Übergänge
Anmerkungen zu einigen Bildern in Pina Bauschs Kontakthof
von Raimund Hoghe
Erschienen in: Recherchen 150: Wenn keiner singt, ist es still – Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019) (09/2019)
Assoziationen: Tanz Theaterkritiken Akteure Pina Bausch
Liebe, Zärtlichkeit, Kindheit, Angst, Trauer, Sehnsucht, Träume und der Wunsch, geliebt zu werden – Themen, die Pina Bausch in ihren Stücken immer wieder aufgreift. Stichworte zu einem nicht nur die Grenzen von Ballett, Schauspiel und Musiktheater überschreitenden Theater, das sich eindeutiger Erklärung entzieht, verschiedene Sichtweisen einer Sache ermöglicht. Lässt man sich auf die mehrdeutigen Bilder, Situationen, Szenen ein, findet man sich nach einiger Zeit auch in Widersprüchen wieder. Je häufiger man Pina Bauschs Stücke sieht, desto klarer und zugleich unerklärlicher werden sie einem.
Sommer 1981, ein Gastspiel. Kontakthof in Venedig. Zum ersten Mal sehe ich das 1978 entstandene Stück durch den Sucher eines Verfolger-Scheinwerfers. Einzelne Figuren wirken wie in einem Fadenkreuz. Der Lichtkegel hebt sie heraus, isoliert sie von den anderen. Zu sehen sind nur Ausschnitte – wie auch die Beschreibungsversuche der Arbeiten Pina Bauschs ausschnitthaft bleiben. Dem Wunsch, über Bilder, Geschichten, Situationen in diesen Stücken zu sprechen, steht immer wieder das Gefühl gegenüber, sie mit Worten nicht erreichen zu können, nur zu reduzieren und die auf der Bühne realisierte Parallelität verschiedener Realitäten ohnehin nur sehr begrenzt vermitteln zu können. Die Weite und Geschlossenheit des Kontakthof-Raumes etwa, die Schlager aus den dreißiger Jahren und die gar nicht fernen Gefühle, das lichte Gelb, Rosa, Türkis, Grün, Blau, Violett der Cocktailkleider, das pomadisierte, glatte Haar der Männer und die sperrigen Beziehungen, die unbeholfenen und oft verletzenden Bemühungen und Versuche von Zärtlichkeit in dem von Rolf Borzik entworfenen Raum, der groß ist und hell und hoch, zwei Türen hat und ein Fenster an der Seite, ein Klavier, eine von einem grauen Vorhang verdeckte Kinoleinwand und entlang der Wände zwei Dutzend Stühle, auf denen Frauen in glänzenden Cocktailkleidern und Männer in dunklen Anzügen sitzen. Eine Frau steht auf. Geht an die Rampe. Zeigt sich von vorn, von hinten, von der Seite. Zieht den Bauch ein. Zeigt ihre Zähne, Hände, Füße. Zeigt sich von hinten. Geht zurück. Vom Tonband ein alter Schlager: „Frühling und Sonnenschein, soll für mich deine Liebe sein.“ Drei Frauen kommen nach vorn. Zeigen sich wie die Frau vor ihnen. Ein Mann kommt. Zeigt sich. Die anderen Männer und Frauen folgen. Die ganze Gruppe zeigt Stirn, Zähne, Hände, Füße, Vorder-, Rück-, Seitenansicht. Der Verfolger ist auf eine der Frauen gerichtet. Sie steht im Scheinwerferkegel und lächelt. „Guten Abend, ich bin aus Paris.“ Geht zurück an ihren alten Platz, langsamer als die anderen. Dreht sich noch einmal um, sieht über die Schulter ins Publikum. Der Scheinwerfer wird weggezogen.
Die Gruppe formiert sich zu einer Reihe. Zwanzig Männer und Frauen stehen nebeneinander, hintereinander. Musik: Der Dritte Mann. Mit emotionslosem Gesicht, in der Taille einknickendem Körper kommen sie nach vorn. Bleiben an der Rampe stehen. Eine der Frauen ist im Scheinwerferkegel. Lacht. Schüttelt den Kopf mit dem langen Haar. Lacht immer angestrengter. Fällt wie ein Brett um. Einer summt das Lied vom Dritten Mann. Die Gruppe geht langsam zurück. Der Verfolger wird von der am Boden liegenden Frau genommen. Irgendwann steht sie auf und geht weg. Später kehrt sie zurück. Geht mit einem Stuhl an die Rampe. Steigt auf ihn. Sagt: „Ich stehe am Ende vom Klavier und drohe zu fallen. Aber bevor ich das mache, schreie ich, damit niemand es verpasst.“ Sie schreit. Alle kommen in den Raum. Setzen sich auf ihre Plätze. Die Frau steht im Scheinwerferlicht. Die anderen sehen zu. „Dann krieche ich unter das Klavier und gucke raus, vorwurfsvoll, und tue, als ob ich ganz allein sein will, aber eigentlich möchte ich, dass jemand hinkommt.“ Sie steht auf und greift zu einem dünnen Schal. „Dann nehme ich meinen Schal und versuche, mich zu erwürgen, in der Hoffnung, dass jemand kommen wird, bevor ich tot bin.“ Musik. Mit ausholendem Schritt kommen die Tänzer nach vorn. Der Verfolger ist ausgeschaltet. Hinten, in einer Ecke des Raumes, bereitet sich eine Frau auf ihren Auftritt vor. Wechselt die Kleider.
