Grand Opéra lösen auch Geist und Sinne des Publikums aus der Fixierung, setzen sie in Bewegung und schicken sie auf eine erneute Reise durch die Bilder- und Affektwelten der Oper.
6. Taumel der Leidenschaften. Affekt-Gemeinschaft unter Fremden
Zu den besonderen Effekten der von der Laterna magica hervorgerufenen phantasmagorischen Erscheinungen gehört das Übergleiten und die Verwandlung der Bilder. Dass etwas nicht ist, was es zu sein scheint, sondern sich als unerwartet anderes erweist, stattet die Phantasmagorie mit dem Reiz des Unbekannten und der Faszination des Unheimlichen aus. Die Dramaturgie der Szenen und die bühnentechnische Ausstattung von Le Prophète sind wie beschrieben ganz darauf ausgelegt, das Ineinandergleiten der Bilder zu ermöglichen. Verwandlungen zwischen den Akten und Halbakten auf offener Szene, sukzessive Formierungen und Umformierungen der Szenerie von Sänger-Darsteller:innen, von Chor, Ballett und Komparserie innerhalb einer Aktdekoration sorgen für eine ständige Bild-Bewegung. Die aber ist nicht gleichförmig und auf eine kontinuierliche Entwicklung aus, sondern durch dramaturgische Einschnitte strukturiert. Die Kontrastdramaturgie der Grand Opéra sieht vor, dass die Abfolge der Szenen dem Gesetz des größtmöglichen Gegensatzes von Leidenschaften, Situationen und Wendungen der Handlung gehorcht. Was sich bisweilen nur in einem äußerlichen Effekt erschöpft, sieht sich in Meyerbeers Le Prophète durch die strikte Durchmotivierung von Handlung und Figuren mit inhaltlicher Bedeutung aufgeladen und mit (auch unbewusstem) Sinn erfüllt. Dabei spielt die oben beschriebene Vielschichtigkeit der Handlung eine entscheidende Rolle. Meyerbeer und Scribe erzählen die Geschichte vom Aufstieg und Fall Jean von Leydens aus unterschiedlichen Perspektiven: der des chiliastisch-prophetischen Sozialrevolutionärs, des ohnmächtigen Kinds, der des Kampfs mit der Mutter, der des narzisstisch-populistische Führers. Das unterminiert die lineare Handlung und den Glauben an die eine verbindliche dargestellte Realität. Deshalb können die einzelnen Bilder und Szenen so ineinander umschlagen, dass gleichsam auf der Stelle und im selben Raum unterschiedliche Narrations- und Realitätsschichten in Kontakt treten. Das prägnanteste Beispiel dafür ist die Szene der Krönung im 4. Akt. Zunächst kehrt im Pomp des Krönungszugs durch die Melodie des Kinderchors die Erinnerung an den Kindeswunsch nach Omnipotenz in der Traumerzählung des 2. Akts wieder. Dann kippt die Szene auf offener Bühne von der Haupt- und Staatsaktion ins Private und Intimste durch den Aufschrei von Fidès, die im Propheten ihren Sohn erkennt: »Mon fils!«.
