Erster Teil. Die Vormoderne. II. Theater als besonderes gesellschaftliches Feld
Das Theater der Oral Performance
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Assoziationen: Performance Afrika
Mündliche Dichtung (oral literature) am Beispiel der Ntshoma-Genres in Südafrika studierend, kam Harold Scheub in den 1960er Jahren zu dem Schluss, man betrachte hier nicht eine Form der Kurzerzählung, „sondern eine theatrale Produktion mit ihren eigenen, nur ihr zugehörigen Eigenarten“. Das Ntsomi in Dörfern der Xhose (Südafrika) behandelte in der Regel kurze Geschichten. Weibliche Künstler stellten Legenden, mythische Vorgänge und Erzählungen alltäglicher Thematik zur Freizeitgestaltung dar. Die Xhosa-Darstellerin „arbeitet mit dem gesprochenen Wort, das von dem geschriebenen Wort sehr verschieden ist. Die verbalen Elemente von Ntsomi sollten auch andere gleichermaßen fundamentale künstlerische Materialien, wie Tanz und Lied, nicht verdecken. Das Wesen der Kunstform verlangt, daß Charaktere, Handlungen, selbst Ideen in hohem Maße durch Körperbewegung […] und Musik, durch Lied und den rhythmischen Rahmen der Produktion enthüllt werden.“88 Weniger das beschreibende Wort, vielmehr Körperbewegung, Geste, stimmliche Dramatik, Gesang und das allumfassende rhythmische Rahmenwerk bestimmen ihre Erzähltechnik. Da Körperbewegung, Gesten und Mimik für die Produktion so wesentlich sind wie das Wort, entstehen die Bilder durch das Verbinden von Sprache und Gesten. Dialoge werden nicht nur gesprochen, sondern durch unterschiedliche Körperhaltungen und Rhythmen differenziert gespielt und einzelne Zuschauer werden von der Darstellerin mitunter als Elemente ihrer Darstellung benutzt. „Darstellungen wie die von Frau Macutsha Sidima […] beruhen in starkem Maße auf Gesten. Solche Künstler finden es oft unmöglich, auf einer Stelle zu verharren. Sie bewegen sich in das Publikum hinein, genau die Handlungen mimend, die die Erzählung ausdrückt. Frau Sidima schöpft Essen mit ihren Händen, kaut es mit fröhlicher Übertreibung. Sie erklettert vorgestellte Bäume, und ihr Körper widerspiegelt die magische Veränderung von Menschen zu Tieren.“89
„Storytelling is a performing art“, leitet Tedlock seine Herausgabe von Geschichten der Zuni ein. „At Zuni and elsewhere, storytellers have at least as much in common with dramatists, actors, orators and poets as they do with writers of prose fiction.“ Der Erzähler-Darsteller verwebe das Rollenzeigen, das „klassische“ Merkmal von Theater, und das Sich-Präsentieren als Geschichten-Darbietender ineinander. Dialog ist ein Hauptelement in den Geschichten. Er wird direkt dargestellt, nicht nur umschrieben, oft von den Performern einfach ausagiert, „sounding deliberate or hesitant, harsh or gentle, pained or pleased“.90 Elemente der Sprache und Stimme haben ihr physisches Gegenstück im Mimischen (mime) und in Gesten, beobachtete Robert Cancel im Geschichtenerzählen der Tabwa (Sambia). Mimisches oder das Ausagieren von Rollen sei ein Zwischenschritt zwischen dem Dramatischen der Stimme und der physischen Geste. Je nach persönlicher Vorliebe und individuellem Stil agierten einige Geschichtenerzähler ziemlich energisch Vorgänge aus, während andere weit zurückhaltender sind. Die Gesten seien das gebräuchlichste Element der Performance. Sie bestehen aus dem expressiven Gebrauch der Hände und des Körpers, die die narrativen Ereignisse eher andeuten als im engen Sinn nachahmen und so mit dem Publikum visuell sehr konkret kommunizieren.91
Die Darstellungsweisen afrikanischer Darsteller-Erzähler-Sänger, die betont ihr besonderes, ihr darstellerisches Können ausstellen, sind vielfältig. Sie reichen von der bewegungsreichen, Räume durchstreifenden gestisch-mimischen Aktion bis zum körperlich fast bewegungslosen Sprechen/Singen, von der Ein-Personen-Darstellung, in der man ohne musikalische Rhythmisierung agiert, über die Ein-Personen-Darstellung, in der der Handelnde, ein Instrument spielend und rezitativisch singend, sich selbst musikalisch „organisiert“, bis zu Aufführungen, in denen eine Person gestisch-mimisch und verbal erzählend oder/und singend Geschichten produziert, während Musiker, manchmal auch pantomimische Darsteller, die Darstellung begleiten. Und sie reichen von Produktionen, denen das Dialogische strukturell eingeschrieben ist, die ohne Einwürfe von Zuschauern und entsprechende Repliken der Darstellenden nicht beginnen und/oder weitergehen, bis zu Darbietungen, die die praktisch-sinnliche Einmischung des Publikums auf ein Minimum reduzieren.
