Theater der Zeit

Auftritt

Leipzig: Die Kleinsche Flasche

Schauspiel: „LUNA LUNA“ von Maren Kames (UA). Regie Enrico Lübbe. Musikalische Leitung Daniel Barke, Bühne Katrin Nottrodt, Kostüme Josa Marx

von Nathalie Eckstein

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Schauspiel Leipzig

Der Mond gerät aus seiner Umlaufbahn: „LUNA LUNA“ von Maren Kames in der Regie von Enrico Lübbe am Schauspiel LeipzigFoto: Rolf Arnold

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Die Kleinsche Flasche, vom Mathematiker Felix Klein beschrieben, bezeichnet eine topologisch nicht orientierbare Fläche: Sie hat kein Innen und Außen.

Wir sind in dieser Inszenierung im Weltall, im Kosmos. Dass es ein Kosmos der Sprache ist, wird schon nach dem ersten Satz klar: Er endet mit „1 scheiße und eiskaltz“. Dann beginnt die Musik. Eine junge Frau in einem Overall mit lilafarbener Perücke mit Zöpfen spielt, dem Publikum abgewandt, auf einem Harmonium Annie Lennox‘ „No more ‚I love you’s‘“: „Do-be-do-be-do-do-do.“ Dann kommt der Chor dazu. In weißglitzernden Eighties-Kostümen mit buntem Besatz. Es werden Reisen mit Raketen unternommen heute Abend, es wird ein Komet herabstürzen, der Mond wird aus seiner Umlaufbahn geraten.

Das emanzipatorische Potenzial, das Friederike Mayröcker aus dem vor dreißig Jahren erschienenen Gedicht „bin jetzt mehr in Canaillen Stimmung“ mittels des PIANO PONYS (siehe das pinkfarbene Harmonium der Inszenierung) und der Konstruktion der bekannten Dichotomie von Innen- und Außenräumen und mittels Kometenkollisionen lyrisch zu erzählen gelingt, steckt auch in dem hier uraufgeführten Langgedicht von Maren Kames. Kames, die Shivan Ben Yishai ins Deutsche übersetzt, wird hier erstmals Theaterautorin. Der musikalische Text, 2019 als Lyrik sehr erfolgreich verlegt, bietet eine Pop-Ästhetik und bewegt sich über Songs, Anleihen und in Sprachspiele fortgesetzte idiosynkratische Übersetzungen von Liedzeilen fort. In der Inszenierung von Enrico Lübbe wird er vor allem nach vorn skandiert und verliert, auch aufgrund vieler Effekte, das ihm inhärente poetische Potenzial. Anstatt den komplexen Text wirken zu lassen (man denke an die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden), wirkt es, als begreife die Inszenierung ihr eigenes Objekt nicht.

Der Plot, sofern man davon hier sprechen kann, ist der Versuch einer Emanzipationsbewegung einer jungen Frau, über weite Teile erzählt in Monologen (Lisa-Katrina Mayer). Es ist die Emanzipation von der Mutter (Christoph Müller), von einem Scheitan (Michael Pempelforth), aber auch von einer offenbar toxischen Beziehung. Dabei kreist der Text wie auf einer elliptischen Mondumlaufbahn immer um Themen wie Selbstbestimmung, Vergänglichkeit und Erinnerung.

Um zur Flasche des Mathematikers Klein zurückzukommen: Was im Text zwischen Innen und Außen oszilliert und offenlässt, nach welchem lyrischen Prinzip sich der Text sprachlich und musikalisch fortbewegt und welche ordnende Gravitation dahintersteht, die die Auswahl über das verwendete Material trifft, wird hier mit Glitzer und Nebel in Theatereffekten versenkt. Ein Annähern und Anlehnen, ein Sichbefreien und ein Vermissen wird hier, beispielsweise in der Figur des Scheitans, durch eine patriarchale Körperlichkeit auf einen Effekt reduziert. Was an anderer Stelle ein Moment des weiblichen Wutausdrucks in einer unterdrückenden Gesellschaft hätte sein können, verkümmert zum Lacher. Der Rest ist Nebel und Strobolicht. Zu sich selbst kommt der Abend, wenn es um die Inszenierung von Größenverhältnissen geht, wenn die Kleinsche Flasche selbst inszeniert wird und die Zeit (Tilo Krügel), die Mutter und der Scheitan im Bühnenmodell eine Miniaturvariante weiterspielen, die dann, auf Gaze projiziert, die Umkehrung des Innen und Außen ins Bild setzt. Die namenlose Ich-Erzählerin sieht zu.

Die Emanzipationsbewegung bei Maren Kames ist Pop. Mit Musik von David Bowie und Bon Iver trägt der Text über zwei Stunden. Der Chor ist musikalisch durchaus versiert, seine Funktion bleibt unterkomplex. Der Text selbst bedient sich fremder Texte und schafft dadurch etwas genuin Neues. Im Gedicht ist der Pop feministisch gewendet, Pink wird die Farbe der Befreiung. Hier aber verkommt er zur gefälligen Pose, zur heiteren Floskel bekannter Songs. Pop ohne Affirmation, ohne Gefälligkeit kann nicht gelingen. Aber in der Affirmation muss die Ironie schillern, der doppelte Boden der Poesie, das Sprachspiel. „Atemlos durch die Nacht“ ­feministisch umzudeuten, bleibt Florentina Holzinger vorbehalten. //

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