Die Unterbrechung der Krönungszeremonie durch die parola scenica91 der Mutter bewirkt, dass das Bild des Propheten-Königs mit dem Bild des jungen Mannes überblendet wird, der mit der Mutter um seine Unabhängigkeit kämpft. Solche Unterbrechungen, die sich, lange vor Bertolt Brecht und Walter Benjamin, bei Meyerbeer der mehrfach motivierten Kontrastdramaturgie verdanken, ermöglichen die Überlagerung von Szenen in einem virtuellen Raum, der der Logik der fortschreitenden Handlung entzogen ist. Dieser Raum wird durch die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Bilder bestimmt. Das heißt, Szenen, die in der Handlung zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden, sind im virtuellen Raum gleichzeitig präsent. Die Logik, nach der sie sich verbinden, ist die der Attraktion des Fremden. Fremd ist, was aus der sinnstiftenden Kontinuität der Handlung und der Gemeinschaft der aufeinander folgenden Bilder gefallen ist. Das vereinzelte, dem Ganzen fremd gewordene Bild sucht Anschluss an andere vereinzelte, fremde Bilder. Das Verhältnis, in dem sie als Fremde unter Fremden stehen, ist von der Anziehungskraft des Ähnlichen und der Faszination des Unähnlichen bestimmt. Es hält die Bilder untereinander in einer Schwebe, in der sich Nähe und Ferne, Eigenes und Fremdes, Vertrautes und Unheimliches in wechselnden Konstellationen begegnen und ineinander übergehen. So kann sich im virtuellen Raum von Le Prophète das Bild des über der dörflichen Landschaft thronenden Schlosses des Feudalherrn Oberthal überblenden in die Trümmer des von der Explosion zerstörten Schlosses von Münster. So können die Bilder der revoltierenden Bauern, der zum Angriff entschlossenen Soldaten, der unter der Herrschaft des Propheten stöhnenden Bürger:innen und der feierlichen Menge im Dom ineinander übergehen. So kann das Bild des sprachlos-ohnmächtigen Jean, der gerade seine Geliebte für die Mutter ausgeliefert hat, sich mit dem des Propheten-Königs verbinden, der die Mutter auf die Knie und zur Verleugnung ihrer Mutterschaft zwingt. Die erste Vorstellung von Berthe, die froh darüber ist, dass Jean sie, die mittellose Waise, zur Braut nehmen will, und die sich ganz der Führung durch die Schwiegermutter anvertraut, kann neben die Bilder der Rächerin und Selbstmörderin treten. Ein breites Spektrum von Mutterbildern von der Bettlerin bis zur Richterin an Gottes statt bieten schließlich die Auftritte von Fidès.
Unzählige Möglichkeiten immer anderer Konstellationen eröffnen sich durch die gleichzeitige Überlagerung ungleichzeitiger Szenen im virtuellen Raum. Die Anziehungskraft des Fremden, die sie in Bewegung hält, verhindert die Fixierung auf eine Wahrheit der Geschichte und provoziert immer neue Einsichten. Sie stehen gleichberechtigt und gleich gültig nebeneinander. Damit entziehen sie jeder angenommenen Identität und jedem moralischen Urteil von einem selbstgewissen festen Standpunkt aus den Boden. Stattdessen fördern sie eine Beweglichkeit des Denkens und Fühlens, die sich nur in der Begegnung mit dem Fremden erhält.
Fremd sind vor allem die Leidenschaften, die in den vereinzelten und doch gleichzeitig versammelten Bildern pulsieren. Befreit aus der mäßigenden Einbindung in eine kontinuierliche Erzählung entfalten sie eine gestische Energie, die sich aus der Unterbrechung des Sinnzusammenhangs der Handlung speist. Als Fremde begegnen sich nun die sentimentale Beschwörung eines idyllischen Lebens in der Pastorale von Jean und die Mordlust des Chors »Du sang!«, die naive Pietät des Kinderchors mit den düsteren Bässen der anabaptistischen Verschwörer oder die heiter-tänzerischen Wendungen des Redowa der Schlittschuhläufer:innen mit der hochdramatischen Rachearie der Fidès im Dom, um nur einige Beispiele möglicher Treffen unter Fremden aufzuführen.
Mit dem Gleiten der Bilder im virtuellen Raum geraten auch die Leidenschaften in Bewegung. Ohne eine handlungsmotivierte moralische Verortung, die ihnen Halt geben könnte, fangen sie an zu taumeln. Im Taumel der Leidenschaften, den die phantasmagorische Überblendung der Bilder auslöst, werden auch die Zuschauenden und Zuhörenden vom Taumel der Gefühle erfasst. Nichts bleibt hier an seiner ursprünglichen Stelle, alles sicher Geglaubte und Vertraute wird ungeheuer und ungewiss. Im Taumel affektgeladener Bilder und leidenschaftlicher Töne geht die moralische Wertung unter, die Richtschnur für den Umgang mit den Leidenschaften war. Aber im Taumel der Leidenschaften begegnet in Le Prophète zugleich Erfahrung, verstanden als Widerfahrnis des Fremden. Überwältigt von deren unmittelbarer Wirkung bleibt denen, die den Affekten ausgesetzt ist, nur die temporäre Anverwandlung an die jeweils dominierende Leidenschaft. Die Haltung der Anverwandlung aber zielt auf die somatische und intellektuelle Erfahrung, ja Widerfahrnis der Kraft und Energie fremder Leidenschaft, ohne mit dieser eins zu werden und zu verschmelzen. Der vollständigen Verwandlung durch identifizierende Einfühlung wirken in Le Prophète die harten Kontraste und Brüche im Gleiten der Bilder entgegen. Sie unterbrechen den Zug zur Einswerdung, der von den einzelnen Bildern ausgeht. Mit der Unterbrechung (in) der Anverwandlung öffnet sich ein Abstand zum Zustand purer Überwältigung und eine Reflexionsreserve, die Einsicht möglich macht.
