Auftritt
Friedrichstadt-Palast Berlin: 15-Millionen-Euro-Alptraum
„BLINDED by DELIGHT“ von Oliver Hoppmann und Berndt Schmidt – Text und Regie Oliver Hoppmann, Kostüme Jeremy Scott, Stage Design Florian Wieder , Cuno von Hahn, Licht und SFX Design Chris Moylan, Video Design Frank Rosenthal, Komposition Jasmin Shakeri, Philipp Klemz, Joe Walter, Björn Steiner, Daniel Behrens, Simon Klose, Tom Hengelbrock, Yanek Stärk, Karo Schrader, Musikalische Leitung Daniel Behrens, Tobias Leppert, Sebastian Brand, Choreografie Christine Wunderlich, Jowha van de Laak, Christin Olesen, Alexandra Georgieva, Shahar Binyamini, Malou Linders, Mario Schröder, Maik Damboldt, Craig Davidson
von Lina Wölfel
Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Oliver Hoppmann Friedrichstadt-Palast

Ja, die Welt ist gerade ziemlich – sagen wir es doch ehrlich – scheiße. Kein Tag vergeht ohne neue Nachrichten von Krieg, Zerstörung, Femiziden, Mord, rassistischen Anfeindungen und korrupten Machthaber:innen. Was wäre also, wenn wir all dem für zwei Stunden entkommen könnten? Für zwei Stunden glücklich sein, für zwei Stunden verzaubert werden, staunen und ja, vielleicht sogar träumen?
Genau das verspricht die größte Theaterbühne der Welt jetzt mit ihrer neuen „Grand Show“. Damit diese Botschaft auch ja keine:r der 1899 Besucher:innen pro Abend verpasst, heißt einen nicht nur direkt am Eingang des Friedrichstadt-Palastes in Berlin ein goldener Glitzervorhang mit „May your dreams come true“-Inschrift willkommen, sondern auch Palast-Chef Berndt Schmidt mit seiner Intro-Ansprache, wir sollen uns nicht durch das ewige Schlechtreden von allem runterziehen lassen. Also rein in die – nein unsere – „blendende Auszeit in der Welt der Träume“.
Folgerichtig startet die Protagonistin Luci (Denise Lucia Aquino), stellvertretend für uns als Zuschauer:innen, mit einem diffusen Gefühl des Weltschmerzes in den Abend: Gefangen im physisch auf der Bühne präsenten Hamsterrad des Alltags, kämpft sie gegen das verfinsterte Lebensgefühl an. Um sie herum, durch die Fläche von quadratischen Lichtkegeln gebremst, rennen, stolpern und quälen sich die Tänzer:innen des Friedrichstadt-Palast-Balletts als assimilierte Masse. Der Bass dröhnt, die Situation scheint ausweglos, bis Lucies „Traum“ (Julian David) sie findet. Gemeinsam mit vier Glückshormonen (Myrthes Monteiro, Markus Fetter, Floor Krijnen, Marc Chardon) entführt er sie in eine längst verloren geglaubte Welt der unendlichen Möglichkeiten, die jedoch selbst keineswegs ohne Abgründe daherkommt. Soweit die mehr als dünne narrative Rahmung, die in den folgenden zweieinhalb Stunden als generische Projektionsfläche für all das dienen soll, was uns gerade eben abhanden scheint.