In den Heldengeschichtendarstellungen und den Preislieddarstellungen zeigt sich besonders die Vielfalt der gestalterischen und kommunikativen Formen. Das MWINDO-Epos, die bedeutendste Leistung unter einer Vielzahl von Geschichtenproduktionen in dem zahlenmäßig kleinen Volk der Nyanya (Zentralafrika), berichtet von einem Gründungshelden, der über übernatürliche Kräfte verfügt. Er ist klein, gilt als Mensch, nicht als göttlich-übermenschliches Wesen. Als Sohn eines Chefs wird er von diesem verstoßen und verfolgt, besteht aber alle Prüfungen und wird nach Teilung des sehr kleinen Reiches schließlich Chef. Er erscheint als Gegner böser Kräfte und Helfer des Volkes, als ein großzügiger Führer. Nach vielen Abenteuern kehrt er ins Dorf zurück und nimmt dort seinen Sitz, Zeichen der Verankerung dieses Symbols schöpferischer Potenz und idealer Führerschaft, in der Dorfgemeinschaft ein.
Das Epos wurde wie andere Geschichten zur besonderen Unterhaltung vorgetragen. Seine Erzähler waren Darstellungsspezialisten mit Lehrlingen und Helfern, doch ohne besonderen sozialen Status wie die in Kasten zusammengefassten westafrikanischen Griots (Darsteller). Sie begingen rituelle Handlungen und wahrten entsprechende Tabus, um das Gelingen ihrer Kunst zu sichern. Die Produktion selbst war für alle öffentlich. Gewöhnlich luden ein Chef, ein Dorfvorsteher oder einfach der Alte einer Linie des Dorfes einen Sänger ein, um mit verschiedenen Episoden des Epos, das nie vollständig in einer Performance dargestellt wurde, Gäste zu unterhalten, oft auf dem zentralen Dorfplatz. Episode nach Episode wurde das Epos erst gesungen, dann erzählt. Der Performer tanzte, mimte und stellte, die Rolle des Helden übernehmend, „dramatisch“ die Hauptgesichtspunkte der Story dar. Junge Männer begleiteten die Darstellung mit Trommelmusik. Zusammen mit Zuschauern sangen sie auch den Refrain der Lieder, die Bestandteile der epischen Darstellung sind, und sie wiederholten einen Satz des Darstellers, wenn dieser eine seiner kurzen Pausen machte.92
Das Theatrale der Preislieddichtung, etwa als Hymne auf hervorragende Krieger, Chefs und Könige, zeigt der Bericht von Missionaren aus dem Jahre 1912 über Performances der Basotho (Südafrika). Der Darsteller war förmlich getrieben, sein Preisrezitativ mit dem ganzen Körper mimisch zu verdeutlichen:
In einer großen Versammlung, in der man sitzend eine königliche Botschaft zu hören erwartete, scheint ein Mann plötzlich von einem unwiderstehlichen Teufel ergriffen. Er springt vorwärts, paradiert vor seinen Freunden, mit hocherhobenem Kopf, weiten Augen und starrem Blick, sein Gesicht verzerrt, seine Stimme in hoher Tonlage. Er macht heftige Gesten. Er deklamiert seine Lobpreisungen, aber ohne die Intonation seiner Stimme zu variieren und mit einem solchen Wortstrom, daß es sehr schwierig ist, ihn zu verstehen. Er verhält sich, als wäre er von Sinnen, besessen und verrückt, und als er das Ende seines langen Gedichts erreicht, macht er einige wilde Sprünge. Seine Füße wirbeln den Staub auf, seine Hand skizziert die Geste eines Kriegers, der seinen Feind trifft oder ihn mit einem Speer sticht. Dann entspannen sich seine Gesichtszüge, er lächelt zufrieden und geht ruhig zu seinem Platz bei seinen Freunden, um dem zuzuhören, der ihm bei dieser seltsamen Übung folgt, und um dessen Grimassen zu bewundern.93