Voraussetzung dafür ist die Erfahrung und das Eingeständnis eigener Ohnmacht. Sie grundiert, so man nur zu sehen und zu hören vermag, die prächtigen Bilder von Reichtum, Größe und Macht. Ihre Stimme, in der Traumerzählung manifest vernehmbar, durchzieht und kommentiert seitdem unhörbar alle szenischen Exaltationen. Diese Erfahrung wirkt dem Sog entgegen, Schwäche in vorgebliche Stärke umzumünzen und sich mit der Macht gemein zu machen. Die Unterbrechung dieser Reaktionsbildung befreit die Leidenschaften aus der Bündelung und Fesselung an die Macht. Sie ermöglicht es, sich der ganzen Vielfalt an Leidenschaften in Le Prophète anzuverwandeln: Ich/triumphierender König, Ich/Rächerin, Ich/sentimental Liebender, Ich/empörter Rebell, Ich/flehende Mutter, Ich/lüsterner Zwingherr, Ich/finsterer Verschwörer, Ich/kleines Kind und so fort. Nicht Einfühlung und Einswerdung sind damit intendiert, sondern die Erfahrung einer Korrespondenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen. Sie lässt das vermeintlich Eigene fremd werden und im Fremdgeglaubten die vertrauten Züge des Eigenen erkennen. In der Anverwandlung wird die Grenze zwischen der eigenen und der fremden Leidenschaft durchlässig. Beide existieren nicht mehr als geschlossene Gestalt. In der Anverwandlung an fremde Leidenschaften innerhalb und außerhalb des Ich sind die Zuschauenden und Zuhörenden zugleich bei sich und außer sich. Vielfältig geteilt durch die Vielfalt der Leidenschaften teilt jede und jeder diese Vielfalt der Teilung mit den anderen Zuschauenden und Zuhörenden. Im Taumel der Affekte in Giacomo Meyerbeers Le Prophète ist eine geteilte Gemeinschaft fremder Leidenschaften im Werden. Wer sich ihr öffnet, der kann sich von einer Leidenschaft fürs Fremde affizieren lassen. Geteilt mit anderen in einer Affekt-Gemeinschaft unter Fremden würde sie zum Triebgrund eines neuen Enthusiasmus und eines »gemeinsamen Erscheinens«92 in einer anderen Revolution.
Endnoten
- 1 Marx/Engels: [Manifest der kommunistischen Partei]«, in: dies.: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 1, Berlin 1951, S. 17 – 57, hier S. 28.
- 2 Honoré Daumier veröffentlichte seine Karikaturen zu Beginn der 1830er Jahre in der Wochenschrift La Caricature und danach in der Tageszeitung Le Charivari. Sein berühmtestes Bild aus dieser Zeit ist Gargantua, das den König Louis Philippe als fressendes und saufendes Monster zeigt, das mit seiner Riesenzunge die Bürger:innen verschlingt. Es brachte Daumier eine Haftstrafe von einem halben Jahr Gefängnis ein.
- 3 Gleichwohl blieb der »Judeneid«, der jüdische Menschen in Rechtsstreitigkeiten mit Nichtjuden auf die Anerkennung christlicher Rechtsvorstellungen verpflichtete, in Frankreich bis 1846 in Kraft. Unberührt von den liberalen Ansätzen zur Gleichstellung bleibt der durchgängige Antisemitismus in der französischen Gesellschaft. Siehe dazu: Hallman, Diana R.: Opera, Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France, Cambridge 2007.