Ein Mann lässt sich schwere Eisengewichte auf die Brust fallen. Ein anderer schlägt den Klavierdeckel auf seine Finger. Eine Frau stellt vier Stühle auf, läuft um sie herum und stößt sie mit der Hüfte um. Eine im rosa Cocktailkleid rafft ihren Rock, springt die Wände hoch und wird mit Beifall belohnt – Vorführungen im Saal des Kontakthofs, in dem Pina Bausch einmal mehr auf eines der in ihren Arbeiten zentralen Themen zurückkommt: „Geliebtwerdenwollen – was wir alles tun, damit uns jemand gern hat.“ Die Kontakthof-Frauen, die sich in enge schmerzende Kleider und Schuhe zwängen; die Blaubart-Männer, die sich in Bodybuilding-Posen üben und vor den Frauen ihre Männlichkeit demonstrieren; die Arien-Figuren, die Kunststücke vorführen, Fertigkeiten und Dressuren – unternehmen sie diese Anstrengung, um geliebt zu werden, müssen es tun, damit man sie mag? „Was ist das, wenn man etwas tut? Zum Beispiel im Zirkus. Dass da oben jemand auf dem Trapez rumspaziert. Warum machen sie das? Damit die Leute unten Angst haben? Angst um sie?“, fragt Pina Bausch und verhehlt doch nicht, dass sie das bewundert: den Mut, die Konsequenz, die Beherrschung, „die man als Artist braucht. Da geht’s doch um mehr als bei uns. Wenn da mal was schiefgeht, verknacksen die sich doch nicht nur den Fuß.“ Sie würde gern mal ein Jahr zum Zirkus gehen, gestand sie einmal in einem Gespräch – „aber vielleicht denke ich da auch etwas hinein, was gar nicht ist.“
Ein weit auseinander sitzendes Paar. Ein Mann und eine Frau setzen sich an die beiden entgegengesetzten Seiten der Rampe. Lächeln zaghaft zum fernen Partner. Legen verschämt einzelne Kleidungsstücke ab. Werfen ihrem Gegenüber scheue Blicke zu. Ziehen sich vorsichtig voreinander aus und geben sich, wie man so sagt, Blößen. Kommen einander näher. Die äußere Distanz bleibt bestehen. Später werden sie sich wieder gegenüberstehen. Einander männliche und weibliche Klischeehaltungen, Positionen, Stellungen vorführen. Sich, wie es heißt, anmachen. Worte zurufen. Knee, shoulder, arm, foot, neck, stomach, back. Erst leise, dann immer lauter und heftiger – bis Knie, Schulter, Arme, Füße, Nacken wie unter Peitschenhieben zurückzucken. Nach dem Schlagabtausch finden sich die Männer und Frauen wieder zu Paaren zusammen. Suchen erneut Berührungen, Zärtlichkeit.
Die wie ein Mosaik zusammengesetzten Stücke der Regisseurin, Autorin, Choreografin Pina Bausch: nicht bestimmt von einer durchgehenden Handlung, sondern von Ausschnitten, Bruchstücken, Realitätspartikeln, die sich häufig überlagern, ineinander übergehen, verlieren und an anderer Stelle wieder auftauchen. Scheinbar Entgegengesetztes ergänzt sich: Komik und Trauer, Schlager aus den dreißiger Jahren und klassische Musik, laute und leise Momente, lichte und dunkle Bilder. Geschichten entwickeln, erweitern, verändern sich und werden oft zu etwas ganz anderem als ursprünglich gedacht wurde. „Ich habe das so gewollt“, sagt Pina Bausch einmal über die Entstehung einer Szene und korrigiert gleich: „Was heißt gewollt – das ist entstanden irgendwie.“ Ihre Stücke sind keine theoretisch entworfenen. Die Arbeit an ihnen ist ein Suchen und Umkreisen von etwas, das zwar bestimmt ist, aber unausgesprochen bleibt und mit größter Behutsamkeit behandelt wird. „Es gibt irgendwo einen Ausgangspunkt. Und wo das dann hingeht, das entwickelt sich in den Proben. Es ist nicht zufällig. Es ist aber auch nicht wie geplant. Es kommt einfach, durch uns alle zusammen. Mit der Zusammensetzung der Gruppe hat vieles zu tun, was wir erlebt haben oder was jemand probieren sollte.“ Der Ausgangspunkt verändert sich während der Proben, wächst, zieht Kreise, weitet sich aus, wird frag-würdig – wie der Ausgangspunkt Zärtlichkeit in Kontakthof. „Zärtlichkeit. Was ist das? Was macht man da? Wo geht das hin? Und wie weit geht Zärtlichkeit überhaupt? Wann ist es keine mehr? Oder ist es dann immer noch eine?“
Kontakthof-Übungen: Versuche in Zärtlichkeit, Suche nach Zärtlichkeit. Eine alte Platte. „Zieh mich an dich, wir wollen Tango tanzen“. Charmant lächelnde Paare stehen sich gegenüber und berühren einander. Ein Mann nimmt die Hand einer Frau und biegt ihre Finger nach hinten. Eine Frau nähert sich einem Mann und beißt ihn ins Ohr. Mann/Frau zwickt den Partner unter den Armen, zieht ihm den Stuhl weg und geht Arm in Arm mit ihm ab. Später werden die Berührungen fortgesetzt. Zärtliche Gesten werden zu Schlägen. Die Übergänge sind fließend. Erst nach der Grenzüberschreitung stellt man verwundert fest, dass aus den Gesten der Annährung etwas anderes geworden ist.