Unverzichtbar, für viele zentral ist das Wort/das Sprechen. „Menschen des Wortes“ nannte Sory Camara die Griots-Darsteller der westafrikanischen Malinké.94 In seiner Einleitung zur Kunst der Xhosa-Darstellerin Zenani zitiert Harold Scheub die Performerin Frau Zenani, die betont, dass die Welt und das Wort das Material des Geschichtenerzählers seien.95
Wenn Geschichten-Erzähler der Shona in Zimbabwe ihre Darstellung beenden, gebrauchen sie die metaphorische Formel: Hier starb der Geschichtenerzähler („That is where the storyteller died“). Obwohl die Performer das Spezifische, ihnen eigenartige ihrer Darstellungen betonen, ist das allgemeine Verständnis, dass nicht sie, sondern die Gemeinschaft die „Eigentümer“ sind. Deshalb muss die Erzählerin am Ende einen symbolischen Tod sterben. Sie „sterbe“, um anderen zu ermöglichen, die Geschichte auf deren besondere Weise zu erzählen. Der „Tod“ werde gewöhnlich mit spezifischen sprachlichen Äußerungen und in ritueller Haltung gespielt. Sie kann entweder sagen, das ist das Ende der Darstellung oder sich niederlegen wie in Trance. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sofort jemand aus dem Publikum kommt, um offen gelassene Passagen der Geschichte zu füllen oder mit einer ganz anderen Geschichte die Darstellung fortzusetzen.96
Die Spannweite der Darstellungsweisen spricht, zumindest in vielen Fällen, von der – groben – soziokulturellen Trennung des „Hochkulturellen“ und „Niedrig-Trivialen“, einer Kluft, die auch für durchgängig orale Gesellschaften gilt. Die Künstlerinnen in den Dörfern der südafrikanischen Xhosa fanden es oft unmöglich, auf einer Stelle zu verharren. Sie bewegten sich in das Publikum hinein, genau die Handlungen mimend, die die Erzählung ausdrückt. Einzelne Mitglieder des Publikums wurden von der Darstellerin mitunter als Elemente ihrer Darstellung benutzt.
Bei den Madinka Westafrikas gab/gibt es sozial differenzierte Schichten berufsmäßiger Erzähler-Darsteller. Die Griots der Könige und der Aristokratie waren/sind privilegierte Bewahrer und Performer des SUNJATA-Epos über den Gründungshelden des mittelalterlichen Mali-Reiches, mit dem spätere Herrscher die Rechtmäßigkeit ihrer Machtstellung begründeten. Offensichtlich primär Gestalter des Verbalen (maîtres de parole), beschränken sie körperlich-gestisches Handeln auf ein Mindestmaß. Ihre Darbietungsweise ist vornehmlich ein rhythmischer Sprech-Gesang, begleitet, gleichsam organisiert, durch die kora, das harfenähnliche Saiteninstrument, Xylophon oder eine kleine Flöte. Die Interaktion mit dem Publikum eng begrenzend, betonen sie die Distanz zur „Masse“, und damit ihre privilegierte Stellung an der Seite der Herrschenden. Darstellungs- und Kommunikationsweise erzählen von der Hierarchisierung ihrer Gesellschaft.