- 4 Siehe dazu Lacombe: »The ›machine‹ and the state«, S. 22 f.
- 5 Gerhard: Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts.
- 6 Vgl. Hervé: »The ›machine‹ and the state«, S. 24 f.
- 7 Véron, Louis-Désiré: Mémoires d’un bourgeois de Paris comprenant la fin de l’Empire, la Restauration, la Monarchie de Juillet, et la République jusqu’au rétablissement de l’Empire, Bd. III, Paris 1856, S. 178 f. »Eine Oper in fünf Akten braucht unbedingt eine hochdramatische Handlung, die die großen Leidenschaften des menschlichen Herzens zusammen mit geschichtlichen Mächten und Interessen ins Spiel bringt. Die Handlung muss sich dabei den Augen unmittelbar verständlich wie die Choreographie eines Balletts abspielen. Die Chöre sollen eine leidenschaftliche Rolle spielen, sie gehören sozusagen zu den interessantesten Figuren des Stücks. Jeder Akt muss Kontraste bieten, in den Dekorationen, den Kostümen und vor allem in den geschickt vorbereiteten Situationen.« (Übersetzung G. H.)
- 8 Zum Apparat der Opéra, der Grands Opéras produzierte, siehe im Folgenden: Hervé: »The ›machine‹ and the state«.
- 9 Zum Kernbestand an Grands Opéras zählen La Muette de Portici (1828) von Daniel-François-Esprit Auber, La Juive (1835) von Fromental Halévy, Robert le Diable (1831), Les Huguenots (1836), Le Prophète(1849) und L’Africaine (1865), alle von Giacomo Meyerbeer.
- 10 Véron: Mémoires d’un bourgeois, ebd. »Ich wage zu behaupten, dass M. Scribe von allen Dramatikern am besten verstanden hat, was die Oper ausmacht.« (Übersetzung G. H.)
- 11 Adorno, Theodor W.: [Bürgerliche Oper], in: ders.: Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1998, S. 24 – 39, hier S. 29.
- 12 Siehe dazu Henze-Döhring, Sabine/Döhring, Sieghart: Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra. Eine Biographie, München 2014.
- 13 Zum Antisemitismus Wagners und seiner rhetorischen Vernichtungsstrategie gegenüber Meyerbeer siehe Fischer, Jens Malte: »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2000 und Henze-Döhring/Döhring: »Meyerbeer und Richard Wagner«, in: dies.: Giacomo Meyerbeer, S. 143 – 154.
- 14 Walter Benjamin berichtet darüber in: Benjamin, Walter: [Über den Begriff der Geschichte], in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 691 – 704, hier S. 702. Siehe auch: Klein, Stefan: »Die Entmachtung der Uhren«, in: DER SPIEGEL, 29. Dezember 1997, S. 92 – 101.
- 15 Koselleck, Reinhart: »Einleitung«, in: ders./Brunner, Otto/Conze, Werner (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV; Décultot, Elisabeth/Fulda, Daniel (Hrsg.): Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, Berlin 2016.
- 16 Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M. 1976.
- 17 »[L]es progrès de la raison humaine ont préparé cette grande revolution, et c’est a vous qu’est spécialement imposé le devoir de l’accélérer.« de Robespierre, Maximilian Marie Isidore: [Sur la Constitution], in: ders.: Oeuvres Complètes, Bd. 9, hrsg. v. Marc Bouloiseau u. a., Paris 1958, S. 495. Die Erfahrung einer Beschleunigung der Zeit ist auch der Ausgangspunkt von Maria Birbilis Abhandlung: Die Politisierung der Oper im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014.
- 18 Kant, Immanuel: [Der Streit der Fakultäten], in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XI, Frankfurt a. M. 1964, S. 357, 361.
- 19 Ebd., S. 359. Kant hat dem Affekt nicht ganz getraut. Weil er Leidenschaft ist, verdiene er Tadel per se, den aber der Zug des Enthusiasmus ins Idealische wieder wett macht.
- 20 Siehe Koselleck: [›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien], in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 349 – 375.
- 21 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Phänomenologie des Geistes, Berlin 1970, S. 331.
- 22 Hegel: [Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte], in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, 1837/40, S. 529.
