Theater der Zeit

Themen – Digitalkultur

The Art of Realtime

von David OReilly

Erschienen in: CHANGES – Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit (10/2021)

Assoziationen: Dossier: Digitales Theater

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Als ich von der Animation ausgehend angefangen habe, Videospiele zu entwickeln, ist mir bewusst geworden, dass dieses neue Medium nach völlig anderen Regeln funktioniert. In Videospielen geht es um Echtzeit-Interaktion, um interaktive Simulationen oder wie auch immer Sie es nennen möchten. Das ist ein grundsätzlich anderes Paradigma.

In der Kunstwelt ist das noch nicht angekommen, aber das Videospiel ist wirklich die faszinierendste der gegenwärtigen Kunstformen. Die Grundlage dieser Kunstform sind Systeme, ist Mathematik. Der übliche Anwendungsbereich der Softwares, mit denen man Spiele macht, ist, Systeme zu nutzen, die Objekte beschreiben, und ich habe begonnen, das umzudrehen und mich für das Beschreiben der Systeme der Natur durch ihre Objekte zu interessieren.

Die Systeme der Natur sind immer da, aber sie sind für uns üblicherweise unsichtbar, weil sie uns so nah sind. Wir organisieren die Welt durch Sprache. Das ist ein Prozess, in dem wir vor allem Dinge voneinander unterscheiden, in dem wir die Realität in kleine Scheiben schneiden. Je schlauer Sie sind, je mehr verschiedene Worte Sie gebrauchen, desto weniger sehen Sie von den Übereinstimmungen unterhalb des sichtbaren Lebens, von den Verbindungen unterhalb der Dinge.

Wenn ich einen Baum nur darstellen möchte, kann ich ihn einfach malen. Wenn ich ihn aber im Sinne eines Systems beschreiben möchte, würde ich anfangs die Form des Baums gestalten, aber ich wäre darüber hinaus in der Lage, eine Umgebung zu erschaffen, in der der Baum wächst und sich entwickelt und immer komplexer wird und Blätter bekommt und sich verändert und abstirbt und dann, weil er beleuchtet wird, würde ich auch die Sonne beschreiben, und auch die Sonne ist nicht statisch, sie ist in Bewegung, also beschreibe ich auch das System der Bewegungen der Sonne, und in diesem System ist auch wieder mein Baum Teil der Natur. Und all die anderen Organismen um ihn herum ermöglichen erst, dass dieser Baum genau an diesem Ort seinen Platz hat – er könnte gar nicht anderswo stehen.

Dabei werden Pattern sichtbar, die in ihrer Grundstruktur die immer gleichen bleiben, auch wenn sie sich wandeln und Objekte durch sie hindurchziehen und sie wieder verlassen. In Videospielen kann man jederzeit mit dem Fokus zwischen dem Pattern und dem Objekt wechseln. Sie sind für mich ein Weg, die Systeme und Pattern unter den Dingen, die mich so interessieren, zu beschreiben. Zu beschreiben, wie die Dinge wachsen und sich miteinander arrangieren, wie sie miteinander in Konkurrenz treten und in welchen visuellen und sonstigen Relationen sie zueinander stehen.

Die meisten Spiele sind um einen Konflikt herum gebaut, ebenso verhält es sich beim Kino oder in Dramen. Sichtbar wird der Konflikt in Gegensätzen. Immer geht es darum, diese Gegensätze in eine Balance zu bringen, sie aufzulösen. Wir können darauf allerdings auch mit einer Idee von Symmetrie schauen, und das deckt eine Menge auf. Konflikte gibt es in gewisser Weise auch dadurch, dass wir es in Videospielen mit Interaktivität zu tun haben. Sie ermöglichen uns, die sehr komplexen Algorithmen unterhalb des Lebens zu beschreiben. Was ich mache, ist nichts weiter, als den Systemen der Natur in sehr einfachen digitalen Repräsentationen eine Form zu geben.

David OReilly arbeitet als Künstler in den Bereichen Design, Animation und Videospiele. Der Beitrag „The Art of Realtime“ basiert auf einem Gespräch zwischen David OReilly und der Journalistin Birgit Rieger, das am 26. September 2018 im Rahmen von „The New Infinity“ geführt worden ist.

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