Die körperlich-gestische Zurückhaltung der Performer des SUNJATA-Epos kontrastiert(e) stark mit der Spielweise der sozial „untenstehenden“ Gruppe der Griots, die als wandernde professionelle Unterhalter Theater für die Unteren machten. Singend und tanzend stellen sie betont körperlich agierend und gewöhnlich von Trommeln unterstützt fiktive Geschichten dar. Die Beziehung zum Publikum ist dialogisch. Immer wieder feuert es den Erzähler zum Weitermachen an. Ein erfahrener Darsteller hat gewöhnlich einen Freund unter den Zuschauern, der oft „Namu“ oder irgendeinen anderen Ausdruck der Bestätigung und Unterstützung ruft, Auftakt zu allen gesungenen Refrains, ein Bestandteil von vielen Geschichten. Im Gegensatz dazu hört ein Publikum, das einer historischen Narration wie dem SUNJATA-Epos beiwohnt, schweigend zu, ohne Zwischenrufe oder besondere Unterbrechungen. Der Griot erwartet jedoch Geldgaben. Freunde und Bekannte sollen mit ihren Beiträgen hervortreten und sie dem Griot ohne Unterbrechung der Darstellung geben. Manchmal entwickelt sich ein gewisser Wettbewerb zwischen den Zuschauern, die ihren Reichtum durch die Größe der Gabe, die sie dem Griot machen, ausstellen. Griots wenden sich auch mit preisenden Bemerkungen an bestimmte Zuschauer, die, Objekte besonderer Ehrung, verpflichtet sind, ihnen eine angemessene Belohnung zu geben.97
Ähnlich vielfältig sind die Themen und die Perspektiven auf die Welt. Einerseits behandelt man Ursprungsmythen als „ewige Wahrheiten“, berichtet affirmativ von den Taten und Biografien historischer und legendärer Helden und Könige.98 Andererseits stellt man abweichendes Verhalten, Rebellisches, produktiv-zerstörerische Trickster und Trickster-Gottheiten genussvoll aus, singt, wie die oriki (Preislieder) der Yoruba, von komplexer Widersprüchlichkeit der Dinge.99
Die Darstellungen, auch in gewissem Maße die der „wahren Geschichten“, sind in sich beweglich, pragmatisch offen für Variationen. Besonders deutlich wird das in der formelhaften Art und Weise, in der man vielfach Epen produziert. Sie werden gleichsam während des Darstellens „formiert“. Dem Skelett der jeweiligen Geschichte folgend und aufbauend auf einem Grundwissen an Bildern oder auch „Formeln“, die besonders die hoch professionellen Darsteller jahrelang einüben und als Lehrlinge trainieren, führt man die Geschichten neu auf, komponiert sie, gestaltet nicht selten einzelne Details immer wieder anders. Jede Darstellung ist jeweils eine neue Produktion, ein „anderes Werk“, wenn hier die Werkvorstellung überhaupt relevant ist. Diesem kreativen Pragmatismus gegenüber dem eigenen Schaffen (dem „Produkt“) entspricht auch das unbedenklich freie Umgehen mit Raum- und Zeitdetails.
Darsteller verwenden oft Begriffe/Wörter, welche auf Phänomene des aktuellen Zeitraums verweisen, in dem sie produzieren, das erzählte Vergangene bedenkenlos „anachronistisch“ mit unmittelbar Gegenwärtigem versetzend wie in der Performance der OZIDI-Saga der Ijo 1963 in Ibadan (Nigeria), die insgesamt sieben Nächte dauerte. In der sechsten Nacht sagte der Darsteller den Satz: „Ozidi hatte sein Bett schon gemacht“, darauf kam der Einwurf eines Zuschauers: „Seine Matte“. Bett ist heute gewöhnlich das Nachtlager, in der Ijo-Tadition aber schläft man auf Matten. Darauf der Darsteller: „Was denn? Ist es etwa falsch, das Bett zu nennen?“ Die Zuschauer lachen. Der Darsteller: „In Ordnung, dann also Matte“, und fuhr fort: „Also Ozidi sah danach, dass ihr Schlafplatz bereits gemacht war. (Ist Schlafplatz auch falsch?)“ Zuschauer: „Ist ganz korrekt.“100