- 23 François Guizot, dem Minister des Bürgerkönigs Louis Philippe zugeschriebenes Zitat, das den Zeitgeist der Epoche artikuliert.
- 24 Hegel: Ästhetik, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 2, Berlin/Weimar 1976, S. 566.
- 25 Zu dieser Wendung zur Geschichte gehören auch die Versuche zur Restauration, wie sie etwa in Adam Müllers politisch-romantischer Verklärung des mittelalterlichen Ständestaats und anderen Versionen des vormodernen romantischen Antikapitalismus anzutreffen sind.
- 26 Dabei geht es auch um die Schreibung einer Nationalgeschichte der (noch) nicht geeinten deutschen Nation. In der noch jungen Germanistik etwa konzentriert sich das Interesse auf die poetischen Artefakte des Mittelalters, die eine Kulturgeschichte der deutschen Nation begründen sollen. Beispielhaft dafür kann die zweite Wiederentdeckung des Nibelungenlieds 1806 nach der Niederlage Preußens gegen Napoléon stehen.
- 27 Siehe Fulda, Daniel: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin 1996; White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im neunzehnten Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991 (zuerst in englischer Sprache 1973).
- 28 Vgl. Schlaffer, Hannelore/Schlaffer, Heinz: Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt a. M. 1975.
- 29 Zur Genese der Figur der Verlebendigung im 18. Jahrhundert siehe Heeg, Günther: »Reenacting History: Das Theater der Wiederholung«, in: ders./Braun, Micha/Krüger, Lars/Schäfer, Helmut (Hrsg.): Reenacting History. Theater & Geschichte, Berlin 2014, S. 10 – 39.
- 30 Zum Geschichtsbild siehe Heeg: Das transkulturelle Theater, Berlin 2017; Ebbrecht, Tobias: »Die Liebe zum Bild. Nostalgie, Fetisch, Dialektik. Das Bild in der Erinnerungskultur«, in: Extrablatt (Mai 2019), S. 13 – 19; Hensel, Andrea: Die Verwandlung der Bilder. Karl Friedrich Schinkels Bühnendekorationen, Weimar 2021. Zur historischen Einbildungskraft in der Grand Opéra siehe Hibberd, Sarah: French Grand Opera and the Historical Imagination, Cambridge 2009; Newark, Cormac: Staging Grand Opera. History and the Imagination in Nineteenth-Century Paris, Oxford 1999.
- 31 von Brühl, Karl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern zu Berlin unter der Generalintendanz des Herrn Grafen von Brühl, Berlin 1819 – 1831, Vorwort o. S.
- 32 Vgl. Hensel: Die Verwandlung der Bilder.
- 33 Hugo, Victor: [Préface de Cromwell], in: ders.: Oeuvres Complètes, Bd. 12, hrsg. v. Jean-Pierre Reynaud, Paris 2002, S. 19 f. (»Man beginnt heute zu erkennen, dass die genau wiedergegebene Örtlichkeit eines der wichtigsten Elemente des Wirklichen ist. Es sind nicht allein die sprechenden oder handelnden Personen, die im Geist des Zuschauers ein getreues Bild der Ereignisse entstehen lassen. Der Ort, an dem ein grauenvolles Ereignis stattgefunden hat, wird zu einem schrecklichen und davon untrennbaren Zeugen, zu einer Art von stummem Mitspieler, dessen Abwesenheit die großartigste historische Szene unvollständig erscheinen lassen muss« (Übersetzung G.H.)).
- 34 Siehe Braun/Heeg/Krüger u.a. (Hrsg.): Reenacting History, Berlin 2014.
- 35 Schiller, Friedrich: [Schillers Gespräche], in: Blumenthal/Lieselotte, von Wiese/Benno (Hrsg.): Schillers Werke, Bd. 42, Weimar 1967, S. 385.
