Editorial
Editorial
von Annika Gloystein und Mascha Erbelding
Erschienen in: double 49: Das Ding mit dem Körper – Zeitgenössischer Zirkus und Figurentheater (04/2024)
In seiner Besprechung von Ramon Gómez de la Sernas Buch „Der Zirkus“ von 1927 stellt Walter Benjamin die These auf, dass „im Zirkus der Mensch ein Gast des Tierreichs“ sei. „Die Tiere stehen doch nur scheinbar unter der Botmäßigkeit des Dompteurs, die Kunststücke, die sie machen, sind ihre Art den jüngeren Bruder zu unterhalten und zu zerstreuen, da sie ja Besseres mit ihm nicht anfangen können. Die Zirkusleute haben von ihnen gelernt.“
An Benjamin anschließend, könnte man behaupten, der zeitgenössische Zirkus sei im Reich der Dinge zu Gast und die Artist*innen hätten von ihnen gelernt. Denn wie im „Theater der Dinge“ werden hier Dinge und Materialien zu echten Gegenspielern, Materialien erforscht, die Hierarchie zwischen Objekt und Subjekt wird in Frage gestellt. Das Publikum (dem Benjamin nichts destotrotz eine gewisse Tumbheit unterstellt) dankt auch heute mit großer Konzentration, genießt die Erfahrung purer Körperlichkeit und die Authentizität des Umgangs mit den Objekten, so wie Benjamin beobachtet hat: „Das hängt damit zusammen, daß im Zirkus die Wirklichkeit das Wort hat, nicht der Schein. Es ist immer noch eher denkbar, daß während Hamlet den Polonius totsticht, ein Herr im Publikum den Nachbar um das Programm bittet als während der Akrobat von der Kuppel den doppelten Salto mortale macht.“
Unsere Autor*innen beleuchten „Das Ding mit dem Körper“ aus unterschiedlichen Perspektiven. Mirjam Hildbrand denkt über (nicht nur historische) Verbindungen zwischen Figurentheater und Zirkus nach. Sie stellt die französische Künstlerin Phia Ménard vor, die Jonglage als Objektmanipulation begreift und sich in ihren Arbeiten mit der Beziehung von belebten wie auch unbelebten Materialien beschäftigt. Bei Saskia Bellmann steht der Bühnenraum im Fokus: Das Bühnenbild wird nicht nur zum aktiven Spielpartner, sondern erhält auch eine ganz eigene dramatische Spannung, die es zur erzählerischen Bedingung der Inszenierung macht. Stefan Sing, der mit seinem Material – kleinen, weißen Bällen – das Cover des Heftes ziert, macht sich Gedanken zum Objekt in der Jonglage. In dieser Disziplin ist der experimentelle Umgang mit Dingen im zeitgenössischen Zirkus besonders verbreitet, daher betreffen viele Statements der Künstler*innen im Anschluss – Johanna Ehlert, Kolja Huneck, Jolanda Löllmann, Chiara Marchese, Darragh McLoughlin, Jenny Patschovsky & Benjamin Richter, Matthias Romir, Andrea Salustri und Claudio Stellato – die Jonglage. Um das Verbinden der Genres geht es in den Gesprächen mit Beteiligten der Schweizerischen Accademia Dimitri, wo im Masterstudiengang ein Fokus auf Teatro di Figura gelegt wird, sowie mit der Gruppe 305, die in ihren Arbeiten Trapez-Artistik und Puppenspiel vereint.
Im Anschluss an den Thementeil folgen Festivalberichte vom Theater der Dinge in Berlin und Panoptikum in Nürnberg. Anstelle der geplanten Besprechung vom Jerusalemer Puppentheaterfestival haben wir aus aktuellem Anlass Shahar Marom um ein Interview über das Leben und Arbeiten in Kriegszeiten gebeten. Bei den besprochenen Inszenierungen wird das Thema des Heftes noch einmal aufgegriffen: Artistik und Figurenspiel verbinden sich in der von Katja Kollmann in Berlin gesehenen Inszenierung „aerocircus“ vom RambaZamba Theater & Tomás Saraceno sowie in Johannes Böhringers „The Paper People Paradox“, erlebt von Jörg Baesecke in München. Einige Jubiläen werden in diesem Heft gewürdigt: Das Buch „Puppe50“ zu fünf Jahrzehnten Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin hat Karla Mäder gelesen, Albrecht Fritzsche beleuchtet die 20-jährige Bühnenpräsenz von Meinhardt & Krauss mit ihrer aktuellen Inszenierung „Replik.A“, im Schweizer Fenster blickt Franziska Burger auf die runden Geburtstage des Basler Marionetten Theaters und des Figurentheaters am Luzerner Theater. Und double bittet für die 50. Ausgabe um Leser*innenbriefe.
Eine anregende Lektüre wünschen
Mascha Erbelding und Annika Gloystein
In his review of Ramon Gómez de la Serna's 1927 book “The Circus", Walter Benjamin posits that “in the circus, man is a guest of the animal kingdom". “The circus people have learnt from them." Following Benjamin, one could claim that the contemporary circus is a guest in the realm of things and that the performers have learnt from them. As in the “theatre of things", things and materials become real counterparts here, materials are explored and the hierarchy between object and subject is called into question. Our authors shed light on “The thing with the body" from different perspectives: (not only historical) connections between puppet theatre and circus, the stage set as an active performance partner, training at the Swiss Accademia Dimitri, a conversation with the Raum 305 group – and thoughts on the object in juggling. The experimental use of objects in contemporary circus is particularly widespread in this discipline, which is why many of the artists' statements relate to juggling.