Die Inszenierungen von Epen und anderen Geschichten dürften sich so auch historisch verändert haben, was aber nur in seltenen Fällen zu verfolgen ist.101 Vormoderne Erzähler-Darstellungen erscheinen als paradox. Sie vermitteln gleichsam traditionsverhaftet bekannte, oft ausdrücklich vergangene Geschichten, verändern sie jeweils im Detail, sind so sehr beweglich, offen zum Dialog, ja im Wesen dialogisch, nicht selten das Besondere, gleichsam Einzigartige der Produktion andeutend auf Neuerungen aus. Das dürfte einmal bestimmt sein durch ihre Existenzweise als oral-kommunikatives Geschehen. Mündliche Dichtung, oral performance, ist ein „Prozess, unendlich vielförmig und anhaltend“, schlussfolgerte Albert Lord nach seiner Analyse von in den 1930er Jahren beobachteten traditionellen jugoslawischen Epen.102 Jede Darstellung stehe für sich. Der Sänger mag seinen Gesang, seine Techniken von anderen gelernt haben, aber streng genommen sei jede neue Darstellung seine eigene Komposition, eine je neue. Er schaffe sein Epos während der Aufführung.103 Die Darstellung ist der Moment der Schöpfung, und zwar als ein soziales Ereignis, in der Gesellung. Das Publikum kommt und geht, begrüßt Neuankömmlinge und sagt „Auf Wiedersehen“, wenn ein Zuschauer geht, und „ein Neuankömmling mit einer besonderen Nachricht oder irgendeinem Gesprächsstoff kann das Singen für einige Zeit unterbrechen, vielleicht sogar ganz zum Aufhören bringen.“104 Tradition werde durch ständige Neu-Schöpfung bewahrt.105
Die Technik, die eine solche jeweilige Neu-Schöpfung und zugleich die immer wiederkehrende Rekonstruktion der Epen ermöglicht, ist meistens der Vorrat an stabilen Bildern und zugleich an variablen Formeln, die man für die Darstellung je nach der Situation zusammensetzt, modern gelesen „montiert“, wobei auch neue Formeln/Bilder geschaffen werden.106 Wir müssen aufhören, nach einem Original eines traditionellen Gesangs zu suchen. Unter einem bestimmten Gesichtspunkt gesehen ist jede Darstellung ein Original. In der oralen Tradition, so Lord, sei das Konzept des Originals irrelevant, das für uns so grundlegend, so logisch ist, da wir in einer Gesellschaft aufgewachsen seien, in der das Schreiben die Norm einer festen ersten Schöpfung in der Kunst fixiert habe, so dass wir glauben, es müsse für alles ein „Original“ geben.107
Das Dialogische ist dem Erzähler-Theater wesentlich eingeschrieben. Orale Kommunikation ist in sich tendenziell dialogisch im Sinne der aktiven Beteiligung aller am Geschehen. Die „orale Tradition“ werde „verkörpert“ (embodied), schreibt Julie Cruikshank zum Geschichtenerzählen indigener Völker Nordamerikas. Sich in realer Zeit ereignend, involviere es immer die Interaktion zwischen Erzählern und Zuhörern. „Geschichtenerzähler brauchen ein Publikum – eine Reaktion –, wenn das Erzählen eine wesentliche Erfahrung sein soll.“108
Die Beweglichkeit, die an Veränderungen arbeitende Produktion und das Dialogische des Erzähler-Theaters indigener Völker Amerikas oder vormoderner afrikanischer Kulturen könnten sich einmal mit ihrer historisch fast ausschließlich oralen Kommunikationsweise erklären lassen.109 In den sehr beweglichen Formen oder Darstellungsweisen scheinen aber gerade auch spezifische kollektive und individuelle Interessen zu sprechen, die als Begierde auf das Besondere, Andersartige zu lesen wären, so auch im Ansatz auf Veränderungen und, vielleicht, als undeutliche Kritik am Gegebenen als dem Normalen. Afrikanische Epen wie SUNJATA, MWINDO, OZIDI, in denen der Ausgestoßene, der „Kleine“ sozial zum „Großen“ und Mächtigen wird, auch Preisgesänge wie die oriki der Yoruba-Frauen könnten davon sprechen.110 Die Betonung des Außergewöhnlichen, des herausragenden Individuums, des Helden ist auffällig. Mwindo, ein kleiner, zu kurz geratener Jüngling, seinem mächtigen Vater völlig unterlegen, sprengt seine Fesseln durch übermächtige intellektuelle und zauberische Kräfte. So wird er zum vorbildhaften Führer der Gemeinschaft seines Dorfes. Am Schluss des Epos stellt er sich seinem Volk in wörtlicher Rede so dar: „Ich, Mwindo, der Kleine-der-soebengeboren-läuft, Macher vieler Dinge, ich berichte euch von dem Ort, von dem ich im Himmel gekommen bin. Als ich im Himmel ankam, traf ich mit Regen und Mond und Sonne und Kubikubi-Stern und Blitz zusammen.“ Sunjata (Soundjata) ist der kleine, von weitaus mächtigeren Gewalten verfolgte Mann, der lange Jahre – ähnlich wie Mwindo – im Exil verbringen muss, ehe er zum Gründer des großen Mali-Reiches des 13. Jahrhunderts emporsteigt, Veränderer der Geschichte einer ganzen Region.