- 36 »Collection de mises en Scène, rédigée et publiée par M.L. Pallianti«, in: H. Robert Cohen (Hrsg.): Original Staging Manuals for Twelve Parisian Operatic Premieres, New York 1990. Im Fall von La Juive sind die Inszenierungsanweisungen zur Uraufführung, wie Arnold Jacobshagen gezeigt hat, nicht von Pallianti, sondern von Louis Duverger. Siehe: Jacobshagen, Arnold: »Oper als szenischer Text: Louis Palliantis Inszenierungsanweisungen zu Meyerbeers Le Prophète«, in: Brzoska, Matthias/Jacob, Andreas/Strohmann, Nicole K. (Hrsg.): Giacomo Meyerbeer: Le Prophète. Edition – Konzeption – Rezeption, Hildesheim 2009, S. 181 – 212.
- 37 Siehe Jacobshagen: »Oper als szenischer Text«, S. 201 f.
- 38 Carus, Carl Gustav: »Bühnenkunst im Jahr 1835«, in: Denkwürdigkeiten aus Europa, mitgeteilt von Carl Gustav Carus, zu einem Lebensbild zusammengestellt von Manfred Schlösser, Hamburg 1963, zit. n. Staatsoper Stuttgart (Hrsg.): Fromental Halévy:La Juive. Programmheft, Stuttgart 2008, S. 38 – 41, hier S. 39 f.
- 39 Le Brun, Charles: Caractères des passions, Paris 1698.
- 40 Engel, Johann Jacob: Ideen zu einer Mimik, Erster/Zweyter Theil, Berlin 1785/86. Neudruck in einem Band, Darmstadt 1968; Sauder, Gerhard: Empfindsamkeit, Bd. I Voraussetzung und Elemente, Stuttgart 1974; Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2000.
- 41 Siehe Žižek, Slavoj: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Vogl, Joseph (Hrsg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 133 – 164.
- 42 Die sich im Anschluss auf dem Floß der Medusa abspielende Katastrophe kehrt wieder in Géricaults Gemälde Das Floß der Medusa.
- 43 Libretto von Etienne de Jouy und Hippolyte Bis.
- 44 Das Libretto zu La Muette de Portici stammt von Scribe und Germain Delavigne.
- 45 Auch die zu späte Offenbarung Éléazars gegenüber dem Brogli, Rachel, die auf dem Höhepunkt des Pogroms gerade in einen Kessel mit kochendem Wasser stürzt, sei in Wahrheit, seine, des christlichen Kardinals Tochter, die der Jude Éléazar gerettet und an Kindes Statt angenommen hat, fällt unter diese Kategorie, der durch Verkennung bewirkten.
- 46 Das Satyrspiel zu dieser tragischen Verkennung ist die Augenbinde, die Raoul am Ende des 1. Akts angelegt wird, um der Königin heimlich zugeführt zu werden. Zum Stilbruch, die solch ein Umgang mit dem Helden-Tenor der Opéra (drame tragique) bedeutet, siehe Gerhard: »Tragödie mit den Mitteln der Farce. Stilbrüche und Gattungsmischung in Meyerbeers Les Huguenots und anderen Opern aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts« in diesem Band.
- 47 Dem Führer des Aufstands der Fischer in Neapel, Masaniello in La Muette de Portici, geht es darum, die Vergewaltigung seiner Schwester zu rächen.
- 48 Beide sind zugleich in die Liebesintrige mit eingebunden. Nélesku liebt heimlich Sélika. Don Pédro ist der (ungeliebte) Mann von Inès, die diesen nur geheiratet hat, um Vasco aus dem Gefängnis freizubekommen.
- 49 Schütze, Stefan: »Über die Stumme von Portici«, in: Caecilia 12, (1830), S. 29 – 34, hier S. 33, zit. n. Gerhard: Die Verstädterung der Oper, S. 120.
- 50 Gerhard: Die Verstädterung der Oper, ebd.
- 51 Vgl. ebd., S. 170 ff.
- 52 Die Formulierung findet sich in Kluges Film Die Macht der Gefühle von 1983. Alexander Kluge hat sie von Werner Schroeter übernommen.
- 53 Marx: [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte], S. 316.
- 54 Ebd., S. 226.
- 55 Im Weiteren folge ich den Ausführungen zu Marx in Heeg: »Reenacting History: Das Theater der Wiederholung«, in: Braun/Heeg/Krüger/Schäfer: Reenacting History, S. 10 – 39.
- 56 Marx: [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte], S. 226.
