Fremde Leidenschaften
Die Grand Opéra als Theater der Wiederholung
von Günther Heeg
Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)
Assoziationen: Musiktheater
I Traum und Trauma. Die Grand Opéra als Traumproduzent und Seismograph gesellschaftlicher Erschütterungen
1. Vexierbild
Die Hochzeit der Grand Opéra in Paris fällt in die Zeit zwischen zwei Revolutionen, der Julirevolution des Bürgertums von 1830 und der proletarischen Februarrevolution 1848 gegen die Herrschaft dieses Bürgertums und seines Souveräns, des »Bürgerkönigs« Louis Philippe. Die kurze Zeitspanne dazwischen, die Zwischenzeit der Julimonarchie, bringt den Take-off einer enormen Beschleunigung der Zeit selbst in der rasanten Veränderung des ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens. Zwar lässt sich in Frankreich in den Jahren der Julimonarchie (noch) nicht von einer mit England vergleichbaren industriellen Revolution reden, die Akkumulation des Kapitals findet noch nicht so sehr in der Produktion, sondern überwiegend in der Zirkulationssphäre statt. Im Finanzsektor, an der Börse und in riskanten Spekulationen vollzieht sich die schnelle Anhäufung und auch der Verlust von immensen Summen. Eine Goldgräbermentalität breitet sich rasch aus und jeder, der über etwas Kapital verfügt, hofft, etwas vom Gewinn für sich zu erlangen. So entsteht neben der alten Aristokratie die neue Klasse des bürgerlichen Finanzkapitals. Dessen Physiognomie hat Honoré de Balzac, der genaue Porträtist der sozialen Charaktermasken der Julimonarchie, in den Romanen seiner Comédie humaine nachgezeichnet. Für sie allesamt scheint zuzutreffen, was Karl...