Das wirft die Frage nach der Eigenart und Funktion des Besonderen oder eben des Individuellen (des Individualitätstyps) in vormodernen Kulturen auf. Kouyaté, ein Performer der SOUNDJATA-Geschichte, stellte sich als herausragendes Individuum dar, betonte das „ich“, verband das aber zugleich mit dem „wir“, mit der Linie der Griots, in der er stand. Es ist kein modernes Konzept eines Einzelnen. Seine Erzählung begann: „Ich bin Griot. Ich – Djeli Amadou Kouyaté, Sohn der Bintou Kouyaté und des Djeli Kedian Kouyaté, Lehrer in der Kunst des Erzählens. Seit undenklichen Zeiten stehen wir Kouyaté in den Diensten des Fürstenhauses Keita von Mandingo; wir sind Brunnen voller Wörter […]. Ohne uns fielen die Namen der Könige dem Vergessen heim, wir sind das Gedächtnis der Menschen. […] Ich kenne alle Herrscher, die sich auf dem Thron des Mandingo-Reiches abgelöst haben […].“111
Zu Beginn des 20. Jahrhundert stellte ein berühmter professioneller Minstrel der Thonga im südlichen Afrika seine einzigartigen Fähigkeiten so aus: „Plötzlich, mit wunderbarer Kraft, begann er den Boden mit seinen Füßen zu treten. Er hatte einen Speer in seiner Hand und tat so, als durchbohre er seine Seite und seinen Schenkel. Dann, seine Waffen hochhebend, warf er einen autoritativen Blick auf die Menge, und die, die gelacht hatten, hörten damit auf und wurden ganz schweigsam. Er blieb unbeweglich, betrachtete sie mit höchster Verachtung, undurchdringlich. […] Und dann begann er sein Lied.“112
Dieses Individuum, das besondere Fähigkeiten hat, ist Glied der Gemeinschaft; es ist kein „absolut freies“, das sich als der Mittelpunkt der Welt versteht. Die Schöpfer afrikanischer oraler Performances konnten letztlich nur als Mitglieder ihrer Familien- und Linien-Gemeinschaft handeln. Das betonen sie immer wieder. „Okabou is my name / It’s Okobou. / I am a child of Tarakiti / Clan, a child of Orua / Town“, ruft der Darsteller der OZIDI-Saga aus. Und ein paar Sätze weiter: „And Okabou, I repeat, / Okabou is my name, / Zobolo it is gave me birth.“113
88Harold Scheub: THE XHOSA NTSOMI, Oxford 1975, S. 44f.
89Ebd., S. 73.
90Tedlock: „Introduction“, S. XIf.
91Robert Cancel: ALLEGORICAL SPECULATION IN AN ORAL SOCIETY. THE TABWA NARRATIVE TRADITION, Berkeley/Los Angeles/London 1989, S. 67ff.
92Daniel Biebuyck/Kahombo C. Mateene (Hg.): THE MWINDO EPIC. FROM THE BANYANGA, Berkeley/Los Angeles 1971, S. 13f.
93Zit. in: Daniel P. Kunene: HEROIC POETRY OF THE BASOTHO, Oxford 1971, S. XII.
94Sory Camara: GENS DE LA PAROLE. ESSAI SUR LA CONDITION ET LE RÔLE DES GRIOTS DANS LA SOCIÉTÉ MALINKÉ, Paris 1976.
95Harold Scheub: „Introduction“, in: Nongenile Masithathu (Hg.): THE WORLD AND THE WORD. TALES AND OBSERVATIONS FROM THE XHOSA ORAL TRADITION, Madison, Wisconsin 1992.
96Kennedy C. Chinyowa: „Shona Storytelling & Performing Arts in Zimbabwe“, in: Martin Banham et al.: AFRICAN THEATRE IN SOUTHERN AFRICA, Oxford/Trenton/Cape Town 2004.
97Gordon Innes: „Introduction“, in: ders. (Hg.): SUNJATA. THREE MANDINKA VERSIONS, London 1974.
98Vgl. u. a. Lylian Kessteloot (Hg.): DA MONZOU DE SEGOU. EPOPÉE BAMBYRA, Bd. 1, Paris 1972 und Djibril Tamsir Niane: SOUNDJATA, Leipzig 1975.