In dem unsicheren Gelände, in dem sich die Menschen in Pina Bauschs Stücken bewegen, suchen sie nicht selten mit sogenannten objektiven Mitteln Sicherheit zu gewinnen. Da werden dann Einrichtungsgegenstände registriert und sorgfältig in ein Buch eingetragen, Entfernungen, Abstände zwischen den Paaren gemessen, als gäbe das Aufschluss über die Nähe zwischen Menschen; oder: „Blonde Claire, schenk’ mir heut’ die Ehre“. Eine Frau geht mit wiegenden Hüften über die Bühne. Ein Mann im grauen Anzug folgt ihr mit Stuhl und Notenpult. Versucht, sie zu berühren. Guckt immer wieder auf die losen Blätter, die vom Notenständer fallen – als sei dort zu erfahren, wie man einander berühren könnte. Ohne Erfolg. Das Objekt seiner Sehnsucht entweicht ihm.
Sich zugeben. Mit Verletzungen und Verletzbarkeit, Stärken, Schwächen, Widersprüchen und Komplexen, Wünschen und Ängsten, seinen Träumen und seiner Realität. In einer Kontakthof-Szene lässt Pina Bausch ihre Tänzer/Schauspieler/Co-Autoren zu gängiger Zirkusmusik einzeln die Bühne überqueren. Verfolgt von einem Scheinwerfer bleiben sie in der Mitte stehen. Verdecken, verziehen, verändern, was ihnen nicht gefällt am eigenen Körper. Eine zu große Nase. Eine zu hohe oder zu niedrige Stirn. Flache Schultern. Dicke Backen. Zu große Füße. Zu kleine Augen. Doch so persönlich die Vorführung der eigenen Komplexe auch ist: Die Form, in der Pina Bausch sie auf die Bühne bringt, führt über das bloß Persönliche und Private hinaus, verhindert platte Selbstdarstellung und Selbstentblößung. „Es kommt nicht darauf an, dass jemand nur seine Gefühle auskotzt“, sagt Pina Bausch einmal in einem Gespräch, und: „Die Form ist schon etwas sehr Wichtiges für mich.“
Pina Bauschs Stücke zeigen Ausschnitte, die sich auf vorhandene Realität beziehen und Teile daraus beleuchten, vergrößern, erkennen lassen. Etwas von diesem Prinzip spiegelt sich auch in einer Kontakthof-Szene. Die Männer und Frauen bilden an der Rampe eine geschlossene Reihe. Sitzen frontal zum Zuschauerraum. Parallel zueinander sprechen sie über die Liebe. Jeder in seiner eigenen Sprache. Englisch, deutsch, holländisch, spanisch, französisch, polnisch, italienisch, dänisch, tschechisch. Ein Mann mit Mikrofon geht zu ihnen und blendet sich ein in ihre (Selbst-)Gespräche, in triviale Liebes- und Lebensgeschichten, die auch dann noch weitergehen, wenn er sich längst wieder ausgeblendet hat und die einzeln herausgegriffenen Tänzer nicht mehr vom Scheinwerfer angestrahlt sind. Pina Bausch: „Ein Stück wie Kontakthof könnte man die ganze Nacht durchspielen.“
Am Ende wird noch einmal eine Frau berührt. Sie steht im Scheinwerferlicht da wie eine Puppe. Männer kommen zu ihr und bedecken ihren Körper mit Berührungen. „Frühling und Sonnenschein, soll für dich meine Liebe sein“. Hände streichen über Haare, Auge, Stirn, Mund, Nase, Ohren, Hals, Arme, Beine, Brust, Bauch, Rücken – bis die Frau zusammensinkt unter dem, was man(n) unter Zärtlichkeit versteht und eine neue Musik einsetzt: „Du bist nicht die Erste, Du musst schon verzeih’n“. Von der Seite kommt eine Frau im engen Cocktailkleid. Der Verfolger wird von der anderen weggezogen und auf sie gerichtet. Die Männer drehen sich um und gehen ihr nach. Ein Kreis entsteht, in den sich nach und nach auch die anderen Frauen einfügen – ein Kreis, in dem kleine Gesten einmal mehr aufmerksam machen auf den großen Wunsch, geliebt zu werden.