Protagonist:innen
Der Veränderer
Der Regisseur Ravi Jain setzt auf Teamwork und Diversität
von Intisar Awisse
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Kanada (09/2021)
Assoziationen: Akteure Nordamerika
Ravi Jains Aufstieg im kanadischen Theater ist nicht etwa die Geschichte eines Underdogs, der sich gegen übermächtige Widerstände durchsetzt. Das wäre eine allzu vereinfachende Interpretation, denn schließlich ist das, was man sich zunächst als „kanadisches Theater“ vorstellt, eine Gruppe weitgehend fragmentierter, regionalisierter Kompanien und Institutionen, verstreut über ein gewaltiges Land. Als Jain nach Jahren seiner Theaterausbildung im Ausland und der Zusammenarbeit mit internationalen Künstler:innen und Institutionen wieder nach Kanada zurückkehrte, stieß er zunächst auf Ablehnung. Künstlerische Leiter:innen „wussten einfach nicht, was sie mit jemandem anfangen sollten, der aussah wie ich“, erinnert er sich. Anstatt sich davon abschrecken zu lassen, gründete er 2007 seine eigene Kompanie, das Why Not Theatre, um zu hinterfragen, welche Geschichten auf der Bühne erzählt werden, und von wem. Inspiriert von der Arbeit des kenianischen Schriftstellers Ngūgī wa Thiong’o ging es ihm darum, „alternative Perspektiven auf die Existenz“ zu präsentieren.
Schnell wurde deutlich, dass seine Erfahrungen mit außergewöhnlichen Künstler:innen im Ausland ihm nicht nur Ehrgeiz und Selbstvertrauen, sondern auch ein Gespür für die große Form gebracht hatten. Jains Produktionen variieren sowohl in ihrer Ästhetik als auch in ihrer Dimension. Von dem entwaffnend einfachen „A Brimful of Asha“ (2012), in dem er selbst und seine Mutter (die keine professionelle Schauspielerin ist) in einem minimalistischen, ihre Wohnung andeutenden Setting auftreten, bis hin zu seinem aktuellen Projekt, einer großformatigen Neuinterpretation des alten indischen Epos „Mahabharata“, mit zwölf Dasteller:innen, aufwendigem Licht, Sound und Bühnenbild und sogar Opernelementen.
Vermutlich liegt es an seiner jahrelangen Beschäftigung mit Ensemblearbeit, dass Jain im Probenprozess besonders auf Teamwork setzt. Hier wird sein politisches Denken, seine alternative Sicht auf die Theaterwelt am deutlichsten, sowohl in der Diversität der Besetzung als auch in dem Raum, den er seinen Mitstreiter:innen, den Darsteller:innen als und dem künstlerischen Team, einräumt.
Seine erste große Produktion, „Prince Hamlet“ (2007), war der Versuch der Neubetrachtung eines Klassikers, und trotz der positiven Kritiken wusste Jain, dass er das Stück noch nicht komplett im Griff hatte. Dieses Gefühl trieb ihn beinahe zehn Jahre später dazu, „Prince Hamlet“ komplett zu überarbeiten, diesmal als spielerisch mit Geschlechterrollen umgehende, zweisprachige Produktion auf Englisch und in amerikanischer Gebärdensprache. Um tatsächlich eine Produktion zu entwickeln, die nicht nur die Sprache gehörloser Menschen präsentierte, sondern auch deren Kultur, mussten erst neue Formen der Zusammenarbeit entwickelt werden. Als Dramatikerin und Dramaturgin am Anfang meiner Karriere faszinieren mich an Jains Arbeit vor allem ihr Humor und die Spielfreude hinter dem politischen Impetus. Seine Arbeit nimmt sich nicht unnötig ernst, und Jain versteht, dass Theater, sogar politisches Theater, Spaß machen kann. Er hält sich an die einfache Prämisse, dass Humor in allen Kulturen eine zentrale Rolle spielt und ein machtvolles Werkzeug zu gegenseitigem Verständnis sein kann. Trotz seines nationalen und internationalen Erfolges hat Ravi Jain immer noch das Gefühl, an der Peripherie zu arbeiten. Ob zu Recht, mag dahingestellt sein, auf jeden Fall macht es ihn kühner und spornt ihn an, ständig neu zu definieren, was im kanadischen Theater möglich ist. //