99Donald J. Cosentino: DEFIANT MAIDS AND STUBBORN FARMERS. TRADITION AND INVENTION IN MENDE STORY PERFORMANCE, Cambridge 1982; Herskovits: DAHOMEAN NARRATIVE; Karin Barber: I COULD SPEAK UNTIL TOMORROW. ORIKI, WOMEN, AND THE PAST IN A YORUBA TOWN, Edinburgh 1991.
100J. P. Clark: THE OZIDI SAGA. COLLECTED AND TRANSLATED FROM THE IJO OF OKABOU OJOBOLO, Oxford/Ibadan 1977, S. 286f.
101Vgl. die Geschichten südafrikanischer oraler Dichtungen/Performances in: Leroy Vail/Landeg White: POWER AND THE PRAISE POEM. SOUTHERN AFRICAN VOICES IN HISTORY, Virginia 1991.
102Albert Lord: THE SINGER OF TALES, Cambridge, Mass. 1960, S. 4.
103Ebd., S. 14.
104Ebd., S. 28.
105Ebd., S. 34ff.
106Ebd., S. 94.
107Ebd., S. 100f. Ich folge hier Lords Deutung oraler Epik, wissend, dass es durchaus andere, auch in Afrika auftretende Typen mündlicher Dichtung gab/gibt. Ruth Finnegan hat das in ihrer ORAL POETRY 1977 hinlänglich dargelegt. Ruth Finnegan: ORAL POETRY. ITS NATURE, SIGNIFICANCE AND SOCIAL CONTEXT, Cambridge/London/ New York/Melbourne 1977; Paul Zumthor: INTRODUCTION À LA POÉSIE ORALE, Paris 1983.
108Julie Cruikshank: „The social life of texts: Editing on the page and in performance“, in: Laura J. Murray/Keren Rice (Hg.): TALKING ON THE PAGE: EDITING ABORIGINAL ORAL TEXTS, Toronto/Buffalo/London 1999. Vgl. auch Cruikshank: THE SOCIAL LIFE OF STORIES. NARRATIVE AND KNOWLEDGE IN THE YUKON TERRITORY, Vancouver 1998, S. 162: „In this book I have spoken of narrative as fluid, transformative, and intersubjective, and as situated in process and performance.“
109Zur Oralität siehe u. a. Jack Goody/Ian Watt: „Konsequenzen der Literalität“, in: dies./Kathleen Gough: ENTSTEHUNG UND FOLGEN DER SCHRIFTKULTUR, übers. aus dem Engl. von Friedhelm Herborth, Frankfurt/M. 1986. Zum Verhältnis grundlegend oraler und/oder schriftlicher Kommunikation und Denkweisen siehe u. a. Jan Vansina: ENGLISH ORAL TRADITION. A STUDY IN HISTORICAL METHODOLOGY, Harmondsworth 1973; A. R. Lurija: DIE HISTORISCHE BEDINGTHEIT INDIVIDUELLER ERKENNTNISPROZESSE, Berlin 1987; Goody: THE INTERFACE BETWEEN THE WRITTEN AND THE ORAL, Cambridge 1987; Aleida Assmann/Jan Assmann: „Einleitung“, in: Eric A. Havelock: SCHRIFTLICHKEIT. DAS GRIECHISCHE ALPHABET ALS KULTURELLE REVOLUTION, Weinheim 1990. Schriftlichkeit erscheint der Gegensatz, das Verfestigte, Un-Lebendige, Nicht-Dialogische zu sein. Plato, an einem Schnittpunkt der Ablösung dominant oraler Kulturen zur Manuskript-Kultur stehend, ließ seinen Sokrates im PHAIDROS-Dialog formulieren: „Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften. Du könntest glauben, sie sprächen als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht.“ Platon: „Phaidros“, in: ders: WERKE, Bd. I 1, übers. aus dem Altgriech. von Friedrich Schleiermacher, Berlin 1984, S. 115.
110Vgl. Fiebach: DIE TOTEN ALS DIE MACHT DER LEBENDEN, Teil I, Kap. 4: Theater der Mündlichen Dichtung; Barber: I COULD SPEAK UNTIL TOMORROW.
111Niane: SOUNDJATA, S 1.
112Henri Alexandre Junod: THE LIFE OF A SOUTH AFRICAN TRIBE, Bd. 2, London 1927, S. 185.
113Clark: THE OZIDI SAGA, S. 272f. Siehe auch Isidore Okpewho: THE EPIC IN AFRICA, New York 1979.