- 57 Rosenberg, Harold: »The Resurrected Romans«, in: ders.: The Tradition of the New, New York 1960, S. 154 – 177, hier S. 156.
- 58 Marx: [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte], S. 227.
- 59 »Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen.« Ebd.
- 60 Ebd., S. 236.
- 61 Ebd., S. 227.
- 62 Die Ursprungsferne und Sekundarität der Wiederholung ermöglicht, mit Kierkegaard gesprochen, ein Erinnern »nach vorwärts«.
- 63 Marx selbst versucht, Geschichte als Theater der Wiederholung allein den kurzatmig-ekstatischen bürgerlichen Revolutionen zuzuschreiben. Seine Ausführungen zum Vorgehen der proletarischen Revolution im Gegensatz dazu bleiben aber kryptisch bzw. lassen sich als eine unendliche Reihe von Wiederholungen im Sinne von »Durcharbeitungen« vergangener Kämpfe verstehen. Da scheint Samuel Becketts »Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern« nicht allzu fern zu sein (Beckett, Samuel: Worstward ho. Aufs Schlimmste zu, Frankfurt a. M. 1989, S. 7). Wenn Marx die proletarische Revolution mit der Arbeit eines Maulwurfs vergleicht – »Brav gewühlt, alter Maulwurf« (Brumaire 305) –, ist die Assoziation mit Franz Kafkas rhizomatischem Der Bau nicht von der Hand zu weisen.
- 64 Ingo Uhlig hat die Genealogie dieses Denkens im 19. Jahrhundert im Kontext des Ereignisbegriffs von Gilles Deleuze beschrieben. Vgl. Uhlig, Ingo: Poetologien des Ereignisses bei Gilles Deleuze, Würzburg 2008.
- 65 Siehe Demandt, Alexander: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978; Leiteritz, Christiane: Revolution als Schauspiel. Beiträge zur Geschichte einer Metapher innerhalb der europäischamerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin/New York 1994; Lehmann, Hans-Thies: »Dramatische Form und Revolution in Georg Büchners Dantons Todund Heiner Müllers Der Auftrag«, in: ders.: Das politische Schreiben, Berlin 2002, S. 127 – 147; Heeg: »Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution. Überlegungen zum Begriff der kulturellen Flexionen«, in: ders./Denzel, Markus A. (Hrsg.): Globalizing Areas. Kulturelle Flexionen und die Herausforderung der Geisteswissenschaften, Stuttgart 2011, S. 15 – 28.
- 66 Kierkegaard: Die Wiederholung, S. 22.
- 67 Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. 1987, S. 69 – 90, hier S. 84.
- 68 Meyerbeer, Giacomo: [Tagebucheintrag vom 23. Februar 1848], in: ders.: Briefwechsel und Tagebücher, hrsg. v. Heinz Becker und Gudrun Becker, Bd. IV, Berlin/New York 1985, S. 368.
- 69 Siehe dazu: Roberts, John H.: »Meyerbeer: Le Prophète and L’Africaine«, in: Charlton: The Cambridge Companion to Grand Opera, S. 208 – 232, hier S. 216 f.
- 70 Vgl. ebd., S. 214.
- 71 Siehe dazu: Henze-Döhring/Döhring: Giacomo Meyerbeer, S. 193.
- 72 Meyerbeer: [Tagebucheintrag vom 14. Juli 1848], in: ders.: Briefe und Tagebücher, Bd. 4, a. a. O., S. 410.
- 73 Siehe die luzide Analyse von Gerhard: »Sprachvertonung und Gestik in Meyerbeers Le Prophète«, in: Königsdorf, Jörg/Roesler, Curt A. (Hrsg.): Europa war sein Bayreuth. Symposion zu Leben und Werk von Giacomo Meyerbeer. 29. September – 1. Oktober 2014 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, Berlin 2015, S. 231 – 236, hier S. 232, 234.
- 74 Vgl. Henze-Döhring/Döhring: Giacomo Meyerbeer, S. 135.
- 75 Siehe Birbili, Maria: »Die doppelte Frauenbesetzung in der Dramaturgie von Le Prophète: eine Quellenbesprechung«, in: Brzoska/Jacob/Strohmann (Hrsg.): Giacomo Meyerbeer, S. 213 – 230.