Dafür, dass der Zauber wirkt, sorgen vier Millionen Swarovski-Kristalle und 576 von Jeremy Scott entworfene Kostüme. Mal sind die Tänzer:innen bunte Fantasiefiguren, deren Outfits an abstrakte Glasmalerei erinnern, mal die personifizierte Cocktailkarte der Happy Hour, dann wieder quietschpinke Flamingos, Pusteblumen oder schwarze Alptraumfiguren in Leder-Fransen. Der Friedrichstadt-Palast ist bekannt für seine opulenten Abende, die zwischen Showballett, Musical, Nummernrevue und Cirque-du-Soleil-Akrobatik hin und herwechseln, immer noch eine Schippe drauflegen, immer noch ein Theatereffekt abfeuern. Da gibt es nichts, was man mit einer Theaterbühne anstellen kann, das ausgelassen wird: eine Tanzeinlage im Wasserbassin? Na klar. Stanniolsterne auf den Zuschauerraum regnen lassen? Kein Problem! Tanzende Kronleuchter, die über unsere Köpfe fliegen? Ein leichtes. BMX-Akrobaten und Turner, die so hoch fliegen, dass man den Atem anhält? Hier sind sie! In solchen Momenten liegt auch die Magie des Abends, zum Beispiel, wenn die ukrainische Handstandakrobatin (Viktoriia Dziuba) mit ihren Verbiegungen jede Grenze des physisch möglichen zu sprengen scheint. Oder wenn Lucie, gefangen in einem Alptraum – weil ja, diese Träume gibt es auch –, zwischen zerklüfteten schwarzen Gestalten umherirrt, die sie langsam zu verzehren scheinen, bis aus dem Zuschauerraum etwa zwanzig Tänzer:innen in hautfarbenen Bodysuits auf die Bühne kommen und mit ihren lichten, puristischen und fließenden Bewegungen das Dunkel vertreiben. Nummern wie diese schaffen eine Projektionsfläche, die subtil vom Geschehen unserer Zeit erzählt. Leise, durch performative und ästhetisch erfahrbare Sujets, die in jedem und jeder einzelnen individuell resonieren und Bedeutung entfalten konnten.
Was sich an diesem Abend aber vor allem erzählt ist, welche Auswirkungen die Kulturkürzungen des Berliner Senats selbst für Institutionen wie den Friedrichstadt-Palast haben. Mit 1,85 Millionen Euro weniger muss das Haus auskommen. Und deshalb bleibt die Bühne in „BLINDED by DELIGHT“ oft erstaunlich leer. Geblendet wird man da nur von der XXL-LED-Wand, die Animationen und psychedelische Bilder in so schlechter Qualität projiziert, dass sie an die „peppigen“ Designs von Aldi-Collegeblöcken erinnern und eigentlich nur von einer KI erstellt sein können. Das hätte man ja alles als durchaus kritischen Kommentar auf die Zeit lesen können à la: „Ihr kürzt uns die Gelder, gut, dann bleibt die Bühne halt manchmal leer, seid ihr jetzt happy?“, hätten sie diese Leere nicht mit – es lässt sich nicht anders sagen – grauenhaften Gesangseinlagen zwischen Lucie und ihrem Traum oder Gruppennummern mit den Glückshormonen gefüllt. Da übertrifft ein schlechter Reim („im Meer der Galaxy / du und ich eine Sinfonie / Millionen Träume unsere Harmonie “) den nächsten. Hinzu kommen allerlei Achtsamkeits- und Selbsthilfe-Weisheit wie „Du darfst nicht so hart zu dir sein“, oder „Heile dein inneres Kind“, bis es fast grotesk wird: „Hör nicht drauf, was andere sagen / das kommt nur von denen, die unser Glück nicht haben“. Auch, wenn der Wunsch danach, der Tristesse der aktuellen Weltlage für einen Moment entkommen zu können, durchaus nachvollziehbar ist, der Weg, der im Friedrichstadt-Palast für dieses Dilemma gewählt wird, ist ein egoistischer. Geblendet vor Freude sein bedeutet hier, sich nicht um andere zu kümmern, sondern vor allem um sich selbst. Dem, was die Stadt- und Staatstheater mit ihren „Great Gatsby“ Inszenierungen seit einem Jahr versuchen, setzt „BLINDED by DELIGHT“ also noch eine Schippe drauf: die totale gesellschaftliche Verblendung.
Zum Glück hat sich ein kluger Dramaturg dazu entschieden, die berühmte Kickline, die Signatur jeder Grand Show des Palastes, relativ ans Ende zu setzen. Aus dem Hintergrund werden die 32 Tänzerinnen in perfekter Linie und geradezu strahlenden Glitzerkostümen langsam wie ein Traumbild nach vorne gefahren. Und weil wir uns eben in einer entrückten Zeit befinden, geraten die Beine – wenn auch nur scheinbar – kurz durcheinander, bevor sie wieder in perfekter Symmetrie rechts, links, rechts in die Höhe geworfen werden. Derart ästhetische Übersetzungsleistungen vermisst man sonst schmerzlich. „Du bist eine wunderschöne Lüge, die zum wunderbaren Leben wurde“, heißt es am Ende. Adorno hatte recht: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Und so kann man nur hoffen, dass die Zuschauer:innen aus ihrem 15-Millionen-Euro-Traum wieder aufwachen und in der Realität ankommen.
Erschienen am 13.10.2025