- 76 Vgl. Gerhard: Die Verstädterung der Oper, S. 223; vgl. Birbili: »Die doppelte Frauenbesetzung«, S. 213 – 230.
- 77 Vgl. Gerhard: Die Verstädterung der Oper, S. 245.
- 78 In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reagieren die Arbeiten der Psychoanalytiker Otto F. Kernberg und Heinz Kohut auf die Zunahme narzisstischer Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen. Vgl. hierzu: Kohut, Heinz: Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt a. M. 1976; Kernberg, Otto F.: Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus, Frankfurt a. M. 1978. Kohut und Kernberg stimmen in der Diagnose der narzisstischen Persönlichkeit überein. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf deren Ätiologie. Seit den neunziger Jahren ist eine Fülle von mitunter populärwissenschaftlichen Publikationen zum Narzissmus als generellem kulturellen und gesellschaftlichen Phänomen zu verzeichnen.
- 79 Jacobshagen: »Oper als szenischer Text«, S. 181 – 202.
- 80 Pallianti, Louis: Mise en scene Le Prophète, wieder abgedruckt in: Cohen: The Original Staging Manuals for Twelve Parisian Operatic Premieres, S. 151 – 183.
- 81 Meyerbeer geht es darum, ein Modell für weitere Inszenierungen zu schaffen, vor allem für Aufführungen auf Provinzbühnen. Sein Drängen auf die rasche Veröffentlichung einer Modellinszenierung unterstreicht, wie wichtig Meyerbeer die szenische Gestalt der Oper war.
- 82 »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.« Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: ders.: MEW, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus des ZK der SED, Bd. XXIII, Berlin 1984, S. 86.
- 83 Ebd., S. 86 f.
- 84 Siehe dazu Moeckli, Laura: »›Nobles dans leurs attitudes, naturels dans leur gestes‹. Singers as Actors on the Paris Grand Opéra Stage«, in: Schaffer, Anette/Keller, Edith/Moeckli, Laura u.a. (Hrsg.): Sänger als Schauspieler. Zur Opernpraxis des 19. Jahrhunderts in Text, Bild und Musik, Schliengen 2014, S. 11 – 40.
- 85 Engel: Ideen zu einer Mimik.
- 86 Austin, Gilbert: Chironomia or A Treatise of Rhetorical Delivery, London 1806.
- 87 Siehe dazu ausführlich Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt; siehe auch Schaffer: »Der bewegte Leib. Das Bild und die französische Schauspielpraxis des 19. Jahrhundert«, in dies./Keller/Moeckli u.a. (Hrsg.): Sänger als Schauspieler, S. 41 – 73.
- 88 Vgl. Schroedter, Stephanie: »Städtische Bewegungsräume auf der Bühne. Giacomo Meyerbeers Grands Opéras im Kontext urbaner Tanzkulturen«, in: Schaffer/Keller/Moeckli u.a. (Hrsg.): Sänger als Schauspieler, S. 151 – 185.
- 89 Siehe dazu den Beitrag von Gerhard: »Tragödie mit den Mitteln der Farce« in diesem Band.
- 90 Molière: Le Bourgeois Gentilhomme (1670), Jarry, Alfred: Ubu Roi (1896), Brecht, Bertolt: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941).
- 91 Anselm Gerhard versteht darunter »szenische Höhepunkte, in denen das Entscheidende zwar pantomimisch verdeutlicht, aber doch gleichzeitig mit gesungenen Worten unterstrichen wird, wobei die musikalische Gestaltung der gesungenen Worte so angelegt ist, dass jedem hörenden Zuschauer die besondere Bedeutung dieser Situation nicht nur ins Auge, sondern vor allem ins Ohr springt.« Gerhard: »Zugespitzte Situationen. Gestische Verständlichkeit und parola scenica in der französischen und italienischen Oper nach 1820«, in: Schaffer/Keller/Moeckli u.a. (Hrsg.): Sänger als Schauspieler, S. 111 – 123, hier S. 112.
- 92 Vgl. Nancy, Jean-Luc: »Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ›Kommunismus‹ zur Gemeinschaftlichkeit der ›Existenz‹«, in: Vogl, Joseph (Hrsg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 194 – 196.